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Die ,, Psychologie der Abstraktion" enthält

somit den eigentlichen Schlüssel für den


logischen Gehalt jeglicher Begriffsform.

Abstrahieren:

„Der wesentliche Akt, der hierbei vorausgesetzt wird, soll darin bestehen, daß wir gewisse
Bestimmtheiten, an denen wir zunächst festhielten, fallen lassen; daß wir von ihnen absehen
und sie als gleichgültig aus dem Kreis der Betrachtung ausscheiden. Die glückliche Gabe des
Vergessens, die unserem Geist eignet, seine Unfähigkeit, die individuellen Unterschiede der
Fälle, die tatsächlich immer vorhanden sind, wirklich zu erfassen, ist es, sie ihn zur
Begriffsbildung befähigt. Wären alle Erinnerungsbilder, die uns von vergangenen
Wahrnehmungen zurückgeblieben sind, völlig scharf bestimmt, würden sie uns den
entschwundenen Inhalt des Bewußtseins in seiner ganzen konkreten Lebendigkeit zurückrufen,
so könnte es niemals dahin kommen, daß die Erinnerungsvorstellung mit einem neu
auftretenden Eindruck als völlig gleichartig aufgefaßt würde und so mit ihm zu einer Einheit
verschmelzen könnte. Erst die Unsicherheit der Reproduktion, die niemals das Ganze des
früheren Eindrucks, sondern nur seine verschwimmenden Umrisse festhält, ermöglicht diese
Zusammenfassung an und für sich ungleichartiger Elemente. So beginnt alle Begriffsbildung
damit, anstelle der individuellen Anschauung ein verallgemeinerndes Gesamtbild, anstelle der
wirklichen Wahrnehmung ihre verstümmelten und verblaßten Reste zu setzen. Hält man an
dieser Auffassung fest, so gelangt man demnach zu dem seltsamen Ergebnis, daß alle logische
Arbeit, die wir an die gegebene Anschauung wenden, nur dazu dient, sie uns mehr und mehr
zu entfremden. Statt zu einer tieferen Erfassung ihres Gehalts und ihrer Struktur würden wir
nur zu einem oberflächlichem Schema gelangen, in welchem alle eigentümlichen Züge des
besonderen Falles ausgelöscht wären.

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Der echte Begriff (aber) läßt die Eigentümlichkeiten und Besonderheiten der Inhalte, die er
unter sich faßt, nicht achtlos beiseite, sondern er sucht das Auftreten und den Zusammenhang
eben dieser Besonderheiten als notwendig zu erweisen. Was er gibt, ist eine universelle
Regel für die Verknüpfung des Besonderen selbst. So können wir von einer allgemeinen
mathematischen Formel - etwa von der Formel der Kurven zweiter Ordnung - zu den
speziellen geometrischen Gebilden des Kreises, der Ellipse usw. gelangen, indem wir einen
bestimmten Parameter, der in ihr auftritt, als veränderlich betrachten und ihn eine stetige
Reihe von Größenwerten durchlaufen lassen. Der allgemeine Begriff erweist sich hier
zugleich als der inhaltsreichere; wer ihn besitzt, der vermag aus ihm alle mathematischen
Verhältnisse, die an einem besonderen Problem auftreten, abzuleiten, während er
andererseits dieses Problem nicht isoliert, sondern in kontinuierlicher Verknüpfung mit
anderen, also in seiner tieferen systematischen Bedeutung erfaßt. Die Einzelfälle sind nicht
von der Betrachtung ausgeschieden, sondern als völlig bestimmte Stufen im allgemeinen
Prozeß der Veränderung fixiert und festgehalten. Wiederum zeigt es sich hier von einer neuen
Seite, daß nicht die "Allgemeinheit" eines Vorstellungsbildes, sondern die Allgemeingültigkeit
eines Reihenprinzips das charakteristische Moment des Begriffs bildet. Wir heben aus der
Mannigfaltigkeit, die uns vorliegt, nicht irgendwelche abstrakten Teile heraus, sondern wir
schaffen für ihre Glieder eine eindeutige Beziehung, indem wir sie durch ein
durchgreifendes Gesetz verbunden denken. Und je weiter wir darin fortschreiten, je fester

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dieser Zusammenhang nach Gesetzen sich knüpft, um so deutlicher tritt auch die eindeutige
Bestimmtheit des Besonderen selbst zutage. So gelangt - um nur ein einzelnes bezeichnendes
Beispiel zu gebrauchen - die Anschauung unseres euklidischen dreidimensionalen Raums nur
zu um so schärferer Auffassung, indem wir in der modernen Geometrie zu "höheren"
Raumformen emporsteigen, da auf diese Weise erst das gesamte axiomatische Gefüge dieses
unseres Raumes sich in voller Deutlichkeit heraushebt.

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Solange man alle Bestimmtheit in konstanten Merkmalen, in Dingen und ihren Eigenschaften
erschöpft glaubt, so lange scheint freilich jede begriffliche Verallgemeinerung zugleich eine
Verkümmerung des begrifflichen Inhalts zu bedeuten. Aber je mehr der Begriff gleichsam von
allem dinglichen Sein entleert wird, um so mehr tritt auf der anderen Seite seine
eigentümliche funktionale Leistung hervor. Die festen Eigenschaften werden durch
allgemeine Regeln ersetzt, die uns eine Gesamtreihe möglicher Bestimmungen mit einem
Blick überschauen lassen. Diese Verwandlung, diese Umsetzung in eine neue Form des
logischen "Seins" bildet die eigentlich positive Leistung der Abstraktion.

.......

So drängt die Psychologie des Denkens hier zur Setzung eines neuen Moments. Neben
dasjenige, was der Inhalt seinem materialen sinnlichen Gehalt nach ist, tritt dasjenige, was
er im Zusammenhang der Erkenntnis bedeutet; und diese seine Bedeutung erwächst ihm aus
den wechselnden logischen "Aktcharakteren", die sich an ihn heften können. Diese
Aktcharaktere, die den sinnlich einheitlichen Inhalt differenzieren, indem sie ihm
verschiedene gegenständliche "Intentionen" aufprägen, sind auch psychologisch ein völlig
ursprüngliches Moment; es sind eigene Weisen des Bewußtseins, die auf das Bewußtsein der
Empfindung oder Wahrnehmung in keiner Weise zurückführbar sind. Will man jetzt noch
davon sprechen, daß die "Abstraktion" es ist, der der Begriff sein Dasein verdankt, so besagt
das doch, gegenüber der herkömmlichen sensualistischen Lehre, etwas völlig anderes: denn
jetzt ist die Abstraktion nicht mehr ein gleichförmiges und unterschiedsloses Bemerken
gegebener Inhalte, sondern sie bezeichnet den einsichtigen Vollzug der verschiedenartigsten,
selbständigen Denkakte, deren jeder eine besondere Art der Deutung des Inhalts, eine
eigene Richtung der Gegenstandsbeziehung in sich schließt.

......

Somit schließt sich der Kreis der Betrachtung, indem wir nunmehr von seiten der
"subjektiven" Analyse, von der reinen Phänomenologie des Bewußtseins her auf dieselbe
grundlegende Unterscheidung geführt werden, deren Geltung sich uns bereits früher,
innerhalb der "objektiven" logischen Untersuchung ergeben hatte. Gegenüber der
empiristischen Lehre, die die Gleichheit bestimmter Vorstellungsinhalte als eine
selbstverständliche psychologische Tatsache hinnimmt und für die Erklärung des Prozesses
der Begriffsbildung verwendet, ist mit Recht darauf verwiesen worden, daß von Gleichheit
irgendwelcher Elemente nur dann mit Sinn geredet werden kann, wenn bereits eine bestimmte
"Hinsicht" festgestellt ist, in welcher die Elemente als gleich oder ungleich bezeichnet sein
sollen. Diese Identität der Hinsicht, des Gesichtspunktes, unter welchem die Vergleichung
stattfindet, ist jedoch ein Eigenartiges und Neues gegenüber den verglichenen Inhalten selbst.
Der Unterschied zwischen diesen Inhalten einerseits und zwischen den begrifflichen
"Spezies", durch die wir sie geeint denken, ist ein nicht weiter zurückführbarer Tatbestand; er

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ist kategorial und gehört zur "Form des Bewußtseins". Es ist in der Tat der charakteristische
Gegensatz von Reihenglied und Reihenform, der hier eine neue Ausprägung findet. Der
Inhalt des Begriffs läßt sich in die Elemente des Umfangs nicht auflösen, weil beide nicht in
einer Linie liegen, sondern prinzipiell verschiedenen Dimensionen angehören. Die Bedeutung
des Gesetzes, das die Einzelglieder verknüpft, ist durch die Aufzählung noch so vieler Fälle
des Gesetzes nicht zu erschöpfen; denn bei dieser Aufzählung fiele gerade das erzeugende
Prinzip fort, das die einzelnen Glieder zu einem funktionalen Inbegriff verknüpfbar macht.
Kenne ich die Relation, durch welche a b c ... geordnet sind, so kann ich sie durch Reflexion
herauslösen und zum gesonderten Gegenstand des Denkens machen; dagegen ist es
unmöglich, aus dem bloßen Beisammensein von a, b, c in der Vorstellung die Eigenart der
verknüpfenden Relation zu gewinnen. Der Gefahr, den reinen Begriff zu verdinglichen, ihm
eine selbständige Wirklichkeit neben den Einzeldingen anzuweisen, kann diese Auffassung
nicht unterliegen. Die Reihenform F (a, b, c ...), die die Glieder einer Mannigfaltigkeit
verknüpft, läßt sich offenbar nicht in der Art eines einzelnen a oder b oder c denken, ohne
damit ihres eigentlichen Gehalts verlustig zu gehen. Ihr "Sein" besteht ausschließlich in der
logischen Bestimmtheit, kraft welcher sie sich von anderen möglichen Reihenformen φ, ψ ...
in eindeutiger Weise unterscheidet; und diese Bestimmtheit kann immer nur in einem
synthetischen Akt der Definition, nicht in einer einfachen Anschauung, ihren Ausdruck
finden.

Mit diesen Betrachtungen ist die Richtung der folgenden Untersuchung vorgezeichnet. Die
Gesamtheit und die Stufenfolge der reinen "Reihenformen" liegt im System der
Wissenschaften, insbesondere im Aufbau der exakten Wissenschaft, vor uns. Hier findet daher
die Theorie ein reiches und fruchtbares Gebiet, das unabhängig von jeder metaphysischen
oder psychologischen Voraussetzung über das "Wesen" des Begriffs, lediglich seinem
logischen Gehalt nach untersucht werden kann. Diese Selbständigkeit der reinen Logik aber
bedeutet keineswegs ihre Isolierung innerhalb des philosophischen Systems. Schon ein
flüchtiger Überblick über die Entwicklung der "formalen" Logik konnte uns zeigen, wie hier
allmählich die dogmatische Starrheit der traditionellen Formen sich zu lösen beginnt,
bedeutet zugleich die Form für einen neuen Inhalt. Psychologie und Erkenntniskritik, das
Problem des Bewußtseins wie das Problem der Wirklichkeit nehmen an diesem Prozeß teil.
Denn innerhalb der Grundprobleme gibt es nirgends absolute Trennungen und
Grenzscheiden: jede Umgestaltung eines im echten und fruchtbaren Sinn "formalen" Begriffs
zieht hier zugleich eine neue Auffassung des gesamten Gebietes nach sich, das durch ihn
beherrscht und geordnet wird.“

Aus: SUBSTANZBEGRIFF UND FUNKTIONSBEGRIFF. Untersuchungen über die Grundfragen


der Erkenntniskritik von ERNST CASSIRER. VERLAG VON BRUNO CASSIRER, BERLIN 1910

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