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Wolfgang Cernoch
Ich will in diesem Zusammenhang auf die Fruchtbarkeit dieser Perspektive für
Migrationspolitik nicht näher eingehen. Zur Erörterung der Entstehung von
Parallelgesellschaften durch Migration gehörte auch eine konstruktive
Diskussion von Parallelgesellschaften und ihren positiv-schützenden und
negativ-retardierenden Konsequenzen. Vielmehr sollen die Begriffe von
Parallelgesellschaft, Integration und Assimilation im Rahmen bestehender
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Das Konzept des »kollektiven Subjekts« Villoros berührt die Fragen der
Integration, ohne sofort Integration mittels Konzepte der Assimilation
operationalisieren zu müssen. An Stelle einer Leitkultur, in die sich
Parallelgesellschaften assimilieren müssen, tritt das romantisch gewordene
weltbürgerliche Individuum der Aufklärung auf, assimiliert sich teilweise in
einigen kulturellen Parallelgesellschaften, integriert sich in anderen, und wird
so zum Träger einer neuen Leitkultur, die Integration möglich macht, ohne
vollständig eine konkrete, traditionelle Leitkultur assimilieren zu müssen.
Assimilation betrifft nun die Aneignung von einem Set von Grundwerten.
Integration sollte in einer kulturell komplexen Gesellschaft hingegen von
»Eckwerten« ausgehen, die man auch als relevante, aber spezifische Auswahl
aus dem Set der »Grundwerte« einer konkreten, historisch gewordenen
Leitkultur und deren Leitbilder ansehen kann. Das Ergebnis kann als fraktale
Leitkultur angesehen werden, die nie ohne regionale, traditionell entstandene
Kultur auskommen kann, auch wenn diese fraktale Leitkultur eine neue
Errungenschaft ist.
Dieser Entwurf von Villoro wird sich ohne historisch gewordene bürgerliche
Leitkultur nicht umsetzen lassen, zumindest können Staaten mit Immigration
auf die zusammenhängende Vorstellung einer in der Geschichte erworbenen,
also insofern ihrerseits traditionellen Leitkultur auch dann nicht verzichten,
wenn der kulturelle Pluralismus auf Grund historischer Erfahrung etwa mit
der Internationalität von Wirtschaft, Kunst und Wissenschaft bereits zu einem
Leitbildinhalt der Leitkultur geworden ist. M. a. W., hat z. B. der europäische
Nationalstaat sowohl Geschichte und somit auch traditionelle Leitbilder, aber
spätestens ab dem Ende des Zweiten Weltkriegs hat sich die Vorstellung des
demokratisch legitimierten Rechtstaates durchgesetzt, und mit der
Entwicklung der Wirtschaft und des Tourismus eine vorsichtige Öffnung zum
kulturellen Pluralismus zumindest in der Konsumation hergestellt.
sind. Darüber hinaus wird damit auch die Frage nach einer internationalen
fraktalen Leitkultur aufgeworfen, welche einen systematischen Aufbau des
interkulturellen Austausches auf verschiedenen Ebenen verbindlich, also
geregelt machen kann. Abgewandelt kann die Idee einer europäischen
Leitkultur in der EU nur integrative Wirkung besitzen, eventuelle
assimilierende Auswirkungen zwischen den Nationalstaaten könnten
einstweilen nur in bestimmten Bereichen mit Hilfe der Einsicht in die
Verschiedenheit in der Ähnlichkeit mit anderen großregionalen Kulturkreisen
zu erwarten sein.
Der nächste Schritt der Erweiterung des Konzepts des »kollektiven Agenten«
geht zum Problem der politischen Organisation einer multikulturellen
(mehrsprachlichen) Gesellschaft über. Mit dem Staat als Rahmenbedingung
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Die Zielsetzung von sozialen Agenten überhaupt ist erstens idealiter die
Artikulation der allgemeinen Zweckrationalität in ihren Abstufungen der
Staatsaufgaben eines zivilisierten Gemeinwesens und zweitens praktisch
vorrangig die Betonung der jeweiligen Interessen und Wertsetzungen.
Paternalismus als Rechtfertigung von Politik ist im Wesentlichen als
antihumanistische Restform von Authentizität und Legitimität anzusehen.
Allerdings können paternalistische Legitmierungen im Zusammenhang mit
emanzipatorischen Wirkungen national wie sozial nicht gänzlich
ausgeschlossen werden. So könnte man meinen, das Problem der
Koordination verschiedener Agenten läge in der demokratischen
Legitimierung, oder die Legitimität läge allein in der rechtsstaatlichen Form.
Hier sagt uns die wirtschaftliche Rationalität der Politik manchmal etwas
anderes als die historisch-soziologische Rationalität der Politikwissenschaft
und Rechtsphilosophie.
Ausgangspunkt dieses Abschnitts ist die Aussterberate der Sprachen und der
teilweise Erfolg des Modells vom modernen europäischen Nationalstaat mit
einer Hauptsprache und einer Leitkultur.
Die Frage kann demnach nur sein, wie kann bei vielsprachigen Staaten die
angezeigte Konstitutionsphase hinsichtlich der Einführung einer
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Die Frage, die sich mir stellt, ist also doppelt gefaßt:
Wie bereits deutlich geworden ist, liegt die eigentliche Schwierigkeit darin,
was man jeweils als »angemessen« ansehen will. Die militärische Konstitution
ist weitgehend zu recht geächtet, ähnlich zwangsweise
Assimilierungsmethoden, obwohl weltweit in verschiedenen Formen
verbreitet.
Meine erste globale These ist nun, daß die Organisationsformen von
Wissenschaft, Bildung und Wirtschaft, auch lokale soziale Institutionen, in
einer gewissen Unabhängigkeit von politischen Institutionen die Aufgabe der
Vereinfachung der Sprachenmannigfaltigkeit übernehmen. Das kann nicht
ohne entsprechende politische Willensbildung erfolgen, sehe ich aber
grundsätzlich als Verlagerung der Aufgabenstellung von staatlichen zu nicht-
staatlichen Organisationen, die allerdings dann auch staatlich aus
verschiedenen Gründen und im verschiedenen Ausmaß unterstützt werden
müssen.
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An dieser Stelle der Überlegung halte ich es auch für angebracht, auf die
Verschiedenheit von Rationalitätstypen hinzuweisen, was aber nicht dazu
führen soll, die mit dem Widerstreit von allgemeineren Konstitutionsinteresse
und besonderen Regionalinteresse aufgetane Problematik nur unter der
Perspektive des Übersetzungsproblems behandeln zu wollen, oder
vorzugeben, es ließe sich dieser Widerstreit grundsätzlich durch Analyse so
weit bringen, daß es einfache Lösungsmodelle für die aufgeworfenen Fragen
geben könnte, die befriedigend sein könnte. Der Gebrauch des Konzepts von
Rationalitätstypen kann hier nicht vollständig erörtert werden, doch es gibt
zwei Richtungen weiterer Differenzierung: Die eine Klassifizierung beruht auf
historische Gemeinbilder, und ist veränderbar, die andere Klassifizierung
versucht, geregelt kommunizierbare und formalisierbare Typen von
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Schon ab dem 17. Jahrhundert wurde die Frage nach der Herrschaftsform
allmählich im Zusammenhang mit der Frage nach der allgemeinen
Zweckmäßigkeit gestellt. Die Modernisierung der traditionellen Gesellschaften
in Europa ab dem späten 18. Jahrhundert, die bis in das frühe und mittlere 20.
Jahrhundert gedauert hat, hat auch gezeigt, daß sich die Fragen der
Organsiation von Wirtschaft und politischen Entscheidungsfindungsprozessen
entlang von Strukturfragen und Zielsetzungsfragen entwickelt haben (Adam
Smith in England, Quasnay in Frankreich). Das aber berührt die zentralen
Fragen, die zum politischen Kern des Leitbilds einer Gesellschaft gehört.
Dieser Druck von Außen kann nun helfen, die Kohärenz der Gesellschaften in
eher schwachen Staatswesen, aber mit Resourcen als gemeinsame
Herausforderung zu sehen, die innerstaatliche Vielssprachlichkeit und
Multikulturalität (ob historisch gegeben oder durch Migration innerhalb der
letzten drei bis vier Generationen entstanden) durch eine Prioritätenliste den
Identitätskonflikt als Staatswesen gegenüber den Parallelgesellschaften
aufzuschieben, und zu vereinbaren, diesen Konflikt nicht aggressiv und
gewaltsam auszutragen, sondern in Teilkonflikte zu zerlegen, die wenigstens
teilweise lösbar sein sollten.
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Das vorin postulierte affektive Feld einer Staatsidee kann nun nach den
gruppendynamischen und soziodynamischen Positionen (nach Raoul
Schindler und Herbert Rauch) von Alpha, Beta, Gamma und Omega (hier A,
B, C, D) orientiert werden. Hiebei verstehe ich folgende soziodynamische
Orientierungsachsen im Falle erkennbarer Aktivität als Faktoren
stabilisierender Beziehungspotentalitäten:
A — C : Mainstream
Bewegt sich nun ein risk state mit Mängel in Funktion und Legitimation in
Richtung failured state, so gibt es ein privilegiertes Staatsvolk, daß zum
realpolitischen A die A — C – Achse ergibt, und eine institutionalisierte
Tendenz, diejenigen, die nicht zum Staatsvolk gezählt werden, zu
diskriminieren., also in Richtung O zu verschieben. Das betrifft zuerst A — B
und B — C, und geht im Falle von Widerstand bis zur eingeschränkten
terrirorialen Verfügung, was das Potential von A — O gefährlich hoch
schraubt, auch wenn O keine reelle Chance hat, selbst die Position von A
einzunehmen, oder sich territorial wie der Staatsidee nach vom Ausgangsstaat
zu trennen.
Aus einer ganz anderen theoretischen Perspektive könnte man auch von
Flächen von Werthaltungen sprechen, die negativ durch Gewichtung oder
Ausblendung von Themenkreisen, positiv durch Hervorhebung von
Themenkreisen und Personalisierungen umrissen werden können. — Die
historische Dimension der Werthaltungen und der Gründe deren
Veränderungen führt zum nächsten Perspektivenwechsel: Bildung ist
keinesfalls nur Ausbildung in Techniken der Organisation von
Organisationsformen, Bildung ist auch nicht einfach gleich zu setzen mit
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(1) Das individuelle Modell des Bürgers ist nicht für alle explizte
vorgesehen. Das verstärkt die Konkurrenz, was zunächst Vorteile mit
sich bringt, aber ohne Kanalisierung unkontrolliert in
zusammenhängende Demotivation umschlägt.
(2) Das individuelle Modell des Bürgers ist zunehmend von der
Wirtschaftsrationalität dominiert. Das wirkt als Erleichterung, denn die
Verschiebung des Staatsgedankens von einer schmalen Elite zu einer
breiteren Elite hat Politik historisch mit dem spätromantischen
Nationalismus assoziert (der zeitgenössische österreichische
Dramatiker Grillparzer: Von der Aufklärung zum Nationalismus zur
Bestialität).
Wie schon vorbereitet, driftet die Bildung, die zur Innovationen im Bereich des
Formenkreises der Parallelgesellschaften zwischen Multikulturalität und
Interkulturalität vorausgesetzt ist, von der Bildung des nach Kriterien der
wirtschaftlichen Rationalität ausgebildeten Bürgers zunehmend weg. Das ist
eine Kritik an der globalen interkulturellen Leitkultur, die vom Westen
ausgeht (Max Webers Hypothese der protestantischen Wirtschaftsethik hat
sich insofern indirekt historisch bestätigt). Bleibt die Frage, die ich im ersten
Punkt aufgeworfen habe: Das Konzept der Parallelgesellschaften als
Gliederungskriterium der Gesellschaft befähigt die moderne bis postmoderne
Bildungsidee damit auch Konzepte nur für »implizite Bürger« zu entwerfen,
die, von der gesellschaftlichen Dynamik weitgehend abgekoppelt, als
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Diese Kritik soll nicht davon ablenken, daß die Nachhaltigkeit der
Themenstellung der Multikulturalität und Interkulturalität von der
Wirtschaftsdynamik der Globalisierung zugleich befördert wird. Das kann
man als Rückkoppelung verstehen, die der historischen und humanistischen
Bildungstradition im Verbund mit der kritischen Betrachtung aller Gründe der
gesellschaftlichen Dynamik anhand der Perspektive der Gegliedertheit der
Gesellschaft in Parallelgesellschaften einen neuen Ansatz erlauben könnte.
Kalevi J. Holsti: The strenght of states, six perils of the weak, in: Eva Kreisky,
FoS Staatsbildung und Staatsverfall, SoSe 2007, Protolkoll 09. 05. 2007
Ulrich Schneckener: States at Risk. Zur Analyse fragiler Staatlichkeit, in: Eva
Kreisky, FoS Staatsbildung und Staatsverfall, SoSe 2007, Protolkoll 09. 05. 2007
Luis Villoro, Estado plural, pluralidad de culturas, México City – Buenos Aires –
Barcelona 1998