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Geschichte
der
neuern Philosophie
von
Kuno Fischer.
Jubiläumsausgabe.
Siebenter Land.
Schellings Leben, Werke und Lehre.
^ oH«, >-
Heidelberg.
Carl Winter>« Universitätsbuch h andlung.
1899.
Schettings
Von
Kuno Fischer.
Heidelberg.
Carl Winter's Universitätsbuchhandlung.
1899.
Aae Rechte, besonder? das Recht der Ueberseyung in sremde Sprachen, werden vorbehalten.
zum
gewidmet.
VII
Erst süns Iahre später habe ich das zweite Buch „Schellings
Lehre', in vier Abschnitte getheilt, herausgeben können. Ich hatte
diese Darstellung, eine meiner schwierigsten Arbeiten, bis zu der Grenze
gesührt, wo Schellings öffentliche litterarische Wirksamkeit in der Mitte
seiner Lebensdauer aushörte.
Zum ersten male erscheint hier, in der neuen und vermehrten Aus
lage dieses Werks, die Darstellung der gesummten Lehre Schellings,
inbegriffen die negative und positive Philosophie, welche unter dem
Titel „Die Philosophie der Mythologie und der Offenbarung" den
Inhalt der zweiten Abtheilung der sämmtlichen Werke (Band 1-4)
ausmacht. Dazu kommt aus deren erster Abtheilung das Fragment
X Vorrede zur zweiten Auslage.
habe, war der Grund, warum es mir zweckmäßig schien, deren Dar
stellung von dem sechsten Bande dieses Werkes, der die Geschichte des
Lebens und der wirkungsreichen Lehre Schellings in aller Aussühr
lichkeit enthielt, zunächst auszuschließen. Nachdem aber durch eben dieses
Werk, wie sein Ersolg gezeigt hat, das Interesse sür Schelling von neuem
belebt und in Folge davon bei vielen das Bedürsniß und der Wunsch
entstanden ist, nun auch von der späteren Lehre eine deutliche Vor
stellung zu gewinnen, so habe ich die Darstellung der letzteren in ein
leuchtender Fassung und wohlgemessenen Grenzen sür eine unerläßliche
nnd zeitgemäße Ausgabe erkannt.
Aus einer lehrreichen und interessanten Vergleichung erhellt, daß
in der Grundansicht vom Wesen der Dinge und vom Werthe der Welt
gewisse Uebereinstimmungen zwischen Schelling und Schopenhauer
herrschen, welche in der späteren Lehre noch deutlicher zu Tage treten
als in der srüheren. Schelling hat von Schopenhaucr nichts gewußt;
dieser hat von jenem, obwohl er ihn von den „drei Sophisten" nach Kant
sür den begabtesten gelten ließ, nichts wissen wollen, und nichts von dessen
Priorität in derLehre vomWillen alsdemUrsein und dem Urwesen der Welt.
Nun ist es merkwürdig genug, daß in einer dritten Größe ein Zug der
Verwandtschast zu jedem der beiden Philosophen sich kundgiebt. Im Iahre
1854 hat Richard Wagner seine Nibelungendichtung dem Philosophen
A. Schopenhauer „aus Verehrung und Dankbarkeit" zugesendet, und
sünsundzwanzig Iahre später hat C. Frantz sein Werk über Schellings
positive Philosophie seinem Freunde Richard Wagner gewidmet, über
zeugt, daß er mit vielem darin sympathisiren werde. In der Philo
sophie der Mythologie hätte Wagner der Götterdämmerung, wenn
auch nicht der skandinavischen, mehr als einmal begegnen und in der
Philosophie der Ossenbarung der Ideen genug sinden können, die mit
dem religiösen Grundmotiv des Parzival übereinstimmen. Schwerlich
aber wären ihm die Schwierigkeiten der Sprache und Darstellung Schel
lings auch nur eine kleine Strecke weit zugänglich und genießbar gewesen.
XII Vorrede zur zweiten Auslage.
InKalisverzeilKniß.
Erstes Buch.
Erstes Capitel.
Seite
Biographische Quellen. Schellings Aufgabe und Stellung.
Seine Jugendjahre (1775 bis 1795) 3
Biographische Quellen 4
Schellings Ausgabe und Stillung. Vorblick 4
Schellings Iugendjahre 8
1. Elternhaus und Schule 8
2. Die akademischen Iahre 9
3. Das geistige Ergebniß I6
Zweites Capitet.
Bon den akademischen Lehrjahren zur akademischen Lansbahn
(November 1795 bis Iuli 1798) 17
Neue Lebensstellung 17
1. Innere Gährung 17
2. Stillung als Hosmeister 19
3. Die Reise nach Leipzig 20
Die Leipziger Iahre 22
1, Erlebnisse. Studien. Arbeiten 22
2. Lebenspläne. Berusung nach Iena 24
XIV Inhaltsverzeichniß.
Drittes Capitel.
Seite
Bon Leipzig nach Jena. Die Zeit in Jena (Oct, 1798 bis Mai 1803) 2«
Ausenthalt in Dresden. Die Romantiker 26
Die Ienasche Zeit 2g
1. Allgemeine Charakteristik 29
2. Ausgaben und Arbeiten. Vorlesungen und Schristen . . 32
Viertes Capitel.
Schellinas Anfänge und erste Wirkungen 35
Die Einheitstendenz des Zeitalters 35
1. Politik, Philosophie. Poesie 35
2. Schelling und die religiöse Romantik 38
3. Schelling und Goethe 41
Einsluß aus die Naturwissenschast 43
1. Eschenmayer 43
2. I. W. Ritter 45
3. Die Brownsche Schule 46
4. Schelling und Steffens 47
Fünftes Capitel.
«aroline Schlegel 56
Charakteristik 56
1. Ihre Bedeutung sür Schelling 56
2. Geistesart 57
3. Lebensverhältnisse und Gemüthsart 58
Wittwenschast und zweite Ehe 59
1. Mainzer Schicksale 59
2. Verhältnis, zn Schlegel 65
Sechstes Capitel.
«arolinens Verbindung mit Schelling 68
Mutter und Tochter 68
1. Erste Bekanntschast 68
2. Der Tod Augustens 70
3. Schellings Verhältniß zu Mutter und Tochter ... 71
Die Auslösung der Ehe mit A. W. Schlegel 76
1. Karolinens Wiedervereinigung mit Schelling .... 76
2. Scheidung und dritte Ehe 81
Inhaltsverzeichinß, XV
Achtes Capitel.
Die Jahre in Wurzburg lOctober 1803 bis April 1806) ... 96
Der neue Wirkungskreis 96
1. Der neubayrische Staat 96
2. Schellings Berusung 98
3. Akademische Lehrthätigkeit 102
4. Schristen 105
Neuntes Capitel.
Vonflicte in Würzburg. Gegner und Freunde .... 107
Anseindungen und Abwehr 107
1. Der kirchliche Katholicismus 107
2. Der ausgeklärte Katholicismus 108
3. Fran, Berg 109
4. Der
5. Die Oberdeutsche
Verweis Litteraturzeitung und der Studienplan . 113
114
Zehntes Capitel.
Schillings Weggang von Würzburg und Stellung in München.
«arolinens letzte Jahre und Tod 124
Regierungswechsel in Würzburg. Schellings Weggang ... 124
Schelling in München. Das neue Königreich 126
Karolinens letzte Iahre und Tod 130
Elftes Capitel.
Wiederverheirathung. Philosophische Richtung und Schriften
während der ersten Münchener Zeit .... 137
Zweite Ehe. Pauline Gotter 137
Philosophische Richtung und Schristen 139
XVI Inhaltsverzeichnis;.
Seit»
1. Magie und Mystik Igg,
2. Bruch mit Fichte 142
3. Entsremdung von Hegel 145
4. Schellings akademische Rede 147
6.
5. Neue
Die Begründung
Ausgaben. der
DieReligionsphilosophie
Weltalter. Mythologie
....
und Offen» 148
Zwölftes Capitel.
Der Streit mit Jacobi. kontroverse mit Eschenmayer. Uner
füllte Ankündigungen 153
Iacobi und Schelling 153
1. Persönliche Berührung 153
2. Iacobis Angriff 154
3. Schillings Gegenschrist 156,
4. Urlheile über den Streit 158
Neue Zeitschrist. Controverse mit Eschenmayer .... 161
Ankündigung neuer Werke 163
1. Die Weltalter 163
2. Die Mythologie 166
3. Oeffentliche Täuschungen 167
4. Beurtheilung 163
Dreizehntes Capitel.
Vereinsamung in München. Die Jahre in Erlangen 169
Vereinsamung 169
1. Die Zeit der Stille 169
2. Stellung zu den Zeitsragen 170
3. Berusungssragen 172
Die Erlanger Zeit 174
1. Freundeskreis 174
2. Vorlesungen 175
3. Platen 176
4. Puchta 182
5. Dorsmüller, Die Erlanger Burschenschast. Schlich der Er
langer Zeit 185
Vierzehntes Capitel.
Zweiter Aufenthalt und Wirkungskreis in München (1827-1841) 187
Neue Verhältnisse 187
Inhaltsverzeichniß. XVII
Seite
1. König Ludwig 187
2. Die Universität München. Schellings Berusung ... 188
Schellings Wirkungskreis 190
1. Die Schulordnung 190
S. Die Akademie 191
3. Die Universität 195
Fünfzehntes Capitel.
Schellings UniverfitStsvorlesungen
zur positiven Philosophie
in München. Propädeutik 19«
Sechszehntes Capitel.
Bekämpfung Hegels. Vorrede zu Cousins Borrede . . . 215
Schillings Verhalten gegen Hegel 215
1. Letztes Wiedersehen 215
2. Art der Polemik. Vorwurs des Plagiats .... 216
3. Eine streitige Autorschast 217
4. Verdächtigung Hegels. Ein „Hegelianischer Seide" . . 219
Schillings Vorrede zu Cousins Vorrede 221
1. Victor Cousin 221
2. Cousins Vorrede 224
3. Schellings Vorrede 227
Siebzehntes Capitel.
Bernfuug uud Ueberfiedlung nach Berlin 229
Vorbedingungen 229
1. Schillings Mission 229
2.
3. Bayrische
Die KrisisZeitverhältnisse.
in der HegelschenDas
Schule
Ministerium Abel . . 234
231
Achtzehntes Capitet.
Wirksamkeit in Berlin, Antrittsrede. Borwort zu Steffens 243
Schellings Wirksamkeit 243
K. Fijchei, »esch, d, Philos, Vit II
XVIII Inhaltsverzeichnis;.
Seite
1. Gegner. Erwartungsvolle Stimmung 243
2. Die Antrittsrede 245
3. Vorlesungen und Ansprachen 248
Vorwort zu Steffens' Nachlaß 25»
Die Vollendung des Systems. Vorträge in der Akademie . . 257
Neunzehntes Capitel.
Letzte Kämpfe und Jahre 258
Letzte Kämpse. Der Proces; wegen Nachdrucks . . . . 258
1. Die Art der Angriffe. Alte Feinde. Chr. Kapp ... 258
2. Der Angriff aus sein litterarisches Eigenthum. H. G. Paulus 26g
3. Die Auslassung über Hegel 265
4. Apologeten 267
Lebensabend. Das Ende 268
Maximilian II. und Schelling 272
Zweites Buch.
Sch ellin gs Lehre.
Erster Abschnitt.
Von der Wiffenschaftslehre zur Naturphilosophie.
l1794-1797.)
Crftes Capitel.
Der Standpunkt der Wiffenschaftslehre. Das Princip der
Alleinheit 281
Die Philosophie als Einheitslehre 282
Das Ich als Princip der Philosophie, Wiffenschastslehre und Spino-
zismus . . . . ' 283
Zweites Capitel.
Dogmatismus und Kriticismus
Der Pseudokantianismus
Verhältnis zwischen Dogmatismus und Kriticismus
1. Uebereinstimmung : das monistische System
2. Gegensatz: das Freiheitssystem ....
Das Ergebniß
Inhaltsverzeichniß. XIX
Drittes Capitel.
Die Freiheit als Prineip 294
Das sittliche Gebot. Ethik und Moral 294
Die Rechtslehre S9S
1. Urrecht 296
2. Zwangsrecht 297
Vorblick aus die Naturphilosophie 298
Viertes Capitel.
Das Kreiheitssnftem als Weltsystem 300
Der Dualismus und die Dinge an sich. Unmöglichkeit der Erkenntniß 300
Der Standpunkt des Idealismus 302
1. Die Begründung der Erkenntniß 302
2. Die Entstehung des Objects 302
Fünftes Capitel.
Uebergang zur Naturphilosophie 307
Die Natur als Entwicklung des Geistes 307
Der Wille als Urkrsst 308
Die genetische Philosophie 310
Zweiter Abschnitt.
Die Naturphilosophie.
(1797-1807.)
Sechstes Capitel.
Die Entstehung der Naturphilosophie. Der kritische Standpunkt 31S
Siebentes Capitel.
Die philosophischen Ausgangspunkte nnd die Grundidee der
Naturphilosophie 319
Die philosophischen Ausgangspunkte 319
1. Kants Teleologie. Der Begriff des Lebens .... 319
2. Fichtes Lehre von der bewußtlosen Intilligenz ... 321
3. Leibnizens Entwicklungslehre 322
Die Grundidee der Naturphilosophie 323
1. Das Princip der Einheit von Natur und Geist ... 323
2. Das Princip der Welt, und Natureinheit .... 324
XX Inhaltsverzeichniß.
Neuntes Capitel.
Die Naturphilosophie unter dem Einslusz der Naturwiffenschaft.
^. Physik und Chemie ....... 332
Die neue Elektricitätslehre 333
1. Galvanismus 333
2. Die Berührungselektricität. Volta 334
3. Der Elektrochemismus. Davy 335
4. Elektromagnetismus. Thermo»Elektricität. Magnetelektricität 336
Die neue Verbrennungslehre 336
1. Phlogistische und antiphlogistische Lehre 337
2. Die Lebenslust und die Verbrennung. Priestley und Lavoisier 33S
3. Die Zusammensetzung der Lust und des Wassers . . . 33S
Zehntes Capitel.
L. Die organische Naturlehre 340
Die neue Erregungslehre. Brown 340
Die Entwicklungslehre. Kielmeyer 342
philosophie 347
Das Leben als Centralbegriss 347
Der Galvanismus als Centralphänomen 347
Die Polarität als Universalprincip 350
Zwölftes Capitel.
Naturphilosophische Schriften 353
Die Art der Darstellung 353
Die Phasen der Darstellung 354
Die Gruppirung der Schristen 356
Dreizehntes Capitel.
Dynamik. ^ Probleme 358
Das Thema der Ideen 353
Die träge Naturphilosophie 359
Naturphilosophische Fragen .... .... 360
Inhaltsverzeichniß. XXI
Seite
1. Verbrennung. Licht und Wärme 360
2. Lust und Lustarten »61
3. Elektricität und Magnetismus 363
Vierzehntes Capitel.
Dynamik. ». Principien 366
Die allgemeinen Kräste 366
Die transscendentale Begründung der Kräste 368
Dynamik und Chemie 369
Vorblick aus das Identitätssyflem ,370
Fünfzehntes Capitel.
kraanik. ^ Die erste Kraft der Natur 372
Weltseele, Dualismus, Polarität 372
Der Aether 374
1. Aether und Licht 374
2. Das Licht und die Körper 375
3. Licht und Elektricität 377
4. Das Phänomen der Polarität 378
Sechszehntes Capitel.
Lrgantt. ». Der Lebensprocetz 379
Das Problem der Begründung des Lebens 379
1. Vegetation und Leben 379
2. Grund des Lebens 381
3. Erregbarkeit 382
Negative und positive Lebensbedingung 383
1. Der chemische Proceß und die organische Form . . . 383
2. Die positive Ursache. Weltseele 384
Siebzehntes Capitel.
Das neue Ratursystem 386
Die dynamische Atomistik 386
1. Das Problem der Permanenz und Qualität .... 386
2. Ursprüngliche Actionen. Combination und Decomposition . 387
3. Die Grenzen der Naturproduction 389
Da« Allleben der Welt 391
1. Die Individuen 391
Die 2.Einheit
Gattung
derund
Organisation
Individuum 391
392
1. Epigenesis 392
XXII Inhaltsverzeichniß.
Achtzehntes Capitel.
Vie dynamische Btufensolge in der unorganischen Natur.
^ Die Weltorganisation 395
Die Ausgabe 395
Die unorganische Natur als Bedingung der organischen , . 396.
1. Das Wesen des Organismus 39K
2. Der transscendentale Standpunkt in Ansehung des Unorganischen 398
Die Organisation der unorganischen Natur 399
1. Die Weltevolution 393
2. Das Problem der Gravitation 400
8. Die große und die kleine Welt (Assinitätssphären) . . 401
Neunzehntes Capitel.
». Nie »osmogonie 402
Die organische Weltbildung. Die Weltlorver 402
Sonne und Erde 405,
1. Gravitation und chemische Action 405,
2. Verwandtschast und Glektricität. Elektrochemismus 406
3. Die Sonnenwirkung. Schwere und Licht .... 408
Zwanzigstes Capitel.
Die dynamische Htufensolge in der organischen Natur 409
Die Ausgabe 409
Die organischen Kräste 410
1. Die Sensibilität 410
2. Die Irritabilität 411
3. Die Reproduction 412
Die Irritabilität und der Galvanismus .... . 4IK
Die organische Stusensolge 418
1. Das Verhältniß der Kräste 418
2. Die Stusensolge 419
3. Die Analogie der unorganischen und organischen Kräste . 420
Einundzwanzigstes Capitel.
Gesammtresultat und neue Aufgabe 421
Die Entwicklung des naturphilosophischen Grundproblems . . 422
1. Die Natur als Subject 422
2. Die Natur als Object 423
Inhaltsverzeichnis. XXIII
Seit'
3. Die Natur als Entwicklungsreihe oder Metamorphose . . 424
4. Die Natur als Materie oder die dynamische Stusensolge . 425
Differenzirung und Indifferenzirung der Materie .... 426
1. Relative Indifferenz 426
2. Der dynamische Proceß. Neue Ausgabe 428
Imeiundzwanzigftes Capitel.
Die «ategorien der Physik. Magnetismus, tSlertrieität, chemi»
scher Proces; 430
Die Bestimmung der Ausgabe 430
1. Die Einheit des Transscendentalen und Dynamischen . . 430
Die 2.Genesis
Tie Form
der Raumersüllung
des dynamischen Processes 432
431
ersüllung.) 436
Dreiundznmnzigftes Capitel.
Das Licht und die Oualitätsunterschicde der Materie ... 440
Die Bestimmung der Ausgabe . . 440
1. Die Processe erster und zweiter Ordnung .... 440
2. Das Licht 441
Die Qualitätsunterschiede 443
1. Wärme und Cohäfion 443
2. Die elektrischen und chemischen Qualitäten .... 445
3. Der Salvanismus und die Voltasche Säule .... 446
Vierundzwanzigstes Capitel.
Naturphilosophie und JdentitStsphilosophie 447
Naturphilosophie und Wissenschastslehre 447
1. Die Umbildung der Philosophie 447
Natur
2. Die
und Realität
Bewußtsein
der Natur 449
4S0
Fünfundzwanzigftes Capitel.
Die Naturphilosophie als Jdeenlehre 454
Der neue Standpunkt 454
XXIV Inhaltsverzeichnis;.
Seite
1. Das transscendentale Princip als Weltprincip . . . 454
2. Das Absolute. Absoluter Idealismus 456
3. Die Einheiten 457
4. Die Ideell 458
Die Naturphilosophie als Ideenlehre 460
1. Das Absolute und die Welt 460
2. Ideen und Potenzen 461
3. Plato und Spinoza. Bruno und Leibniz .... 462
4. Das theosophische Problem 464
Sechsundzwanzigftes Capitel.
Allgemeine Naturphilosophie 464
Die letzten naturphilosophischen Schristen 464
Die Ausgabe 466
1. Allgemeine und specielle Naturphilosophie .... 466
2. Die Principien der Schwere und des Lichts .... 467
Das Absolute und die Materie 468
1. Dualismus und Emanatismus 468
2. Das absolute und relative Sein 469
3. Das Unendliche und Endliche 470
4. Die Idee Gottes und das All 471
5. Die Ideenwelt und die Weltkörper 472
6. DaS göttliche Band der Dinge 473
7. Das Band als Schwere und Licht 475
Siebeuundzwanzigftes Capitei.
Die beiden Entwikklungösormcn der Naturphilosophie 476
Der religiöse Pantheismus 476
1. Natur und Religion 476
2. Die neue Darstillungsart. Die Aphorismen und Fragmente 477
Anti.Fichte 481
1. Das Thema der Streitschrist 481
2.
3. Die
Der Geltung
Vorwurs der
der Natur
Schwärmerei
bei Fichte 485
483
Dritter Abschnitt.
Die Jdentitätsphilosophie.
Achtundzwanzigstes Capitel.
Das System des transseendentalen Idealismus . ... 491
Ausgabe des transscendentalen Idealismus 491
1. Unterschied von der Wissenschastslehre 491
2. Unterschied von der Naturphilosophie 492
3. Die Probleme des transscendentalen Idealismus . . . 493
Die Lösung der Ausgabe 495
1. Die intillectuelle Anschauung 495
2. Das Selbstbewußtsein 497
3. Die Geschichte des Selbstbewußtseins 497
Neunundzwanzigstes Capitel.
Das System der theoretischen Philosophie . 499
Die 1.Ausgabe
Die Geschichte
der theoretischen
der theoretischen
Philosophie
Intelligenz, Fichte und Schelling 499
Dreißigstes Capitel.
D«s System der praktischen Philosophie 516
Das praktische Ich 516
1. Das Wollen 516
2. Der Ursprung des Wollens. Die Individualität ... 517
3. Die geistige Welt. Die Erziehung 518
4. Das Handeln als Umbilden 519
5. Anschauen und Handeln 520
XXVI Inhallsverzeichniß.
Seite
Die Willenssreiheit 521
1. Die natürliche uni>die absolute Freiheit .... 521
2. Die Willkür 522
3. Die bürgerliche Freiheit und die Rechtswelt . ... 523
Die Philosophie der Geschichte 526
1. Die Geschichte als sortschreitende Entwicklung .... 526
2. Der Charakter der Geschichte 527
3. Gott in der Geschichte 528
Einunddreißigstes Capitel.
Die Philosophie der Kunst 530
Teleologie und Organismus 530
Die Kunst 532
1. Das Genie als Ursprung des Kunstwerks .... 532
2. Der ästhetische Charakter des Kunstwerks .... 533
3. Die Kunst als Organon der Philosophie 584
Das neue System der Aesthetik 536
1. Die universille Aesthetik 53«
2. Die ästhetische Entwicklungslehre 538
3. Die Natur und die bildende Kunst 541
Zweiunddreißigstes Capitel.
Das System der absoluten Identität 645
Ausgabe 545
1. Schristen. .Darstellung meines Systems der Philosophie' . 545
2. Princip und Methode 547
Die absolute Identität 543
1. Das Selbsterkennen . . 548
2. Die quantitativcn Differenzen. Die Dinge .... 550
3. Die Reihe der Potenzen. Relative Totalität .... 552
Die Lehre vom All S54
1. Die Identität als Universum 554
2. Der erneuerte Spinozismus und die Grundsormel des Systems 556
3. Die Methode des Potenzirens. (Hegel, Schopenhauer.) . . 56g
4. Potenzen - Ideen 562
Das Absolute und die Welt 568
1. Das Problem 563
2. Die Natur als Grund 563
Dreiunddreißigstes Capitel.
Das System der Wissenschaften als Methodenlehre des akademi»
schen Studiums. ^ Akademie und Philosophie . 565
Inhaltsverzeichniß, XXVIl
Vierter Abschnitt.
Die RcligiunSphil»s«phic.
Siebenunddreißigstes Capitel.
Die menschliche ssreiheit. ^ Das Vermögen des Guten und
Nöscn 633
Das Problem der Freiheit überhaupt 633
1. Unmöglichkeit der Erkenntniß 633
2. Nuthwendigkeit der Erkenntniß 636
Das Problem der menschlichen Freiheit. Das Vermögen des Bösen 637
1. Unmögliche Erllärungsversuche 637
2. Die einzig mögliche Erllärung 639
3. Die Natur in Gott 640
Das Böse im Menschen 644
1. Die Möglichkeit des Bösen «44
2. Die universelle Wirllichkeit des Bösen 647
3. Das Reich der Geschichte 648
Ichtunddreiszigstes Capitel.
«. Der intelligible Charakter des Mensche«, das Verhältnis;
des »ösen zu Gott, die Persönlichkeit Gottes . 651
Das Böse als That und Schuld 651
1. Das Problem 651
2. Indeterminismus und Determinismus 652
3. Der intelligible Charakter 652
Theodicee. Das Verhältniß des Bösen zu Gott .... 658
1. Die Persönlichkeit Gottes 658
2. Das Gute und Böse 661
3. Das Ende des Bösen 662
Gott und die Liebe Gottes 663
1. Leben und Tod 663
2. Das letzte Problem 664
Inhallsverzeichnis;. XXIX
Seite
3. Das Leben Gottes 665
4. Sottesgesuhl und Gotteserkenntniß 667
Neununddreißigstes Capitel.
Rawralismus und Theismus 669
Die Kontroverse mit Eschenmayer 670
Iacobi gegen Schelling 672
Schellings Streitschrist 678
1. Die Lage des Streits 67«
2. Tie persönliche Polemik 679
3. Die Streitsache 681
DerUebergang zur späteren Lehre. Die Stuttgarter Privatvorlesungen 686
Vierzigstes Capitel.
Tie Weltalter 69l
Vergangenheit, Gegenwart und Zukunst 691
1. Aeonen und Potenzen 691
2. Der Widerspruch in der Natur Gottes 693
3. Ter Urdrang zum Sein und das Endziel .... 694
Die Auslösung des Widerspruchs. Grund und Folge . . 695
1. Die Stusenleiter 695
2. Die Natur in Gott und die Naturphilosophie ... 696
3. Die noihwendige und die sreie Offenbarung Gottes. Die Liebe
Sotte, 696
Die Vergangenheit in Gott 698
1. Die Weisheit in Gott «98
2. Die Urpotenzen 698
3. Die Weltseele , ... 699
Ginundoierzigftes Capitel.
Tie Sattheiten von Samothrake 700
Die Weltalter und die Religionsphilosophie 700
1, Mythologie und Offenbarung 700
2. Die Samothrakischen Mysterien 701
5. Tie aussteigende Reihe der Kabiren 702
4. Kritische Mängel 703
Die Kabiren in Goethes Faust 703
Zweiundvierzigftes Capitel.
Tos System der späteren Lehre 705
Tie Art der Aussührung 705
XXX Inhaltsverzeichniß.
Leite
Die Art der Betrachtung 70?
1. Die Schellingsche Gnosis 707
2. Schelling und Schopenhauer 708
3. Die historisch-kritische Forschung 709
Vreiunduierzigstes Capitel.
Li« Philosophie der Mythologie 716
Die historisch'krilische Einleitung 716
1. Schellings Stellung zur Mythologie 716
2. Der einzig mögliche Standpunkt 717
3. Monotheismus und Polytheismus 719
4. Der simultane und successive Polytheismus .... 719
5. Der theogonische Proceß 720
6. Die Epochen oder Krisen 721
Die philosophische Einleitung oder die negative Philosophie . . 722
1. Die rationale Philosophie vor Schelling 722
2. Die Potenzenlehre 726
3. Die thätige Vernunst: das Ich im Gegensatze zu Gott.
<Prometheus.) 728
4. Der Staat und die Weltgeschichte 731
5. Das Ich aus dem Wege zu Gott 734
Vierundoierzigstes Capitel.
Tas Hystem der Mythologie 739
Der Monotheismus 739
1. Verhältniß zum Theismus und Pantheismus .... 739
2. Die Potenzen in Gott 740
3. Die Universiu 743
Der Polytheismus 745
1. Die astrale Religion oder der Zabismus. Uranos . . 746
2. Urania. Mylitta und Astarte. Mitra und Mithrns. Die
Zendlehre 747
3. Die Kronosreligion. Kronos und Dionysos. Baal und
Melkarth. Der griechische Herakles 750
4. Uebergang zum successiven Polytheismus. Kybele. Die
Goltermutttr 755
5. Die ägyptische Mythologie. Typhon und Osiris, Isis und
Horos 755
«. Die indische Mythologie 760
7. Die chinesische Religion 765
Inhaltsverzcichniß. XXXI
Se>te
Die hellenische Mythologie 769
1. Homeros und Hesiodos 769
2. Die Göttergeschlechter: Uranos, Kronos, Zeus ... 771
3. Die Mythologie in Dichtung und Kunst 773
4. Chaos und Ianus 774
Fünfunduierzigstcs Capilel.
Iii griechischen Mhsterien 777
Das mystische Grundthema 777
Die mystischen Gottheiten 780
1. Dionysos 780
2. Demeter 784
3. Die Urthat und die Urtäuschung. Nemesis und Apate . 784
4. Persephone 787
Die Mysterienlehre 788
1. Die beiden Grundprobleme 788
2. Das Leben noch dem Tode 788
3. Die Gottheiten von Eleusis und von Samothrale ... 791
4. Die Zulunstsreligion und der Zulunstsgolt .... 792
Zechsundvierzigstes Capile!.
Tic Philosophie der cffenbarung 794
Ausgabe und Thema 794
1. Der Umsang der positiven Philosophie 794
2.
4.
3. Offenbarung
Hie
Die Weltentwicklung
Person Christi
und Offenbarungsphilosophie
und deren
die Weltzeiten
Ziel. Wissenschast
....und Glaube 796
797
798
Siebenundoierzigstes Cupitel.
3« Latanologie 820
Der kritische Theil 820
XXXII Inhaltsverzeichnis,.
e,ite
1. Der Satan als Widersacher 820
2. Der Satan als Fürst dieser Welt 820
3. Der Satan als Feind der Schöpsung 821
Der4.positive
Der Satan
Theil als Werlzeug Gattes 821
823
Achtundvierzigstes Capitel.
Kritische Hchlußbetrachtun«. Hegel und Schopenhauer 823
Schelling wider Hegel 828
1. Parallele zwischen Hegel und Wols 828
2. Widerstreit in Schellings Polemik 829
Widerstreit in Schellings Grundlehre 831
1. Das Ursein als Wille und als Vernunst .... 831
2. Hegel und Schopenhauer 831
3. Die nächste Ausgabe 832
ßrkes Auch.
I. Biographische Quellen.
Unsere Darstellung der Lebensgeschichte Schellings beruht aus
solgenden Schristen:
1. Friedrich Wilhelm Ioseph von Schellings sämmtliche
Werke, von K. F. A. Schelling (Diakonus in Weinsberg, zuletzt Dekan
in Marbach, dem zweitältesten Sohne des Philosophen) in zwei Ab
theilungen herausgegeben (Stuttgart, Cotta, 1856- 1861). Die erste,
in zehn Bänden (1856- 1861), umsaßt in chronologischer Ordnung
den Zeitraum von 1792- 1850; davon kommen aus die ersten süns Bände
els Iahre, aus den sechsten ein Iahr, aus die vier letzten sechsundvierzig.
Die erste Hälfte umsaßt die Zeiten von Tübingen, Leipzig und Iena
(1792-1803), der sechste Band die Würzburger Zeit, die solgenden
reichen von den letzten Iahren in Würzburg bis zu den letzten in
Berlin. Die ersten vier Bände enthalten nur Gedrucktes. In der
ersten Abtheilung sind aus dem Nachlaß, abgesehen von kleineren Aus
sätzen und poetischen Versuchen, das Gespräch „Clara", „Die Weltalter"
und Vorträge, gehalten in Iena, Würzburg, Stuttgart, Erlangen,
München und Berlin, veröffentlicht. Die zweite Abtheilung in vier
Bänden (1856-1858). in der Form von Vorlesungen, neunzig an
der Zahl, enthält unter dem Titel „Philosophie der Mythologie und
der Offenbarung" die spätere Lehre des Philosophen, die in den Iahren
1815- 1854 ausgebildet und der srüheren nicht als eine andere, wohl
aber als eine neue hinzugesügt worden ist.
Der Herausgeber der Werke wollte auch der Biograph seines
Vaters werden, leider aber hat sein Tod (18. August 1863) ihn an
der Vollendung dieser Arbeit gehindert; das hinterlassen« Fragment,
das von dem sast achtzigjährigen Leben des Philosophen nur 26 Iahre
4 Biographische Quellen. Schellings Ausgabe und Stellung.
umsaßt, ist in dem solgenden Werk als das erste Stück (S. 1-179)
erschienen.
2. „Aus Schellings Leben. In Briesen", im Austrage der Familie
von G. L. Plitt, a. o. Prosessor der Theologie in Erlangen, heraus
gegeben (Leipzig, S. Hirzel, 1869-1870). Der erste Band reicht
von1775- 1803, der zweite von 1803-1820. der dritte von1821-1854.
3. Eine höchst willkommene Ergänzung zu dem genannten Sammel»
werk bilden die Briese, welche Schellings Schwiegersohn, der Geschichts-
sorscher G. Waitz, unter dem Titel: „Caroline. Briese an ihre Ge
schwister, ihre Tochter Auguste, die Familie Gotter, F. L. W. Meyer,
A. W. u. Fr. Schlegel, I. Schelling u. a." in zwei Bänden (Leipzig
1871) herausgegeben hat. Diese Briese erleuchten das sruchtbarste
Iahrzehnt im Leben Schellings (1799-1809) aus das hellste.
4. Neuerdings ist aus dem Königlich Bayerischen Hausarchiv der
Brieswechsel zwischen „König Maximilian II. von Bayern und Schelling"
zu Tage getreten, herausgegeben von L. Trost und Fr. Leist" (Stutt
gart, Cotta Nachsolger, 1890). Diese Briese. 138 an der Zahl, von
denen Schelling 86 geschrieben, erstrecken sich vom 27. Iuli 1836 bis
zum 21. Mai 1854 und bezeugen ein Verhältniß wechselseitiger Liebe
und Verehrung, das von seiten des königlichen Schülers sich in Aus
drücken wärmster Pietät und Bewunderung ergeht.
Von allen diesen Verössentlichungen gilt, was der Herausgeber
von „Schellings Leben. In Briesen" am Schluß seiner Vorrede gesagt
hat: daß jedem künstigen Biographen, der Schellings Leben und Wirken
richtig verstehen, gerecht beurtheilen, allseitig darstellen wolle, diese
Briese unentbehrlich seien. Diesen Zweck zu ersüllen, haben wir uns
in dem vorliegenden Werke die genannten Urkunden sämmtlich zur
Belehrung gereichen laffen.
proceß, nur aus dem absoluten Sein oder Gott abgeleitet werden könne;
sie hatte in der ersten Rücksicht das naturphilosophische, in der zweiten
das religionsphilosophische Problem gestellt, aber keines von beiden ge
löst. Fichte war von der theoretischen Wissenschastslehre zur praktischen,
zur Rechts- und Sittenlehre, von hier zur Religionslehre sortgeschritten
und sah zuletzt die Ausgabe vor sich, aus dem Gottesbegriff, als dem
tiessten Princip, das er ersaßt, sein ganzes System in einem einzigen
Gusse neu hervorgehen zn lassen. Dies hat er gewollt, aber nicht
vollbracht. An der Lösung der naturphilosophischen Frage ist die
Wissenschastslehre vorübergegangen und hat sich unmittelbar der sitt
lichen Welt zugewendet, die ihr eigentliches Element war. Als es sich
zuletzt um die Begründung des Ichs aus dem absoluten Sein handelte,
gerieth sie in unvermeidliche und bei dem Grundcharakter, dem sie treu
blieb, unauslösliche Schwierigkeiten.
Es mußte aus dem innersten Triebe der Wissenschastslehre heraus
ein neuer und srischer Anlaus genommen und der Weg ergrissen werden,
den Fichte zwar unverkennbar gezeigt, aber nicht selbst ausgeschlossen,
noch weniger geebnet hatte. An der Richtschnur der Wissenschastslehre
mußte die Philosophie durch das Labyrinth der Natur emporsteigen
zu der geistigen Oberwelt. Der Angriff und die Auslösung der natur
philosophischen Frage war im Gebiet der deutschen Philosophie, die
unmittelbar von Fichte herkam, die allernächste Forderung. Iene drei
Grundprobleme alles speculativen Nachdenkens, die Fragen nach dem
Wesen der Natur, der Menschheit und Gottes, hängen so genau zu
sammen, daß keines ohne das andere gelöst werden kann, aber die
Möglichkeit der Lösung ist bedingt durch die Ordnung der Probleme.
Die Natur ist das nothwendige Geistesobject, die vorgestellte, anschau
liche, in ihrer Anschaulichkeit dem Bewußtsein unmittelbar als vor
handen einleuchtende Welt. Ohne Geisteserkenntniß, d. h. ohne Selbst-
erkenntniß ist nicht zu wissen, worin ihr Wesen besteht. Daher ist
die Selbsterkenntniß, die Einsicht in die Bedingungen aller Erkennbar
keit und alles Bewußtseins, nothwendig die erste und sicherste That,
um das Wesen der Dinge zu verstehen und den Blick srei zu haben
aus die Welt als das wirkliche Object aller Erkenntniß. So ist die
herangereiste Philosophie bei den Griechen sortgeschritten von Sokrates
zu Plato und Aristoteles, bei den Deutschen von Kant und Fichte zu
Schelling und Hegel. Das Räthsel der Dinge ist nur lösbar aus dem
tiessten Grunde menschlicher Selbsterkenntniß; aus jedem andern Wege
6 Biographische Nachrichten, Schellings Ausgabe und Stellung.
muß man es versehlen. Der Weg durch die Selbsterkenntniß ist der
kritische im Sinne Kants.
Zunächst bedurste die kritische Selbsterkenntniß einer systematischen
Vollendung und Einheit. Ihre Einsichten mußten gesammelt, geordnet,
aus einem einzigen Princip solgerichtig und methodisch entwickelt werden.
Sobald dieses Ziel erreicht ist, drängt alles zu der nächsten Ausgabe,
zu dem Durchbruch in das sreie offene Feld objectiver Wissenschast.
Ienes Ziel ist erreicht in der Fichteschen Wissenschastslehre, es kommt
nicht erst in ihrem Verlaus allmählich zum Vorschein, sondern gleich
in den ersten Grundzügen, in dem Begriff und der Ausgabe der
Wissenschastslehre steht es klar und deutlich vor dem sehenden Auge.
Daher wartet der Durchbruch aus der Wissenschaftslehre in die Natur
philosophie und Kosmologie nicht erst, bis Fichte seine Arbeit vollendet
hat, sondern die jüngere dazu berusene, von dem Geist der Wiffen
schastslehre ergriffene und unglaublich schnell gereiste Krast ist gleich bei
der Hand. An diesem Punkte des Durchbruchs steht Schelling. Seine
ganze Bedeutung in der deutschen Philosophie nach Kant
liegt darin, daß in der Fortbewegung der letzteren dieser Ort,
diese Ausgabe, diese Krast ihm zugesallen war: er sollte die
Wendung und den Ansang der neuen von dem kritischen Geist ersüllten
Welterkenntniß machen. Alles was der Ansang einer solchen großen
geistigen Bewegung sordert von jugendlichem Feuer und kühnem Geistes»
drange, von entschlossener Denkkrast und genialem Vorblick. alles was
zugleich Unvollkommenes und Unreises dem Ansange anhastet, charak-
terisirt den Mann, dem diese Stelle in der deutschen Philosophie kein
zweiter bestreitet.
In einem sehr bemerkenswerthen Gegensatze zu Kant, der nach
langem Nachdenken endlich die epochemachende That vollbringt, bedächtig
und gemessen von Frage zu Frage sortschreitet, die er alle gleichmäßig
und einmüthig beherrscht, bemächtigt sich jetzt ein ungestümer und
ungeduldig vorwärtstreibender Drang der philosophischen Forschung.
Es giebt auch im Leben der Ideen Wendungen und Krisen, die zu
ihrer Entscheidung der srischesten Iugendkrast bedürsen. Es ist, als
ob die Philosophie in ihrem Fortgange von Kant zu Fichte und
Schelling sich mit jedem Schritte zu verjüngen strebte. Kant war
siebenundsünszig, als er sein grundlegendes Werk herausgab; Fichte
war zweiunddreißig, als er die Wissenschastslehre einsührte; Schelling
steht mit zwanzig Iahren aus der Höhe der Kantisch-Fichteschen Philo
Seine Iugendjahre. 7
sophie und betritt zwei Iahre später seine eigenthümliche Bahn. Kaum
hat Fichte das erste Wort seiner neuen Lehre gesprochen, so hat es
niemand besser begriffen als der neunzehnjährige Schelling, der jetzt
gleichzeitig mit dem Meister die Wissenschastslehre entwickelt und schon
den Uebergang zur Naturphilosophie macht, während Fichte noch be
schästigt ist, das System seiner Sittenlehre auszusühren.
Als Schelling den 26. November 1827 seine Prosessur in München
antrat, charakterisirt er am Schluß seiner Rede treffend den Moment,
in und zu welchem er aus dem Gebiete der deutschen Philosophie er
schien. „Als ich vor bald dreißig Iahren zuerst berusen wurde, in die
Entwicklung der Philosophie thätig einzugreisen, damals beherrschte
die Schulen eine in sich krästige, innerlich höchst lebendige, aber aller
Wirklichkeit entsremdete Philosophie. Wer hätte es damals glauben
sollen, daß ein namenloser Lehrer, an Iahren noch ein Iüngling, einer
so mächtigen und ihrer leeren Abstractheit ohnerachtet doch an manche
Lieblingstendenzen der Zeit sich eng anschließenden Philosophie sollte
Meister werden? Und dennoch ist es geschehen, sreilich nicht durch sein
Verdienst und seine besondere Würdigkeit, sondern durch die Natur der
Sache, durch die Macht der unüberwindlichen Realität, die in allen
Dingen liegt, und er kann den Dank und die sreudige Anerkennung,
die ihm damals von den ersten Geistern der Nation zu Theil wurde,
nie vergessen, wenn auch heutzutage wenige mehr wissen, wovon, von
welchen Banden und Schranken die Philosophie damals besreit werden
mußte, daß der Durchbruch in das sreie offene Feld objectiver Wissen
schast, in dem sie sich jetzt ergehen können, diese Freiheit und Leben
digkeit des Denkens, deren Wirkung sie selbst genießen, damals er
rungen werden mußte.'"
Von der Selbsterkenntniß zur Welterkenntniß, zur Gotteserkennt-
niß. von der Wissenschastslehre zur Naturphilosophie und Kosmologie,
von hier zur Religionsphilosophie: dieser in sich nothwendige Ganz der
Probleme bezeichnet die Stadien, welche Schellings philosophischer Ent
wicklungsgang durchläust. Die ersten Iahre sind von der Wissenschaftslehre
beherrscht, der zweite Abschnitt umsaßt die Naturphilosophie und Iden-
titätslehre, der dritte und längste die Religionslehre. Die philosophische
Entwicklung, die Schelling vor den Augen seiner Mitwelt durchlebt
und beurkundet hat, beschreibt kaum mehr als sünszehn Iahre; sie sind
kam, von seiten der Philosophie nur einen Eindruck der Leibnizischen
Lehre empsangen, die Kantische war ihm noch verborgen. Da lernte
er Schulzes Erläuterungen der Kritik der reinen Vernunst kennen und
beendete nach einer eigenhändig dem Buche eingeschriebenen Bemerkung
die erste Lectüre den 23. März 1791.^ Drei Iahre später, in der
letzten Zeit seines Tübinger Ausenthalts, wird er durch die ersten
Schristen Fichtes über den Geist der kritischen Lehre völlig ins Klare
gesetzt, und seine eigene productive Selbstthätigkeit in der Philosophie
kommt zum Durchbruch; er erkennt in der Wissenschastslehre den wahren
und einzig möglichen Fortschritt der kritischen Denkweise, in den Kan
tianern des gewöhnlichen Schlages den zurückgebliebenen und unechten
Kantianismus, beides mit einer wirklichen Macht über die neuen sort
bewegenden Ideen der Philosophie. Diesen Standpunkt erobert zu
haben, ist die reisste und wichtigste Frucht seiner akademischen Lehrjahre.
Unterdessen hat er auch aus theologischem Gebiete, namentlich in
den alt- und neutestamentlichen Studien, rüstig sortgearbeitet; er ist
auch hier selbstdenkend zu Ueberzeugungen vorgedrungen, aus denen er
die Richtschnur zu einer wissenschastlichen Ersorschung der biblischen
Schristen sich vorzeichnet. Es ist bewunderungswürdig, mit welcher
reisen und sichern Einsicht dieser achtzehnjährige Iüngling die Noth-
wendigkeit der historisch-kritischen Richtung erkennt. Ein richtiger
Tact leitet den Gang seiner neutestamentlichen Studien uon den pau-
linischen Briesen zu den synoptischen Evangelien. In den Iahren von
1793-94 hatte er die Absicht, eine Reihe historisch-kritischer Abhand
lungen zu schreiben, wozu der Entwurs der Vorrede noch erhalten ist.
Hier gilt ihm die rein geschichtliche Erklärung der Bibel, „die historische
Interpretation derselben im weitesten Sinn" als der leitende Gesichts
punkt, als das Ziel aller gelehrten und kritischen Untersuchung; eine
davon unabhängige philosophisch-allegorische Erklärungsweise sei in
wissenschastlicher Hinsicht ebenso unvermögend als die dogmatische In-
spirationstheorie; Ernesti habe mit Recht die grammatische Erklärung
der allegorischen und philosophischen entgegengesetzt, aber sie reiche bei
den weiten Grenzen, innerhalb deren sich dieselbe bewege, zu der Lösung
der wissenschastlichen Ausgabe nicht aus. Es sei nicht genug, den
Wortsinn herauszubringen, man müsse die Bedeutung und den Inhalt
> Noch sünszig Iah« spät», am Schluß der eben erwähnten Vorlesung, em
psiehlt er seinen Zuhörern dieses Hülssmiltel zum Studium der Kritik der reinen
Vernunst. S. 33.
Seine Iugendjahre. 13
der Vorstellungen erkennen und genau wissen, was sich dieser Schrist
steller in diesem Ausspruch wirklich gedacht habe; dies aber sei nur
möglich, wenn man die geschichtliche Entwicklung der Vorstellungsarten,
den geschichtlichen Charakter der Schriststeller und Schristen, den Geist
der Zeitalter und deren Sonderung verstehe. So wird die ganze Er
klärungsweise der Bibel aus einen Gesichtspunkt gesührt, der mit aller
Unbesangenheit die historisch-kritische Grundsrage stellt: wie sind die
biblischen Schristen entstanden? Die Nothwendigkeit dieses Gesichts
punktes läßt sich nicht einsacher und überzeugender aussprechen, als es
in dieser Vorrede des Tübinger Stipendiaten geschieht: „Man betrachtete
nur gar zu ost die heiligen Urkunden als Schristen, die plötzlich vom
Himmel gesallen wären, die man aus allem Zusammenhang heraus
nehmen und als ganz isolirte Denkmale betrachten müsse, die unab
hängig von den Vorstellungen, den Bedürsnissen und allen Umständen
derjenigen Zeit, in der sie entstanden, nur aus ein in entsernten Iahr
hunderten erst vollkommen auszubildendes System berechnet wären, in
die man ost auch alle mögliche Weisheit, ohne Rücksicht aus die Em
psänglichkeit derjenigen Menschen, denen sie zunächst bestimmt wären,
hineintragen dürste, wenn sie nur zuvor durch das hergebrachte System
geheiligt wären, das dann doch wieder nur aus jenen Schristen geschöpst
sein sollte." „Historische Interpretation im weiteren Sinn besaßt dem
nach nicht nur grammatische, sondern auch historische Interpretation
im engeren Sinne des Worts. Iene geht blos aus die Bedeutung der
Worte, aus ihre verschiedenen Wendungen, Formen und Constructionen,
diese nimmt ihre Belege aus der Geschichte überhaupt, insbesondere
aber aus der Geschichte der Zeit, aus der die Urkunde, welche ausgelegt
werden soll, herstammt, aus dem Geist, den Begriffen, den Vorstellungs
und Darstellungsarten, die jener Zeit eigenthümlich sind. ^
Nicht blos die dogmatische Inspirationstheorie, sondern auch die
philosophisch-allegorische Erklärungsweise steht der geschichtlichen entgegen.
Bei der Willkür, die alles aus allem zu machen versteht, verliert die
Philosophie, wenn sie die Erklärung der Bibel bevormunden will, jede
wirkliche Einsicht und widerstrebt aller echten religiösen Ausklärung.
Im Interesse der letzteren wird treffend aus die Abwege hingewiesen,
die eine solche ungeschichtliche und willkürliche Erklärungsweise unter
Sinn Lebren und Wahrheiten zum Kern habe, daher eine Verschmel
zung von Philosophem und Sage bilde, denn er gebe Wahrheit in
geschichtlicher Form. Im weiteren Sinn wird auch die Sage Mythus
genannt; daher werden historische und philosophische Mythen, mythische
Geschichte und mythische Philosophie unterschieden und auch die Mög
lichkeit dargethan , wie sich beide vereinigen, historische Sagen philo
sophisch werden, Philosophen« sich in dieselben einkleiden können; es
wird hingewiesen aus die traditionelle Herkunst, aus die poetische Ent
stehung mythischer Vorstellungsweisen, aus die psychologischen Trieb
sedern einer solchen Dichtung, die unwillkürlich hervorgehe aus einer
kindlichen Geistesart. aus dem Bedürsniß. die Wahrheit sinnlich anzu
schauen, aus der Unsähigkeit, sie schon abstract zu denken und darzu
stellen. Aus den verschiedenen Arten menschlicher Vorstellung und aus
dem Ursprunge derselben wird der Inhalt sowohl der mythischen Ge
schichte als der mythischen Philosophie dargethan und der Gesichtspunkt
erschlossen, unter dem sie betrachtet und erklärt sein wollen.
Die philosophischen Abhandlungen aus den Iahren 1794 und
1795 über die Möglichkeit einer Form der Philosophie überhaupt, vom
Ich als Princip der Philosophie oder über das Unbedingte im mensch
lichen Wissen, die neue Deduction des Naturrechts. die philosophischen
Briese über Dogmatismus und Kriticismus. sollen hier nur biographisch
erwähnt sein; wir werden sie später, weil sie der philosophischen Ent
wicklung Schellings angehören und deren ersten Abschnitt ausmachen,
genau versolgen.
Erwägen wir den Geistesertrag
3. Das geistigeder Tübinger Iahre, so sind große
Ergebniß.
Zweites Capitel.
I. Neue Lebensstellung.
1. Innere Gährung,
Diese Iahre sind im Leben Schellings die Sturm- und Drang
epoche. Die Lehrjahre sind vollendet, die Wanderzeit beginnt. Was
in einem bedeutenden und zukunstsvollen Menschenleben in solchen
Ebendaselbst. I. S. 92 ff.
zur akademischen Lausbahn, 19
schiffe der Kursürsten von Mainz und Trier, ein Bild aus dem
mittelalterlichen Deutschland, dessen Tage gezählt sind! Wo er eine
Gelegenheit sindet, von Psassen und österreichischen Soldaten zu reden,
kann er seinen Widerwillen nicht stark genug äußern. In Heilbronn
sieht er eine Menge österreichischer Ossiciere, „lauter rohe, unaussteh
liche Menschen, die mit einigen preußischen Ossicieren einen sehr starken
Contrast machten. Brandwein und S. Majestät der Kaiser waren der
einzige Gegenstand ihrer Gespräche, so wie es weiter ging, waren sie
verloren. Noch sah ich da einen Kanonikus von Schell, die ver
worsenste Creatur, die man sehen kann, zwergartig, mit einem Höcker,
eingebogenen Beinen, ein Gesicht, wo auch der letzte menschliche Zug
verwischt war, das leibhasteste Bild der Erbärmlichkeit. Ich hätte ge
wünscht, ihn copiren zu können. Er hätte meine Ausmerksamkeit nicht
aus sich gezogen, wenn er nicht aus dem Extrem der Menschheit stände.
Dieser Mensch saß den ganzen Tag am Spieltisch, verspielte ein Gold
stück ums andere, und solche Auswürslinge süttert die deutsche Nation
mit Psründen und Kanonikaten zu Tode."' In Darmstadt erwartete
den jungen Hosmeister die erste Prüsung von seiten des Geheimraths
von Gatzert. Schelling hatte sich aus einen ausgeblasenen Emporkömm
ling gesaßt gemacht, so schilderte ihn der Rus; er sand zu seiner an
genehmen Ueberraschung einen hochgebildeten Mann, der den ehemaligen
Göttinger Prosessor nicht verleugnete, einen begeisterten Verehrer der
Alten, voll der vernünstigsten Ansichten über Erziehung und ganz der
Meinung, daß die Leitung junger Edelleute nicht eingewurzelte Vor-
urtheile zu nähren, sondern echte und humane Geistesbildung zu be
sördern habe. In völligem Einverständniß entwarsen beide den aka
demischen Studienplan, wornach die allgemeinen Wissenschasten, Philo
sophie, Geschichte u. s. s. die Grundlage bilden sollten. So war
Schellings hosmeisterliche Stellung sürs Erste besestigt. Auch der srei
herrliche Erbmarschall in Lauterbach sand Gesallen an ihm und ver
sprach, wenn er seine Pflicht ersülle, alles sür ihn thun zu wollen,
was Menschen möglich sei.^
Unter den Orten, welche die weitere Reise berührte, waren die
letzten vor dem Ziel sür Schelling die interessantesten: Weimar und
Iena, damals vor allen anderen die beiden Musenstädte Deutschlands.
„Das weltberühmte Iena", schreibt er in sein Tagebuch, „ist ein kleines,
Für seine innere Entwicklung sind die Leipziger Iahre von einer
großen Bedeutung : in diese Zeit sällt der Wendepunkt, womit Schelling
den Fortschritt von der Wissenschastslehrc (genauer gesagt innerhalb
der Wissenschastslehre) zur Naturphilosophie und so den Ansang seiner
eigenthümlichen Lausbahn macht. Es sind drei Schriften, die den
Fortgang darthun und an dieser Stelle ebensalls nur biographisch er
wähnt werden: „Allgemeine Uebersicht der neuesten philosophischen
Litteratur", später unter dem Titel „Abhandlungen zur Erläuterung
des Idealismus der Wissenschastslehre", dann der erste Theil der
seele".
„Ideen Die
zur Philosophie
„Uebersicht" derschrieb
Natur"
Schelling
und dieEnde
Schrist
1796
„Von
undderAnsang
Welt'
sehen, aber er wollte nicht als Repetent, sondern nur als Prosessor
dorthin zurückkehren. Die Möglichkeit einer Berusung eröffnete sich,
da Bök Prälat wurde und Abel aushörte, Metaphysik zu lesen. Schelling
selbst that keinen sörmlichen Bewerbungsschritt, sondern ließ den Vater
gewähren, der in Tübingen durch Briese an Schnurrer, in Stuttgart
durch ein Schreiben an den Minister Spittler die Berusung des
Cohnes betrieb. Diesen lockte die Nähe des elterlichen Hauses und
auch wohl der Ehrgeiz, an die Universität als Prosessor zu kommen,
welche er vor weniger Zeit als Kandidat verlassen hatte. Im Uebrigen
stand sein Sinn nicht nach Württemberg. Die Sache, die eine Zeit
lang schwebte, schlug sehl, Spittler begünstigte einen anderen, und so
wohl in Tübingen als auch in Stuttgart scheint die Stimmung gegen ihn
gewesen zu sein, bei einigen aus persönlicher Abneigung, bei anderen
aus theologischen Bedenken. Schelling selbst hatte von vornherein die
richtige Witterung und rechnete nie aus einen günstigen Ersolg der
väterlichen Bewerbungen.
Während die letzteren ihren Gang gingen, zeigte sich ihm von
sern eine andere Aussicht. Schon im November 1797 hatte er gehört,
daß man geneigt sei, ihn nach Iena zu berusen; Fichte wirkte dasür,
und in Weimar hatte sich wohl der Minister Voigt auch sür ihn aus
gesprochen. Dann verstummte die Sache wieder; es hieß, die anderen
Höse machten Schwierigkeiten. Indessen hatte sich Goethe sür Schellings
erste naturphilosophische Schrist interessirt und im Mai 1798 ihn per
sönlich kennen gelernt. Unter seiner Förderung kam die Berusung zu
Stande, und den 5. Iuli 1798 schickte ihm Goethe sein Anstellungs-
decret, begleitet mit einigen sreundlichen Worten. ^ Freilich war die
Anstellung nicht, wie sie Schelling gewünscht und der Vater sie in
einem Briese an Schnurrer dargestellt hatte. Er kam als außerordent
licher Prosessor nach Iena, vorläusig unbesoldet, ein Gehalt wurde sür
die Zukunft in Aussicht gestellt.
Seine bisherige Stellung löste sich auss beste, sie mag ihm bis
weilen drückend gewesen sein, aber, so viel man sieht, ist sie ihm nie
durch seine Zöglinge oder deren Vormünder verleidet worden. Die
Kosten seiner Krankheit wurden ohne Widerrede bezahlt; auch sein
Wunsch, mit den beiden jungen Edelleuten nach Göttingen zu gehen,
wurde bereitwillig gewährt; und als er aus Grund der Berusung nach
Iena um seine Entlassung bat, wurde ihm dieselbe von beiden Vor
mündern mit allem Bedauern und unter ehrenvollen Ausdrücken ertheilt.'
So hatte Schelling seine Hosmeisterzeit, dieses gewöhnliche Ueber-
gangsstadium von den akademischen Lehrjahren zu der akademischen Laus
bahn, das bei Kant sich durch neun Iahre erstreckt, in weniger als drei
Iahren zurückgelegt. Noch nicht vierundzwanzig alt, betritt er als Prosessor
den akademischen Lehrstuhl an der geistig bewegtesten, sür seine Ideen
empsänglichsten Universität des damaligen Deutschlands. Die Systeme
dreier in der Entwicklung der deutschen und insbesondere nachkantischen
Philosophie epochemachender Denker sind in Iena herangereist: der
Philosophen Fichte, Schelling und Hegel. Was Schellings weltkundige
Bedeutung in der Geschichte der Philosophie und die Früchte seiner
Arbeitskrast betrifft, so ist diese nächste Ienasche Periode, im Wende
punkte der beiden Iahrhunderte, in seinem Leben entschieden die wich
tigste und die reichste.
Drittes Capitel.
' Die Entlassungsschreiben von Satzert und Riedesel sind vom 16. und
28. Iuli 1798.
Die Zeit in Iena. «7
sohns, eine Frau, die ihn anbetete und bereit war, das Ideal der
poetischen Liebe mit ihm zu verwirklichen.
So entstanden in' Iena und Berlin die beiden ersten Sammel
punkte der neuromantischen Richtung, verknüpst zunächst in der Person
Friedrich Schlegels. Ieder der beiden Kreise sand in einer genialen
Frau sein weibliches Centrum, der Berliner in Rahel Levin, der Iena-
sche in Karoline Schlegel. Diese Frauen hatten, jede in ihrer Weise,
das volle Vermögen, Goethesche Poesie und Fichtesches Philosophiren
nicht blos zu verstehen, sondern nachzuleben und in dem productiven
Geiste der beiden einander so unähnlichen Erscheinungen das Gleich
artige zu empsinden. Hier lag, weiblich vorempsunden, eine Synthese,
die wiffenschastlich gesucht und gestaltet werden sollte durch einen Kops,
der sich berusen sühlte, die Wissenschastslehre mit einer der Goetheschen
Vetrachtungsweise congenialen Weltanschauung zu sättigen und aus
dem schassenden Ich die schassende Natur zu lösen. Dieser Kops war
Schelling. Und diesen seinen Berus, in dem Reiche der Philosophie
der Erbe Fichtes und Goethes zu werden, hat niemand größer gesehen
als Karoline Schlegel, die erst seine Freundin, dann seine Frau wurde
und in dem thatenvollsten und geistig sruchtbarsten Iahrzehnt seines
Lebens in Wahrheit seine Muse gewesen ist.
Die erste Begegnung beider geschah im August 1798 in Dresden.
Hier lebte schon seit dem Mai Karoline mit ihrer Tochter Auguste
Böhmer, damals einem Mädchen von dreizehn Iahren ^, Schlegel kam
mit seinem Bruder von Berlin, Hardenberg besuchte Dresden von Frei-
berg aus, wo er Geologie unter Werner studirte, und Gries, der dem
Hamburger Kontor untreu geworden und in Iena umsonst gesucht
hatte, sich mit der Rechtswissenschast zu besreunden, war seit einigen
Monaten in Dresden, gleichsam in seinem ersten poetischen Semester,
mit den Ansängen der Tasso-Uebersetzung beschästigt. Zuletzt kam
durchreisend auch noch Fichte. Es sehlte nur noch Tieck. und der große
Nath der Romantiker war beisammen.' Alle Vormittage trasen sich
Schelling, die beiden Schlegel und Gries in der Gemäldegalerie. Den
letzten Abend verlebte Schelling mit Fichten und Gries. Mit diesem
reiste er gemeinschastlich über Freiberg und Altenburg nach Iena, wo
> Nicht sechszehn, wie es in Schellings Leben I. S. 245 heißt. — ' Der äl»
tere Schlegel ist den 8. September 1767 geboren, Fr. Schlegel den 18. März
1772, Hardenberg den 2. Mai 1772, Tieck den 31. Mai 1773, Gries war einige
Wochen jünger als Schelling.
Die Zeit in Iena. 2!'
es bei Fichte, auch die Wissenschastslehre hat sich immer von neuem
gehäutet, und sie ist in keiner ihrer Gestalten in allen Gliedern reis
geworden. Am schlimmsten aber verhält es sich in diesem Punkte mit
Schelling, und gerade was die Hauptsache betrisft. Ihm war in der
Naturphilosophie ein Werk zugesallen, dessen Ausreisung, ich meine nur
die relative, die längste Zeit bedurfte, und das in der kürzesten Zeit
auszusühren er unternahm. Sein Lehramt stellte die Forderung, er
selbst hatte die Zuversicht. So ging er mit großen und richtigen
Grundgedanken, mit einer schnellen und geringen Ausrüstung im Posi
tiven, im Vertrauen aus seine geniale Geisteskrast und deren Blick
tapser an das unermeßliche Werk. Da er ein Ganzes geben wollte,
dessen bis in die einzelnen Theile hinein gleichmäßig entwickelte Aus
sührung ein Ding der Unmöglichkeit war, so mußte er aus weite und
umsassende Formeln bedacht sein, um zu erschöpsen, ohne auszusühren.
Er setzte an die Stelle der wissenschastlich entwickelten und das Object
wirklich auslösenden Vorstellung das Schema, das unbestimmte, schwan
kende, wandelbare, und gab das Ganze der Naturphilosophie, indem
er es zum großen Theil schematisirte. Nichts ist werthvoller als die
Formel, die sich entwickelter Gedankenreihen bemächtigt, nichts unsrucht
barer und öder als die Formel statt der Entwicklung. In diesen
Uebelstand mußte die Naturphilosophie gerathen, deren Formelwesen
und Schematismus sich vielsach aus der hastigen und unreisen Aus
bildung des Systems nicht rechtsertigt, aber erklärt. Es sind jene
Eierschalen, die es mit aus die Welt brachte und aus denen es nie
herauskam.
Was Schelling wirklich in seiner Gewalt hatte, das vermochte er
aus dem Tiessten heraus zu gestalten und mit einer bewunderungs
würdigen Klarheit bis zu künstlerischer Vollkommenheit darzustellen.
In solchen Werken bleibt er als Denker und Schriststeller ein Meister
von dauernder Geltung. Daß er darstellen mußte, was er mit allem
Genie unmöglich in seiner vollen Gewalt haben konnte, daß er es
mußte unter dem Antriebe des Zeitalters, das mit der gespanntesten
Erwartung aus ihn sah, unter den täglich erneuten Forderungen des
Katheders, unter der Macht einer großen und unvermeidlichen Ausgabe,
die er ergriffen hatte, die ihn mit Zuversicht ersüllte: darin erkenne
ich ebenso viel Tragisches, als ich Schicksal darin sinde. Kant wurde
bei der Spätreise seines Werks bange um dessen Vollendung; Schelling
mochte bei der Frühreise des seinigen zuletzt ähnliche Empsindungen
32 Von Leipzig nach Iena.
haben, nicht weil ihm die Iahre, sondern weil dem Werke selbst die
innere Krast der Ausreisung sehlte. Die Kühnheit der Iugend und
das seurige Selbstvertrauen ließen nach, und mir scheint, daß ein
Widerwille gegen alles Veröffentlichen und Druckenlassen, ein Mißtrauen
gegen das eigene gedruckte Wort mit unter den verborgenen Beweg
gründen war, die ihn noch im jugendlichen Mannesalter litterarisch
stumm machten.
Es giebt auch in der Wissenschast Ausgaben, die man nicht will
kürlich ergreist, sondern die einem der Geist zurust, die ergrissen werden
mussen, die unter allen nur der Berusene aus sich nimmt, und doch
ist der vollen lösenden That weder er noch seine Zeit gewachsen. Auch
in der Wiffenschast ist dieser Fall tragisch. Er war Schellings Schicksal,
und man kann in seinem Leben sehr wohl die Zeiten unterscheiden, wo
er wie ein Prophet an sein Werk ging und später wie ein Hamlet das
Wort, in welchem die That lag, zurückhielt. Die innersten Beweg
gründe erwogen, so war beides in ihm echt, und darum ist keines von
beiden zu schelten. Aber es könnte sein, daß die Miene, die er an
nahm, nicht immer mit den wahren Beweggründen übereinstimmte,
und darin sreilich müßten wir etwas Unechtes erkennen, das schlimmer
zu beurtheilen wäre.
2. Ausgaben und Arbeiten. Vorlesungen und Schristen.
Die Ienaschen Iahre sind die prophetischen und productiven. Er
kam als ein Schüler und Fortbildner der Wissenschastslehre und wurde
hier der Meister eines eigenen Systems. Aus welchem Wege und durch
welche Arbeiten er dazu sortschritt, läßt sich erzählen, ohne daß wir
jetzt in die Sache näher eingehen. So lange ihm die Wiffenschasts
lehre als das ganze System der Philosophie und die Naturphilosophie
nur als ein Theil oder eine Provinz derselben galt, blieb er aus dem
Gebiet, welches Fichte beherrschte. Sobald er eingesehen, daß die
Naturphilosophie nicht blos eine Lücke innerhalb der Wissenschastslehre
aussülle, sondern dieser gegenüber ein relativ selbständiger und ergän
zender Theil der Philosophie sei. ließ sich das gesammte System weder
blos aus dem Grunde der Naturphilosophie noch blos aus dem der
Wissenschastslehre erbauen, sondern bedurste eines tieser und umsaffen
der angelegten Princips, das kein anderes sein konnte, als schon Fichte
in dem Versuch einer neuen Darstellung der Wissenschaftslehre (1797)
als die Wurzel des Selbstbewußtseins und des Wiffens bestimmt
hatte: nämlich die absolute Einheit oder Identität des Subjectiven
Die Zeit in Iena. 33
' S. dieses Werk Bd. V (2. Ausl.). Buch IV. Cap. I. S. 639-41.
«. Fischer, Gesch. d. neuern Philos. VI> «
34 Von Leipzig nach Iena. Die Zeit in Iena.
„über den wahren Begriff der Naturphilosophie und die richtige Art,
ihre Probleme auszulösen", im letzten die „Darstellung meines Systems
der Philosophie".
Im Iahre 1802 erlebten die „Ideen", Schellings erste natur
philosophische Schrift, eine zweite Auslage; die Vorrede (December 1802)
und die Zusätze zeigen den Abstand der beiden Auslagen, zwischen denen
die Versuche einer systematischen Begründung der Naturphilosophie
liegen.
Ich gebe in der Schlußanmerkung die Folge der Ienaschen Vor
lesungen, die recht erkennbar macht, wie hier eine durchgängige Wechsel
wirkung zwischen Katheder und Schristen besteht, die beide gegenseitig
von einander leben.'
Viertes Capitel.
Labsal. In der Einheit ihres Princips lag die Macht und Wirkung
der Wiffenschastslehre. Keiner unter den deutschen Philosophen ist von
dem Einheitsdrange der Philosophie so srüh ersaßt und wirklich beseelt
worden wie Schelling. Während er mit Fichte dachte, sah er empor zu
Spinoza als seinem Leitstern.
Unsern großen Dichtern galt die Kunst nicht als ein vereinzeltes
Schaffen, sondern wurde ihnen die Seele der Welt, der Weltbetrachtung,
der Menschenerziehung, die gestaltende und vollendende Macht der
Natur und Bildung. In dieser ästhetischen Betrachtungsweise im uni
versellsten Sinne des Worts begegneten sich Goethe und Schiller, jener
ruhte in ihr als seinem Element, dieser erreichte in ihr den höchsten
Ausdruck und das Ziel seines philosophischen Denkens.
Die neuromantischen Poeten trieben in dieser Richtung weiter;
sie waren wie inspirirt von dem Thema, daß alles phantasiegemäß und
poetisch werden müsse, daß die Poesie alles in allem sei, zugleich das
Mysterium der Welt und dessen Enthüllung; Natur und Geschichte
seien das göttliche Weltgedicht, die geniale menschliche Dichtung dessen
Offenbarung: so sei die Poesie in Wahrheit die höchste Realität, zu
gleich Urbild und Abbild; abgetrennt von ihr gebe es weder echte
Erkenntniß noch echte Religion noch überhaupt wahre universelle
Bildung. Zu der letzteren aber gehört vor allem, daß man die Welt
dichtung in sich ausnimmt, die großen Dichter der Menschheit congenial
erkennt und so lebendig wie möglich sich aneignet. Friedrich Schlegel
möchte der Winckelmann der griechischen Dichtung werden, sein Bruder
übersetzt den Shakespeare, Tieck den Don Quixote, Gries den Tasso;
durch den älteren Schlegel wird gleichzeitig Dante in den Kreis der
poetischen Forschung gezogen und schon die Ausmerksamkeit aus die
indische Poesie gerichtet; durch ihn und Gries später Calderon über
setzt. Das Weltreich der Poesie, das im Plane der Romantiker liegt,
breitet sich aus, diese Uebersetzungen und Ersorschungen sremder Dichtung
sind nicht wie gelehrte Streiszüge, sondern wie eroberte Provinzen der
einen poetischen Welt. Das Streben nach Einheit und Universalität
ersüllt dieses neupoetische Geschlecht und erklärt (abgesehen von den
Beweggründen zweiten und dritten Ranges), wie dieselben Geister zu
erst in der Verherrlichung der sranzösischen Revolution und später in
der Verherrlichung der katholischen Kirche schwelgen konnten. Es ist
nicht blos das Fallen aus einem Extrem in das andere; sondern, aus
der Einheitstendenz betrachtet, sind hier entgegengesetzte Verwandtschasten
38 Schellings Ansänge
und machte daraus ein Porträt Friedrich Schlegels nach ihrer Art,
indem sie dieselben „srank und srei übersetzte"/
Schelling hatte, wie wir gesehen, seinen philosophischen Standpunkt
in einem sehr entschloffenen und nachdrücklichen Gegensatz gegen die
Theologie gesaßt und ausgebildet, seine Naturphilosophie trug einen
entschieden pantheistischen Charakter, dem eine derbe Naturvergötterung
näher lag als jede andere religiöse Schwärmerei. Darum war er der
Romantik, wie sie in Novalis und auch Schleiermacher lebte, abgeneigt.
Die Reden über Religion kannte er zunächst nur oberflächlich, er hat
sie bald in ihrer großen Bedeutung gewürdigt. Hier wurde zum ersten
male aus jener Einheitstendenz, die sich in der Philosophie längst Bahn
gebrochen hatte, das religiöse Leben betrachtet und als dessen bewegendes
Element das Grundgesühl der Abhängigkeit von dem Unendlichen, von
dem einen ewigen Universum dargethan, so daß der Redner zugleich
mit Novalis und Spinoza begeistert übereinstimmen konnte. Wenn
nun Schleiermachers pantheistische Empsindungsweise diese beiden ent
gegengesetzten Elemente, das christlich mystische und das rein natura
listische, in sich ausnahm, so sühlte sich Schellings pantheistische Denkweise
damals dem spinozistischen Gedanken der Gott-Natur weit verwandter
als dem christlich phantasirenden Novalis, und es reizte ihn, seinen
Widerwillen gegen die religiösen Ueberschwänglichkeiten der Romantik
stark auszulassen. Er schrieb in Versen nach Art des Hans Sachs
gleichsam als Gegenwurs wider die neureligiöse Poesie ein Gedicht
unter dem Titel: „Epikurisch Glaubensbekenntniß Heinz Widerporstens".
Friedrich Schlegel, der damals den Sprung aus dem antichristlichen
Pantheismus in das antiprotestantische Christenthum noch nicht gemacht
hatte, war ganz damit einverstanden. „Schelling hat", schrieb er an
Schleiermacher, „einen neuen Ansall von seinem alten Enthusiasmus
sür die Irreligion bekommen, worin ich ihn denn auch aus allen
Krästen bestätigte."' Das Gedicht sollte im Athenäum erscheinen, aber
> Z. B. ?Iaton!a pliilosuoleis,« ^eriuinus est i6eaIl3inua - Meine Philo
sophie ist ber einzige echte Idealismus. ?osaia a6 rempubliellln ben« cuuati-
tuenä»m eat ueeeasari» - Die Poesie ist ersorderlich, um alles unter einander
zu rühren. Kon eritics, s«6 Kistosiee egt pkilosupuanilum - Nicht im Zu
sammenhange, sondern sragmentarisch muß man philosophiren u. s. s. Caroline,
Bd. II. Beil. I. S. 57. Ueber die Disputation, die ein halbes Iahr nach der
Habilitation stattsand, sgl. Schiller an Goethe, den 16. März 1801; Hahm, Die
romantische Schule. S. 676 ss, - ' Aus Schleiermachers Leben. I. S. 134. Ner
Bries ohne Datum ist wohl aus dem November 1799.
und erste Wirlungen. 4l
in der Absicht an das vortreffliche Gedicht „Groß ist die Diana der
Epheser", womit Goethe zwölf Iahre später Iacobis Schrist von den
göttlichen Dingen abwies, dieselbe Schrist, welche der herausgesorderte
Schelling mit seinem Denkmal Iacobis vernichtend beantwortete. Gegen
Novalis regte sich „sein Enthusiasmus sür die Irreligion", gegen
Iacobi ließ er den „religiösen und theosophischen Charakter seiner
weitergesührten Lehre in einem Lichte hervortreten, worin von dem
„epikurischen Glaubensbekenntniß" nichts mehr zu sehen war.
Die Grundanschauung der Naturphilosophie Schellings. nämlich
die Idee des lebendigen Zusammenhangs und der Einheit aller natür
lichen Dinge, der Entwicklung, des organischen Stusenganges, der
stetigen Metamorphose u. s. s.. war dem Sinne Goethes völlig gemäß.
Selbst die ihm wenig genießbare, abstract philosophische Form der
Darstellung, die streckenweise im Schematismus sortlies, hinderte nicht,
daß Goethe den Zug der Verwandtschast mit Schelling lebhast empsand.
Schon den 27. Iuni 1798 hatte Goethe in einem Briese an den
Minister Voigt den Wunsch einer Berusung Schellings ausgesprochen.
„Schellings kurzer Besuch war mir sehr ersreulich; es wäre sür ihn
und uns zu wünschen, daß er herbeigezogen würde; sür ihn, damit er
bald in eine thätige und strebende Gesellschast komme, da er in Leipzig jetzt
ziemlich isolirt lebt, damit er aus Ersahrung und Versuche und ein
eisriges Studium der Natur hingeleitet werde, um seine schönen Geistes
talente recht zweckmäßig anzuwenden. Für uns würde seine Gegen
wart gleichsalls vortheilhast sein; die Thätigkeit des Ienaschen Kreises
würde durch die Gegenwart eines so wackren Gliedes vermehrt werden,
und ich würde bei meinen Arbeiten durch ihn sehr gesördert sein." „Er hat
mir persönlich in dem kurzen Umgang sehr wohl gesallen; man sieht, daß er
in der Welt nicht sremd ist; die Tübinger Bildung giebt überhaupt etwas
Ernstes und Gesetztes, und er scheint als Führer von ein paar jungen
Edelleuten selbst gesälliger und geselliger geworden zu sein, als die
jenigen zu sein pslegen, die sich in der Einsamkeit aus Büchern und
durch eigenes Nachdenken cultiviren. Ich nehme mir die Freiheit,
sein Buch »von der Weltseelee Ihnen als eigen anzubieten, es
enthält sehr schöne Ansichten und erregt nur lebhaster den Wunsch,
daß der Versasser sich mit dem Detail der Ersahrung immer mehr
und mehr bekannt machen möge."^
> Zwei ungebruckte Goethebriese, mitgetheilt von Burlharbt. Grenzboten III.
(1877.) S. 441 ff.
und erste Wirkungen.
talen Ietzt
Idealismus
beschästigte
und sich
der Deduction
Goethe mitdesdem
dynamischen
System des
Processes.
transzenden
Ueber
das erste schreibt er an Schelling den 19. April 1800: „Ich glaube
in dieser Vorstellungsart sehr viele Vortheile sür denjenigen zu ent
decken, dessen Neigung es ist, die Kunst auszuüben und die Natur zu
betrachten".' Ein halbes Iahr später äußert sich Goethe noch positiver:
„Seitdem ich mich von der hergebrachten Art der Natursorschung los
reißen und, wie eine Monade aus mich selbst zurückgewiesen, in den
geistigen Regionen der Wissenschast umherschweben mußte, habe ich
selten hierhin oder dorthin einen Zug verspürt; zu Ihrer Lehre ist
er entschieden. Ich wünsche eine völlige Vereinigung, die ich durch
das Studium Ihrer Schristen, noch lieber durch Ihren persönlichen
Umgang srüher oder später zu bewirken hoffe." ^ Diese Aeußerungen
waren nicht blos Goethesche Artigkeiten, sondern ernsthast gemeint.
Friedrich Schlegel hatte den 25. Ianuar 1800 ein langes Gespräch
mit Goethe und schrieb den solgenden Tag seinem Bruder: „von
Schellings Naturphilosophie spricht er immer mit besonderer Liebe ".^
Aus die Einladung des Dichters brachte Schelling die nächsten Weih
nachtsserien als Gast im Goetheschen Hause zu und erlebte mit ihm
den Anbruch des neuen Iahrhunderts; in der Neujahrsnacht war ein
großer Maskenauszug bei Hose, den Goethe entworsen hatte, und hier
vereinigten sich nach Mitternacht in einem Nebenzimmer zu einem
kleinen Gelage Goethe, Schiller und Schelling. '
mehr von einander trennen und zerstückeln. Die Idee der Einheit
und des Ganzen, die in dem Objecte selbst doch so einleuchtend vor
Augen lag, war den empirischen Natursorschern abhanden gekommen;
nur so weit die Mathematik die Objecte durchdrang, in der Astronomie
und mechanischen Physik, gab es in der Naturlehre ein Erkenntniß-
system. Lebhaster als je war jetzt auch in den physikalischen Gebieten
unter dem Antriebe des Zeitalters die Einheitstendenz und damit die
Empsänglichkeit sür speculative Ideen, das Bedürsniß nach einer neuen
Naturphilosophie erweckt worden. Diesem Drange, der sich in vielen
unbestimmt regte, in einigen schon ausgeprägter in einer vorgesundenen
Richtung hervortrat, kam Schelling wie der Erwartete entgegen und
gab ihm die Fassung.
Von der speculativen Seite her hatte Kant durch seine meta
physischen Ansangsgründe der Naturwissenschast den Anstoß zu einer
transscendentalen Ableitung der Naturphänomene, zu einer dynamischen
Bewegungslehre, zur Construction der Materie und der Bewegung
gegeben. Ein Landsmann Schellings, der namentlich später in der
mystischen
bergische Arzt
Ausartung
Eschenmayer,
der Naturphilosophie
damals (1798-1800)
sich hervorthat,
Physikus
der württem-
in Sulz,
> Versuch, die Gesetze magnetischer Erscheinungen aus Sätzen der Natur„
Metaphysik, mithin » prion zu entwickeln. Von C. A. Eschenmayer. Tübingen. 1798.
und erste Wirkungen. 4S
darin, daß er die verschiedenen Qualitäten der Materie aus die Grade
des Gleichsgewichts der beiden Grundkräste der Repulsion und Attraction
zurücksühren wollte, welche durch ihr Zusammenwirken die Materie
überhaupt ermöglichen. Es ist nicht in Abrede zu stellen, daß Eschen
mayer einen bewegenden Einfluß aus Schellings Lehre geübt hat,
namentlich durch die Disserenzen, die er hervorhob. Es waren besonders
drei Punkte, die zwischen ihm und Schelling streitig wurden: der erste
lag innerhalb der Naturphilosophie und betras deren mathematisches
Element, welches Eschenmayer sorderte und in Schellings Deductionen
vermißte; der zweite ging aus das Verhältniß der Transscendental-
philosophie; der dritte aus das Verhältniß der Philosophie überhaupt
zur Religion. Die zweite Frage hatte zur Folge, daß Schelling seinen
Aussatz „Ueber den wahren Begriss der Naturphilosophie" schrieb, der
in dem Fortgange der letztern eine beachtenswerthe Stelle einnimmt;
der dritte Punkt wurde zur ernsthasten Streitsrage und veranlaßte
Schelling zu seiner Schrist über „Philosophie und Religion", die schon
jenseits der Ienaschen Periode liegt.
Von der physikalischen S.Seite
I. W.
herRitter.
schienen die Entdeckungen Gal-
vanis plötzlich ein Licht über das Geheimniß des Lebens verbreitet
und das Band gesunden zu haben zwischen der unorganischen und
organischen Natur. Wir werden später sehen, wie ties die beginnende
Naturphilosophie von dieser Entdeckung ersaßt wurde. Ein Pharmaceut
aus Schlesien, Iohann Wilhelm Ritter, den Wissensdurst und natur
wissenschastliche Selbstbildung aus der Apotheke aus die Universität
getrieben hatten, suchte, angeregt durch die Ideen der neuen Natur
philosophie, den Beweis zu sühren, daß ein beständiger Galvanismus
den Lebensproceß im Thierreich begleite. ^ Er wollte zeigen, aus
welchen Bedingungen sich die galvanische Kette construire, daß diese
Bedingungen im thierischen Körper stattsinden, daß der letztere »ein
System unendlich vieler aus die mannichsaltigste Art in und durch
einander greisender, beständig thätiger galvanischer Ketten" sei, daß
die galvanische Action auch außerhalb des thierischen Körpers möglich
sei in Ketten, deren Glieder keine thierischen Theile enthalten, daß der
' Beweis, daß ein beständiger Galvanismus den Lebensproceß in dem Thier-
reich begleite. Nebst neuen Versuchen über den Galvanismus. Von I. W. Ritter.
Weimar. 1798.
46 Schellings Ansänge
der, wenig älter als Schellina., sern von Deutschland und dessen geistigen
Bewegungen ausgewachsen, die religiöse, von der Mutter ihm angeerbte
Gemüthsart mit einem unwiderstehlichen, aus der eigenen Natur ent
sprungenen Triebe nach lebendiger Naturerkenntniß verband. An ihm, den
die Natursorschung geistig genährt hatte, läßt sich die Wirkung der Schel-
lingschen Naturphilosophie in ihrer ersten Kraft am reinsten, am
wenigsten vermischt mit anderen Zuthaten erkennen. Dieser Mann ist
Henrik Stessens. Er war den 2. Mai 1773 zu Stavanger in
Norwegen geboren und srühzeitig mit den Eltern nach Dänemark ge
kommen; in Kopenhagen vollendete er seine Schule und erwarb sich
bald den Rus eines wohlunterrichteten Mineralogen. Die naturwiffen
schastlichen Studien hatten damals noch keinen Platz an der Universität,
sondern wurden von einer Gesellschast geleitet, aus deren Kosten Steffens
eine Reise nach Bergen unternahm, um an der Westküste Norwegens
Mollusken zu sammeln. Aus der Rücksahrt litt er Schiffbruch und
lebte einige Iahre, arm und verlaffen, erst in Hamburg, dann bei
seinem Vater, der selbst nicht beffer daran war, in Rendsburg. Im
Iahre 1796 habilitirte er sich als Privatdocent in Kiel und schrieb
hier
logische
seineStudium",
erste deutsche
die Schrist
in demselben
„über dieIahre
Mineralogie
erschienund
alsdas
Schellings
minera'
Ideen. Bevor er diese kennen lernte, hatte ihn schon die Macht der
Speculation und der Drang ergriffen, „von der Einheit, von der
Totalität des Daseins auszugehen und alles nur in Beziehung aus
diese zu betrachten". > Er hatte durch Mackensen von Kant, durch Rist
von Fichte gehört, ohne damals den Eingang in die kritische Philo
sophie zu sinden. Da sielen Iacobis Briese über die Lehre Spinozas
in seine Hände und wirkten epochemachend in seinem Leben. Hier sindet
er die Einheitslehre, die er sucht. Zum ersten male sühlt er die
Gewalt des philosophischen Denkens; doch ist etwas in diesem System,
das ihn nicht besriedigt und die Sehnsucht nach höherer Offenbarung
weckt. „Die lange sür mich verschwundene Beatrice hatte mir den
Virgil gesandt." Er erkennt die Kluft zwischen einer solchen Einheit der
Dinge und deren Mannichsaltigkeit und Fülle, zwischen dem leblosen
Princip und der lebendigen Welt. Als Steffens vom Grabe seines
Vaters nach Kiel zurückkehrt, sindet er Schellings Ideen. „Die Ein
leitung zu dieser Schrift hat mein ganzes Dasein elastisch gehoben.
Schelling viel, ja alles, aber dennoch ist es mir klar, daß durch meine
Beiträge ein neues Element in die Naturphilosophie hineinkam. Auch
dieses verdankte ich einem andern Lehrer, Werner nämlich." „Das
ganze Dasein sollte Geschichte werden, ich nannte sie die innere Natur
geschichte der Erde. Es war nicht blos von jenem Einfluß der Natur»
gegenstände aus menschliche Begebenheiten, durch welche sie, wie Schel
ling äußerte, einen ächt geschichtlichen Charakter annehmen, die Rede;
der Mensch selbst sollte ganz und gar ein Product der
Naturentwicklung sein. Nur dadurch, daß er als ein solches
nicht blos theilweise, sondern ganz hervortrat, konnte die Natur ihr
innerstes Mysterium in dem Menschen concentriren. Mir ward es
immer klarer, daß die Naturwissenschaft selbst, wie sie ein durchaus
neues Element in die Geschichte hineingebracht hatte, durch welches
unsere Zeit sich von der ganzen Vergangenheit unterschied, die wichtigste
aller Wissenschasten, die Grundlage der ganzen geistigen Zukunst des
Geschlechts werden müsse." „Alle Erscheinungen des Lebens in der
Einheit der Natur und der Geschichte zu verbinden und aus diesem
Staudpunkte der Einheit beider die Spuren einer göttlichen Absichtlich
keit in der großartigen Entwicklung des Alls zu versolgen, war die
offenbare Abssicht dieser Schrist.'"
Steffens hatte im Sommer 1799 Iena verlassen. Die Beiträge
erschienen
sophischen Kreisen
1801 undbegeisternd.
wirkten Als
höchster anregend,
aus seiner in
nächsten
den Reise
naturphilo-
Bam
berg berührte, wurde dort seine Anwesenheit als ein Fest geseiert.
Während er in Freiberg war, erschienen Schellings Einleitung zum
Entwurs, das System des transscendentalen Idealismus und die Dar
stellung des gesammten Systems. Dazwischen sällt ein Besuch, den
er zur Weihnachtszeit 1800 in Iena und Weimar machte, und er ge
denkt unter seinen Erlebnissen gern jener Neujahrsnacht, die er damals
im Weimarischen Schlosse mit Goethe, Schiller und Schelling ver
brachtes Von jetzt an erscheint seine Freundschast mit dem letzteren
in der vertrautesten Form. Das begeisterte Verständniß, womit er
jede Schrist Schellings sich aneignet, die Spannung, mit der er sie
erwartet und liest, mußten aus Schelling selbst belebend und steigernd
zurückwirken. „Die Einleitung zu Ihrem Entwurs", schreibt Stessens
im September 1799 von Freiberg aus, „ist mir äußerst interessant
und wichtig." „Ich gehe den Entwurs mit der Einleitung jetzt zum
dritten mal durch und erstaune über die Tiese und den Reichthum des
Systems." „Hier wo ich, von allen Zerstreuungen, von allem Ge
räusch entsernt, meine alten Träume über die Natur wieder hervor
ruse, meiner vormals gebrauchten Bildersprache mich erinnere und die
Auslösung aller dieser wunderbaren Räthsel in Ihrer Naturphilosophie
sinde, hier sühle ich so ganz deutlich, daß ich Ihr Schüler werden
mußte." l Das System des transscendentalen Idealismus versetzt ihn
in einen Rausch des Entzückens. „Nichts hat mich so begeistert, wie
Ihre Transscendentalphilosophie. Ich habe sie 4 - 5 mal gelesen und
wieder gelesen. Es ist das Umsassendste, das ich kenne, das wahrste
System, ein erhabenes Kunstwerk, immer slieht sich, was sich suchen
soll, ich gerieth in die sürchterlichste Spannung, verlor mich, um die
Welt zu behalten, und wieder die Welt, um mich zu behalten, vergrub
mich immer tieser und tieser in die Hölle der Philosophie ein. um
von dort aus den Himmel zu schauen, weil ich ihn nicht, wie der
dichtende Gott, unmittelbar in meinem Busen habe. Hier sah ich nach
und nach die Sterne hervortreten, bis plötzlich die göttliche Sonne
des Genies ausstieg und alles erhellte. Selten wurde ich in der letzten
Zeit gerührt. Hier aber ergriff mich eine wunderbare Rührung.
Thränen der heiligsten Begeisterung stürzten aus meinen Augen, und
ich versank in der unendlichen Fülle der göttlichen Erscheinung. Nicht
eine Stelle war mir dunkel. Es ist das wichtigste Geschenk, der
transscendentale Idealismus. Und hier lege ich - ich dars mit
sprechen - den Kranz vor Ihre Füße, den ein künstiges Iahrhundert
Ihnen sicher reichen wird."'
In dem nächsten Briese, veranlaßt durch litterarische Reizungen,
von denen später die Rede sein soll, giebt Steffens ein offenes Be-
kenntniß über sein Verhältniß zu Schelling, und wie ties er sich als
dessen Schüler sühlt. „Ich lernte Sie kennen. Es war, als hätten
Sie sür mich geschrieben, durchaus sür mich. Wie belebte sich die
Hoffnung, meine verlorene Iugend wieder zu erleben! Wie klar war
mir alles, wie hell, wie einleuchtend ! Es war natürlich, daß ich Ihre
Philosophie mit einer stürmischen Unruhe ergriff, daß ich das ver
worrene Gewebe, das mich an die Welt sesselte, nicht aus einmal zer
reißen konnte. Aber allmählich ordnete sich das Meiste; was mir im
' Ebendaselbst. I. S. 309 ff. Der Bries ist von Dresden den 1. Sept. 1800.
- - Ebendas. I. S. 326 ff.
54 Schellings Ansänge
' Vgl. Haym, die romantische Schule. S. S96. - ' Aus Schellings Leben.
I. S. 244. Vgl. III. S. 170.
56 Karoline Echlegel,
Fünstes Kapitel.
Haroline Schlegel.
I. Charakteristik.
1, Ihre Bedeutung sür Schelling,
Wir haben die bedeutende Frau schon einigemale genannt, die
Schelling in Dresden kennen gelernt hatte und mit welcher ihn der
gemeinschastliche Ausenthalt in Iena, die Gastsreundschaft des Hauses
und der Zug verwandter Naturen bald näher zusammensührte. Wird
das Verhältniß beider, das in seinem Verlaus alle Arten der Wahl
verwandtschast durchlebte und zuletzt eine Ehe auslöste, um selbst eine
zu werden, nur von außen gesehen, so tritt der anstößige und dem
öffentlichen Anblick am ersten ausgesetzte Charakter desselben in den
Vordergrund, und es erscheint als eine jener Verbindungen, an denen
die sittlich ausgelockerte Zeit und besonders deren geniale Lebenskreise
reich genug waren. Da wir aber aus den jüngst veröffentlichten
Briesen Karolinens in die innere Natur jenes Verhältniffes einen sehr
genauen Einblick gewonnen haben . so wollen wir es hier als einen
Bestandtheil der Lebensgeschichte Schellings darstellen, die man sonst
gerade in ihrer mächtigsten Zeit nur mangelhast kennt. Was der Er
süllung jener geistig ausgeregten und von gewaltigen Entwürsen be
wegten Iahre, die seinen Ruhm begründet haben, noch sehlen konnte,
gab ihm die Theilnahme dieser Frau ; in ihr sand er ein Verständniß
und eine Empsänglichkeit sür sein ganzes geistiges Wesen, die ihn hob
und gleichsam in dem Kern seiner Natur bestätigte. Ich spreche von
der Empsänglichkeit, welche nur eine Frau besitzt und geben kann, und
die sür den Ausschwung des männlichen Geistes bewegender und zugleich
beruhigender und sicherer ist, als jede Huldigung der Welt: eine Em
psänglichkeit, die den Mann nicht blos in dem, was er leistet und er
strebt, sondern in dem, was er ist vermöge seiner höchsten Naturbe-
stimmung, in seiner eigensten persönlichsten Art ersaßt und selbst nur
möglich ist durch die innigste, persönlichste Theilnehmung, durch die Liebe,
die auch in der Blendung hell sieht und vielleicht die Schlacken ver
kennt, aber nie das Gold. Wenn eine Frau diesen hellen Blick sür
Karoline Schlegel. 57
eine hochbegabte männliche Natur hat. den Sinn sür den Dämon
dieses Mannes, wodurch sie unmittelbar weiß, „was Gutes in ihm
lebt und glimmt", so kann sie wie eine Muse aus ihn wirken. Eine
solche Wirkung hindert nicht die Ungleichheit des Alters und die
Trübung der Schicksale. Und Schelling bei seiner ganzen Geistesart
bedurfte eine Muse und konnte sie wecken. Die einzige, die er gehabt
hat, war die Frau, von der wir reden.
2. Geistesart.
Karoline Schlegel gehörte, um mit Iean Paul zu reden, zu den
geflügelten Naturen, die den Sinn sür Poesie mit aus die Welt
bringen. Der natürliche Flug ihres Geistes trieb sie weiter, und sie
suchte aus poetischem Drange den Eingang zu den höchsten Gebieten
speculativer Erkenntniß. Hier kam ihr Schelling entgegen in der
ganzen Frische und Fülle seiner ersten Krast, siegreich im philosophi
schen Wettlaus, große Erwartungen ersüllend, größere spannend. So
ersaßte sie ihn und lebte mit ganzer Seele in seinen Arbeiten und
Ausgaben. Sie sühlte sich erhöht und in ein neues Element empor
gehoben, aus dem sie aus die poetischen Geschäste, die sie mit Schlegel
betrieben, herabsah wie aus ihre geistige Hausarbeit, die sie schus, wie
der Vogel sein Nest. „Schlegel", schreibt sie in einem ihrer Briese an
Schelling, „ermangelt nicht zu bemerken, wenn ich mich doch nur jemals
einer Sache so ernstlich gewidmet hätte, die seine Beschästigungen an
ginge! Was wäre das denn auch wohl gewesen außer dem, das
ich nicht zu lernen brauchte, die Poesie!'" Von der bloßen
ästhetischen Kritik vermochte sie nicht zu leben. Sie begehrte den
schaffenden Geist, das lebendige Kunstwerk und begriff, was Schelling
lehrte, daß dieses die höchste Offenbarung der Natur und der Welt
sei. In einem der herrlichsten Worte ihrer Briese läßt sie die Mahnung
an Schlegel ergehen: es dauert mich, daß ich mir nicht einen Revers
von Dir habe geben lassen, Dich aller Kritik sorthin zu enthalten.
O mein Freund, wiederhole es Dir unaushörlich, wie kurz das Leben
ist, und daß nichts so wahrhast existirt als ein Kunstwerk. Kritik
geht unter, leibliche Geschlechter verlöschen, Systeme wechseln, aber wenn
die Welt einmal ausbrennt, wie ein Papierschnitzel, dann werden die
Kunstwerke die letzten lebendigen Funken sein, die in das Haus Gottes
eingehen ^ dann erst kommt Finsterniß." ^
' Karoline. II. S. 21. - ' Ebendaselbst. II. S. 39.
58 Karoline Schlegel.
October 1792 wurde Mainz von Custine eingenommen. Ietzt kam hier
die sranzösisch und republikanisch gesinnte Partei zur Herrschast, und
Forster, einer ihrer Führer und Vicepräsident des Mainzer Konvenls,
ging im März 1793 nach Paris, um dort die Einverleibung des
deutschen Landes in die sranzösische Republik zu bewirken. Seine
Frau hatte schon gegen Ende des vorhergehenden Iahres Mainz verlassen.
Der Strudel der Ereignisse ließ Karolinen nicht unberührt. Sie
sympathisirte mit der Revolution, den republikanischen Ideen, dem
sranzösischen Freiheitskriege und stand in den Mainzer Bewegungen
mit ihren Gesühlen aus Forsters Seite, billigte seine Agitation sär
die sranzösische Sache und theilte seine Schwärmerei und Verblendung,
Sie sah in der Mission, die er übernahm, weder den politischen In-
thum noch die Versündigung an dem eigenen Vaterlande. Ihr Inter
esse sür Forster war gemischt aus Bewunderung und Mitleid und
hatte vorübergehend einen zärtlichen, aber wohl nie einen leidenschast
lichen Charakter. Das Verhältniß der beiden Frauen war seltsamer
Art, von beiden Seiten aus Neigung und Abneigung gemischt i sie
waren Töchter berühmter Göttinger Prosessoren, selbst geistig geltende
Naturen, die in den Kreisen der Universitätsstadt glänzen konnten,
durch srühe Freundschast verbunden, durch srühe Eisersucht gegen
einander
städtchens,gespannt.
Therese Karoline
den berühmten
hatte den
Weltreisenden
obskuren Arzt
geheirathet;
eines Winkel-
beide
hatten ihre Ehe ohne Neigung geschloffen. Ietzt trat die eine Freundin
als Wittwe in das Haus der anderen und sand eine zerrüttete Ehe;
ich weiß nicht, ob sie dazu beitrug, die Klust zu erweitern, ob in
diesen Verhältnissen, wie sie lagen, überhaupt etwas zu verbessern oder zu
verschlimmern war; genug sie nahm auch in den häuslichen Wirrniffen
die Partei Forsters, tröstete ihn in seiner Verlassenheit und blieb in
Mainz, um, bei ihm ausharrend, „das Amt einer moralischen Kranken-
wärterin" zu üben." > Das Unglück dieses bedeutenden Mannes rührte
sie zu zärtlicher Theilnahme, aber sie erkannte auch in der Schwäche
seines Charakters die Schuld. „Es ist der wunderbarste Mann", schrieb
sie in dieser Zeit (December 1792) an Meyer, „ich habe niemand so
bewundert, so geliebt und dann wieder so gering geschätzt." Das Un»
seste und Unmännliche in Forsters Wesen war ihr zuwider. „Wie
kannst Du denken", sagt sie später zu demselben Freunde in einem
Bries aus dem März 1794, „daß Forster je ein Mann geworden
wäre? Und Männer, die nicht Männer sind, machen auch des vor
züglichsten Weibes Unglück."'
Ein Mann wie Forster konnte ihr keine Stütze sein, sie sühlte
sich in Mainz bald gänzlich verlassen und sand niemand, der diese
hülflose , nach Lebensglück durstige und dasür wie geschassene Frau
mit starkem Arm an sich gezogen und gerettet hätte. Bewerbungen
um ihre Hand hatte sie gehabt und ausgeschlagen. Es waren nicht
die rechten gewesen. Unter ihren männlichen Freunden gab es zwei,
deren Hand sie ergriffen hätte, wenn sie gekommen wären. Der eine
war der ihr und ihrem elterlichen Hause besreundete Fr. Ludwig Wilh.
Meyer, Custos an der Universitätsbibliothek in Göttingen, als Karo
line von Clausthal dorthin zurückkehrte, der spätere Biograph des be»
rühmten Schauspielers Fr. Schröder : den anderen Namens Tatter hatte
sie in der ersten Zeit ihrer Wittwenschast kennen gelernt und eine
leidenschastliche Neigung sür ihn gesaßt; er war Erzieher Hannover
scher Prinzen, begleitete den Herzog von Susser aus Reisen und wurde
später der Vertraute des Herzogs von Cambridge. * Beide Männer
hatten keine Berühmtheit, die Karolinen blenden konnte, sie waren
energische Naturen, und diese Männlichkeit, die sie in Forster vermißte,
war es, die sie hier anzog und namentlich an Tatter sesselte. Diesen
Mann hatte sie innerlich erwählt, sie hatte im Stillen aus ihn gehofft
und war glücklich, als er Ende September 1792 einige Tage nach
Mainz kam und sie dort besuchte. ^ Er kam und ging; ihre Hoff
nungen blieben unersüllt, sei es nun, daß die Ehe mit seinen Lebens-
plänen nicht stimmte, oder daß ihm diese Frau nicht die rechte Lebens
genossin zu sein schien. Als sie im December ängstlich über ihre Zu
kunst an ihn schrieb, antwortete er, er sei in Verzweislung, nichts sür
sie thun zu können. Die Gemüthsstimmung, in der sie war, schildert sie
einige Monate später dem anderen Freunde: „der einzige Mann, dessen
Schutz ich je begehrte, versagte ihn mir". „Meine Geduld brach, mein
Herz wurde srei, und in dieser Lage, bei solcher Bestimmungslosigkeit
meinte ich nichts Besseres thun zu können, als einem Freunde trübe
Stunden zu erleichtern und mich übrigens zu zerstreuen."^
' Ebendas. I. S. 113 ff. S. 143. - « Vgl. Haym. Ein deutsches Frauen»
leben aus unserer Litteraturblnthe. Preuß. Iahrb. November 187 l. - ' Karo»
line. I. S. 105. Br. an Meyer vom 6. Oct. 1792. - « Ebendas. I. S. 127.
Br. an Meyer vom 15. Iuni 1793.
«2 Karoline Schlegcl,
beschästigen, damit Sie im Staube nicht vergehn, und dann ein Herz
voll der tiessten Indignation gegen die gepriesene Gerechtigkeit, die mit
jedem Tage durch die Klagen Unglücklicher vermehrt wird, welche ohne
Untersuchung dort schmachten, wie sie von ungesähr ausgegrissen wurden
^ muß ich nicht über Euch lachen? Sie scheinen den Ausenthalt in
Königstein sür einen kühlen Sommertraum zu nehmen, und ich habe
Tage da gehabt, wo die Schrecken und Angst und Beschwerden eines
einzigen hinreichen würden, ein lebhastes Gemüth zur Raserei zu
bringen." Und an demselben Tage, so elastisch empsindet diese Frau,
schreibt sie an Meyer: „Ich habe zwei schreckliche Monate durchlebt,
aber gieb mir morgen Ruhe und Verborgenheit, so vergesse ich
alles und bin wieder glücklich.'"
Nachdem sie noch einige Wochen zu Kronberg eine Art Stadt
arrest gehabt, wurde sie aus die Fürbitte ihres jüngeren Bruders durch
einen Besehl des Königs von Preußen in Freiheit gesetzt, weil „sie
nichts verschuldet habe".^ Indessen war ihr politischer Rus so ver
dächtig und anrüchig geworden, daß ihr wiederholt, als sie besuchs
weise nach Götti»gen kam, das zweite mal noch im September 1800,
das Kuratorium der Universität den Ausenthalt in ihrer Vaterstadt
untersagte.
Als sie, zweisach in ihrer bürgerlichen Existenz vernichtet, die
Hast verließ, sand sie einen Mann, der an ihre Seite trat und groß-
müthig, wenig bekümmert um das Urtheil der Welt, ihr die Hand
zum Schutz und zur Stütze reichte: August Wilhelm Schlegel.
Schon in Göttingen hatte Schlegel während seiner letzten Studien
zeit die junge (vier Iahr ältere) Wittwe kennen gelernt und war durch
ihren persönlichen Zauber, durch ihre geistige Macht und Bildung ge
sesselt worden; er hatte, als sie nach Marburg ging, brieslich mit ihr
verkehrt und wiederholt um ihre Hand geworben. Sie liebte ihn nicht
und spottete gegen ihre Schwester in einem Briese jener Zeit über den
Gedanken, ihn zum Manne zu nehmen. „Er schrieb mir dreimal und
wie!" „Schlegel und ich! ich lache, indem ich schreibe! Nein, das ist
sicher - aus uns wird nichts. Daß doch gleich etwas werden muß."
Das Bild eines Anderen ersüllte ihr Herz und ihre Phantasie. „Ich
habe", schrieb sie damals der Schwester, „einen Lorbeerstrauch, den ich
' Karoline. I. S. 121 ff. S. 124. - ' Ebendas. I. S. 129. (Der Besehl
ist vom 4. Iuli 1793.)
64 Karoline Schlegel.
sür einen Dichter groß ziehe, sag' das Schlegeln — und ein himm
lisches Reseda-Sträuchelchen, eine Erinnerung - sag> das Tattern.">
Indessen blieb sie mit Schlegel in sreundlichem Brieswechsel, auch
nachdem er als Hosmeister nach Amsterdam gegangen war und hier
neue Heirathsgedanken gesaßt hatte. Da kam die Zeit ihrer Gesangen
schast, aus die erste Nachricht hatte sich Schlegel an Wilhelm von
Humboldt gewendet, um durch dessen Vermittlung die Hülse des
Coadjutor Dalberg zu gewinnen. ^ Nach ihrer Besreiung kam er und
sührte sie unter seinem Schutze nach Leipzig, wo sie die ersten Tage
bei dem Buchhändler Göschen, die solgenden Monate in völliger Ver
borgenheit in dem Altenburgischen Städtchen Lucka im Hause eines
Arztes zubrachte. Schlegel, um allen Gerüchten zuvorzukommen, hatte
die verlassene und erniedrigte Frau sür die seinige erklärt und. da
er nach Amsterdam zurückkehren mußte, sie dem Schutz und der Obhut
seines Bruders anvertraut, der damals in Leipzig lebte. Die Briese,
welche der letztere während dieser Zeit nach Amsterdam schrieb, ent
halten die Nachrichten, die wir oben erwähnten. Näheres über die
Mainzer Erlebnisse ist auch ihm nicht gesagt worden, sein unbegrün
deter Verdacht ging aus Forster. Der Zustand, in dem sich Karolinc
damals besand, war höchst elend. Zu der kümmerlichen Lage, zu den
äußeren Entbehrungen kamen Reue und Angst. „Sie ist traurig und
jammervoll, mehr als sie vielleicht schreibt, wie ihr Anblick und viele
kleine Züge verrathen." Briese aus Mainz laffen besürchten, daß ihre
Lage kein Geheimniß mehr sei; „sie war vor Schrecken und Schmerz
betäubt", schreibt Friedrich den 28. August 1793. „konnte lange Zeit
nur einzelne Worte hervorbringen, sie hat die Tage über unaussprech
lich gelitten, ihren eigenen Worten nach mehr als je in ihrem Leben."
Sie sah den Kummer ihrer Mutter, die Versolgung der Böhmerschen
Familie, vielleicht die Entreißung ihrer Tochter vor Augen und wußte
vor Schmerz sich nicht zu saffen.
Es ist nicht blos Mitleid sür die unglückliche Frau, das den
jüngeren Schlegel einnimmt, es ist zugleich ihr Zauber, der ihn be
strickt. Er hatte sie schon aus den Briesen, die der Bruder ihm zu
sendete, kennen gelernt; den 2. August 1793 machte er in Leipzig ihre
persönliche Bekanntschast. „Der Eindruck, den sie aus mich gemacht
hat, ist viel zu außerordentlich, als daß ich ihn selbst schon deutlich
übersehen und mittheilen könnte." „Ich schreibe Dir nichts weiter über
sie, keine Beurtheilung, keine Erzählung, keine Vermuthung. Alles,
was ich noch sagen könnte, würde verworren, oberslächlich sein, und
vielleicht könnte ich in Gesahr kommen, mich schwärmerisch auszudrücken,
und mir deucht, sür sie zu schwärmen heißt sich an ihr versündigen.
Vielleicht gelingt es mir, sie gleich ohne Verblendung zu sassen." „Die
Ueberlegenheit ihres Verstandes über dem meinigen habe ich sehr srüh
gesühlt. Es ist mir aber noch zu sremd, zu unbegreislich, daß ein
Weib so sein kann, als daß ich an ihre Offenheit, Freiheit von Kunst
recht sest glauben dürste." „Ich bin gewiß, daß man wahr gegen
sie sein dars, und größeres läßt sich von keinem Menschen sagen."
„Ihre Urtheile über Poesie sind mir sehr neu und angenehm. Sie
dringt ties ins Innere, und man hört das auch aus ihrem Lesen, die
Iphigenie liest sie herrlich. Wenn ihr Urtheil rein wäre, so könnte
es vielleicht nicht so unaussprechlich wahr und ties sein. Sie sindet Lust
an den Griechen, und ich schicke ihr immer einen über den andern."
„Mein Zutrauen zu ihr ist ganz unbedingt. Sie ist nicht mehr die
einzige Unersorschliche, von der man nie aushört zu lernen, sondern
die Gute, die Beste, vor der ich mich meiner Fehler schäme." ^
Es sehlte nicht viel, daß seine leidenschastliche Verehrung dieser Frau
die Grenzen der Treue gegen den Bruder überschritt, aber er hielt sich zu
rück und machte sich daraus eine Tugend. Die Wirkung, die sie aus ihn
gehabt, war dauernd. In seinem späteren Liebesroman Lucinde hat er,
wie Haym gewiß mit Recht vermuthet, das Bild Karolinens vor Augen
gehabt in der Schilderung der Freundin, „die einzig war und die
seinen Geist zum ersten mal ganz und in der Mitte tras", „sie hatte
gewählt und hatte sich gegeben; ihr Freund war auch der seinige und
lebte ihrer Liebe würdig". Hier ist dieses Bild Karolinens, wie Fried
rich Schlegel sie sah. „Sie war heiter und leicht in ihrem Glück", -
„überhaupt lag in ihrem Wesen jede Hoheit und jede Zierlichkeit, die
der weiblichen Natur eigen sein kann, jede Gottähnlichkeit und jede
Unart, aber alles war sein, gebildet und weiblich. Sie konnte in der
selben Stunde irgend eine komische Albernheit mit dem Muthwillen
und der Feinheit einer gebildeten Schauspielerin nachahmen und ein
erhabenes Gedicht vorlesen mit der hinreißenden Würde eines kunsst-
Sechstes Capitel.
Karolinens Verbindung mit Schelling.
Als Fichte nach Berlin gegangen war und dort mit Fr. Schlegel
zusammenlebte, wollte man auch die Ienaschen Freunde, das Schlegelsche
Ehepaar und Schelling, zur Uebersiedlung bewegen, um in Berlin
gemeinschastlich Haus zu halten. „Wir gehören doch alle", schreibt
Friedrich an seine Schwägerin, „zu der einen Familie der herrlichen
Verbannten." Der Plan kam nicht zu Stande, wenigstens , nicht in
Berlin; dagegen vereinigten sich die Freunde, Fichte ausgenommen,
bald in Iena, und ihr Sammelpunkt war das Schlegelsche Haus. Hier
waren Schelling und die Familie Paulus während des Sommers 1799
tägliche Pensionsgäste an Karolinens Tisch, Ansangs September kam
Fr. Schlegel von Berlin und im solgenden Monat seine Freundin
Dorothea Veit. Aus den Briesen, die Karoline damals an ihre Tochter
Auguste nach Dessau schreibt, sieht man, welche Neigungen und Ab
neigungen in dem kleinen Kreise spielen, wie die Zielscheibe der letzteren
namentlich Schiller ist, und aus welche Weise man sich in dieser von
persönlichen Assecten übler Art keineswegs sreien Antipathie Genüge
that. Als ob sie eine lustige und gute That zu berichten hätte, erzählt
sie der Tochter, wie Mittags den 20. October 1799 Fr. Schlegel und
Dorothea Veit. Wilhelm Schlegel und sie selbst nebst Schelling bei
sammen saßen und sich an dem eben erschienenen Musenalmanach er
götzten: „aber über ein Gedicht von Schiller, das Lied von der Glocke,
sind wir gestern Mittag sast von den Stühlen gesallen vor Lachen, es
ist K Is Voß, K la Tieck, K la Teusel, wenigstens um des Teusels zu
werden".' Ging doch das von Haß verblendete Urtheil gegen Schiller
in dem Schlegelschen Kreise so weit, daß man sich sogar den Wallen
stein weglachen wollte!
Was die persönlichen Verhältnisse der romantischen Freunde be
tras, so sehlte neben den Wahlverwandtschasten auch nicht die Abstoßung,
die bald zwischen den Frauen hervortrat, selbst die Brüder sür einige
Zeit entsremdete und den ersten Mißton in die Schlegelsche Ehe brachte.
Um so stärker sühlte sich Karoline zu Schelling hingezogen. Alles,
was ihn angeht, erregt ihre Theilnahme; die Ankunst seines Bruders,
der in Iena Medicin studiren soll, erscheint in ihren Briesen wie ein
Ereigniß. „Schellings Bruder ist seit gestern da, aber noch nicht hier
gewesen, denn er ist vom Postwagen gesallen und noch stupide. Er
soll größer sein als Schelling und erst sechszehn Iahr." „Ach Gott,
Den 12. Iuni reisten die Frauen nach Bocklet. Hier erkrankte
Auguste an der Ruhr; der Arzt, der sie behandelte, war der Ober
chirurg Büchler aus Kissingen, sie starb nach zwöls Tagen (den 12.
Iuli) trotz den sichersten Hoffnungen, die der Arzt noch kurz vor ihrem
Tode gegeben. Schelling war in den letzten Tagen zugegen und traute
sich medicinisches Urtheil genug zu, um in den verordneten Mitteln
einige den Opiaten beigemischte schädliche Bestandtheile zu erkennen,
die er durch eigene Recepte entsernte. Ietzt suchte der Arzt zu seiner
eigenen Deckung die Ursache des Todes aus diesen Eingriff in seine
Behandlung zu schieben, und es verbreiteten sich üble Gerüchte, die
später zu den seindseligsten Angriffen gegen Schelling gebraucht wurden.
Schlegel, in seiner Art, widmete dem Mädchen ein Todtenopser in
Sonetten, deren eines „Schwanenlied" hieß, ihr letztes Lied war der
König von Thule gewesen:
Vom Becher, den die Wellen eingeschlungen,
Als
Der aus
alte dem
KönigPsand,
sterbend
das sich
Liebberauschet,
und Treu getauschet,
krästigt und treibt seinen Ehrgeiz, spornt und inspirirt seine Thaikrast.
Ihre begeisterte, von ihm gleichsam trunkene Liebe bringt auch in seine
Gesühle die Gluth der Erwiderung; sie wollte diesen Mann in ihrem
Lebenskreise sesthalten, und es war bald ein von beiden empsundener
Wunsch, sich anzugehören und sest verbunden zu sein, ohne sich einer
Untreue schuldig zu machen. Warum sollte nicht der so viel jüngere
Mann, da er ihr Gatte nicht sein konnte, ihr Sohn werden? Etwas
in ihrer Zärtlichkeit sür ihn war mütterlicher Art, und wenn auch
noch andere Empsindungen damit sich mischten, so lag eben in der
Mischung die vielleicht täuschende Unschuld. Der Gedanke, Schelling
mit der Tochter zu verheirathen, entsprang gewiß zuerst in der Mutter,
die das Spiel der Leidenschasten zu lenken, ihren Wunsch Schelling
mitzutheilen, in der Tochter zu wecken und dieser, wie es einem über
legenen mütterlichen Einflusse leicht gelingt, ihre Bewunderung sür den
Mann einzuslößen wußte. Daß Karoline wirklich Vorstellungen dieser
Art in der Tochter genährt haben muß, zeigen deutlich genug die
Briese, die sie ihr im Herbst 1799 nach Dessau schreibt. „Was Du
letzt gegen Schelling sagtest, war gar nicht hübsch; wenn Du Dich
gegen ihn sträubst, so muß ich glauben, daß Du aus Dein Mütterchen
eisersüchtig bist. Er ließ Dir das mit der spröden Mamsell natürlich
nicht sagen, das war ich, und was ist denn unverständlich darin? Hast
Du nicht zuweilen Manieren, wie ein saurer Apsel? Einen Beweis
von Schellings Liebenswürdigkeit muß ich Dir erzählen, er hat mir
heimlich schwarze Federn aus meinen Hut kommen lassen, der mir recht
wohl steht. Nun denk! Ich war ganz verblüfft."
Im Sommer des solgenden Iahres, als Schelling die Frauen in
Bamberg verlassen hat, schreiben ihm beide gemeinschastlich, in der
vertrautesten Art, im Gesühl ihrer Zusammengehörigkeit, die Tochter
lebt in den Empsindungen der Mutter, sie kennt das Zauberwort, das
sie glücklich macht: „wiesehr er Dich liebt", sie schreibt an ihn, harm
los wie ein Kind, und kundig wie eine Eingeweihte; jetzt dankt sie ihm,
daß er ihr jenen mächtigen Talisman sür die Mutter gegeben, jetzt
nennt sie sich „sein armes Kind", „leb recht wohl, Du Mull, und
vergiß das Uttelchen nicht, das so gern mit Dir spazieren ginge". Die
Art ihrer Vertraulichkeit, der Ton der Briese, der ungehemmte Aus
druck der Empsindungen Karolinens, selbst die äußere Weise des Ver-
ihren Verlust auch als den Karolinens empsinden. Man kann sich
vorstellen, wie aus solchen Stimmungen jener traurige und peinliche
Gemüthsausruhr hervorging, in welchem Schelling damals den ein
samen Winter in Iena verlebte, doppelt gequält: von Vorwürsen bei
dem Andenken Augustens, von schmerzlichster Sehnsucht bei dem Ge
danken an Karoline.
Seine Briese an die letztere waren ohne Zweisel Bekenntnisse dieser
Art: erkennbar, obwohl wir sie nicht besitzen, aus den Antworten Karo
linens, aus der Art, wie sie ihn tröstet. Sie wußte leichter als er
den Druck zu heben, den Schmerz zu „poetisiren", den Schatten weg'
zuleuchten. „Unser Kind weicht mir keinen Augenblick von der Seite",
schreibt sie den 13. Februar 1801, „ich kenne kein Vergessen, ob ich
äußerlich schon lebe, wie ein anderer. Ia, Du weißt es. liebe Auguste,
wie Du bei Tage und bei Nacht vor Deiner armen Mutter stehst, die
kaum mehr arm zu nennen ist. denn sie blickt Dich mehr mit Ent
zücken als mit Iammer an, die Klage über den herben, bittern Tod
hat keine Dolche und zerreißende Schlangen mehr, ich kann lächeln,
sreundlich mich beschästigen, aber ich lebe und bewege mich immer nur
in Dir, mein süßes Kind. Ach störe mich nicht in meinem sansten
Trauern, lieber Schelling, dadurch, daß ich bitterlich über Dich weinen
muß. Das sollte nicht sein. Hättest Du Dir vorzuwersen, dann
ich tausendmal mehr, aber Gott weiß es, es will nicht Raum in
meiner Seele sinden und hasten. Ich habe Dich geliebt, es war kein
srevelhaster Scherz, das spricht mich srei, dünkt mich.'" Diese
dunklen Worte erklären sich aus Schellings erschütterter Gemüthslage,
und wir wissen, welcher Natur die Vorwürse waren, über die sie ihn
hinwegzuheben wünschte.
Gleich in einem ihrer ersten Briese nach der Trennung sucht sie
den quälenden Widerstreit seiner Empsindungen, ausgeregt von Gewissens-
vorwürsen nnd leidenschastlicher Sehnsucht, gesteigert bis zum Lebens
überdruß, auszugleichen. »Genug, daß ich meinem Freunde verspreche,
daß ich leben will, ja daß ich ihm drohe, ich werde leben, wenn er so
zur unwahren Stunde den Tod sucht. Du liebst mich, und sollte die
Hestigkeit des sich in Dir bewegenden Wehs Dich auch einmal mit
Haß täuschen und mich damit zerreißen, Du liebst mich doch, denn ich
bin es werth, und dieses ganze Universum ist ein Tand, oder wir
haben uns innerlich sür ewig erkannt." „Wenn die Wolken des
eigenen Iammers mir auch das Haupt eine Weile umhüllen, es besrcit
sich bald wieder und wird vom reinen Blau des Himmels über mir
beschienen, der mein Kind einschließt wie mich. Allgegenwart, das ist
die Gottheit - und meinst Du nicht, daß wir einmal allgegenwärtig
werden müssen, alle einer in dem andern, ohne deswegen Eins zu sein?
Denn Eins dürsen wir nicht werden, weißt Du wohl, dann wärde
das Streben, sich Eins zu machen, ja aushören." ^
Sie sindet auch leicht die Art der Ausgleichung und Lösung, wie
bei der unzerstörbaren Seelenverwandtschast ihr Verhältniß wiederher
vereinigung
gestellt und so
möglich
erneutwird.
werdenDer
kann,
Geliebte
daß selbst
sollte die
der persönliche
Gatte der Wieder-
Tochter
werden; von jetzt an soll er ihr gelten als Sohn, als Bruder ihres
Kindes. „Ich scheide nicht von Dir, mein Alles aus Erden", schreibt
sie im Februar 1801. „das Mittel, das die Seele ergreist, um sich
der Entweihung des Bundes zu entziehen, stellt alles her, ihn selbst in
seiner ganzen Schöne und die Zärtlichkeit, die ihn unterhält. Ich bin
die Deinige, ich liebe, ich achte Dich, ich habe keine Stunde gehabt,
wo ich nicht an Dich geglaubt hätte, es sind Umstände gewesen, die
Deinen Glauben an mich trübten, es wird nun heller werden. Als
Deine Mutter begrüße ich Dich, keine Erinnerung soll uns zerrütten.
Du bist nun meines Kindes Bruder, ich gebe Dir diesen heiligen
Segen. Es ist sortan ein Verbrechen, wenn wir uns etwas Andere«
sein wollten." „Ich habe Dich schrecklich lieb, unbegreislich lieb, und
nun wird es erst ganz an den Tag kommen. Könnte ich Dir nur
meinen Sinn einslößen, alle Spannung weghauchen. Dich selbst sest'
halten in Deiner Anmuth, bei Deiner leichtern Stimmung. Gewiß,
wenn Du Dich jetzt nicht mehr trauernd an Unmöglichkeiten wendest,
so können wir uns noch ein schönes Leben bilden. Nimm unser wunder
bares Bündniß, wie es ist, jammre nicht mehr über das, was es nicht
sein konnte."'
line allein, Schlegel ging den 21. Februar 1801 nach Berlin, um sich
dort durch Vorlesungen einen neuen Wirkungskreis zu bereiten und
nach Iena nicht mehr zurückzukehren. Wirkliche Seelengemeinschast
hatte zwischen den Gatten nie bestanden, die gegenseitige Anhänglich
keit, von ihrer Seite aus Dankbarkeit, von der seinigen aus litterarische
und schöngeistige Interessen gegründet, ist im Erkalten, das äußere
Band des Zusammenlebens sängt schon an sich zu lösen, wenn auch
damals an eine Scheidung der Ehe noch von keiner Seite ernstlich ge
dacht wurde. Das ganze Verhältniß hat einen müden, abgespannten,
übersättigten Ausdruck. Wie sie gemeinschastlich das neue Iahrhundert
begrüßen, schildert Karoline dem Freunde in Iena lachend mit einer
Vergleichung, die keine sortdauernde Gemeinschast bedeutet. „Der
Schlag zwöls überraschte uns, ich wollte Schlegel noch wecken, ehe es
ausgeschlagen, denn es war mir, als könnten üble Folgen daraus ent
stehen, wenn einer dabei nicht wachte, gleichsam als ob er das Zusammen
klingen seiner Sterne verschliese. - also lies ich hinaus, er hatte den
Schlag gehört, sich zusammengerafft und zu uns hinuntergehen wollen,
also begegneten wir uns, wie die beiden Iahrhunderte, aus der Treppe." ^
Das eine kommt, das andere geht, und die Sterne der beiden Gatten
klangen nicht mehr zusammen.
Ihr Blick sucht den entsernten Freund, dem sie die Geister der
Schwermuth verscheuchen möchte, sie hat nur Interesse sür alles, was
ihn interessirt. sür seine Schicksale, Gedanken, Empsindungen. In ihm
lebt ihr die Zukunst. Ieder seiner Triumphe ist der ihrige, sie seiert
jauchzend den Sieg, den er aus dem Katheder in Iena über Friedrich
Schlegel davonträgt. Dieser nämlich hatte sich den 18. October 1800
mit einer Probevorlesung „über den Enthusiasmus oder die Schwärmerei"
habilitirt (noch bevor er promovirt hatte) und begann seine Vor
lesungen in demselben Semester, worin Schelling die seinigen nach einer
halbjährigen Abwesenheit wiederausnahm. Er las über Transscendental-
philosophie und suchte den Wettstreit mit Schelling. Uebermüthig.
unüberlegt, in einer argen Selbsttäuschung über sich und die Ausgabe,
hatte sich Schlegel in ein Element gewagt, sür welches sein Talent und
seine Geistesart gar nicht gemacht waren, denn ihm sehlte jedes Organ
zu einer geordneten, pädagogisch wirksamen Lehrweise; er hielt die Sache
für so gering, daß er sie spielend bezwingen könne, und ersuhr bald.
wie sehr er sich getäuscht. Die Studenten kamen aus Neugierde und
wurden sehr bald seltener, weil sie nichts zu lernen sanden; ihm selbst
wurde von Stunde zu Stunde unheimlicher zu Muth, er athmete aus,
als er mit Weihnachten eine Ferienoase erreicht hatte, er schleppte das
Semester mühselig hin ohne Ersolg und sand im nächsten keine Zu
hörer mehr. Die Niederlage selbst war in wenigen Stunden entschieden.
Karoline jubelte: „ja, Du bist wieder in die Schlacht gekommen, theurer
Achilles, und nun sliehen die Troer. Die Unsterblichen haben Dich
wieder geehrt und werden Dir das lange Leben obendrein geben. Das
ist die wahre Rache, und ich triumphire ohne alle Schonung. Nichts
von Bedauern, sie wäre gar nicht im großen Sinn der Humanität
selber. Denn manche gedeihen in der Unterdrückung, dahin gehört
Friedrich, es würde nur seine beste Eigenthümlichkeit zerstören, wenn
er einmal die volle Glorie des Sieges genösse. Dir geziemt sie, Du
weißt Dich in diesem Element zu bewegen."'
Sie redet zu ihm mit allen Stimmen begeisternder, weckender,
tröstender Theilnahme, jetzt einsichtsvoll und ideal, wie sein Genius,
jetzt mit der Gluth ausbrechender Leidenschast und wieder die Leiden
schast dämpsend zu mütterlicher Zärtlichkeit. Seine Geistesverwandt
schast mit Goethe, seine höhere philosophische Natur in Vergleichung
mit Fichte, sind ihr so einleuchtend, daß sie ihn mit dem ganzen Ge-
sühl seiner Krast durchdringen möchte, mit dem Vertrauen aus den
Sieg seines Werks. „Sieh nur Goethen viel und schließe ihm die
Schätze Deines Innern aus, sördere die herrlichen Erze ans Licht, die
so spröde sind zu Tage zu kommen. Mein Herz, mein Leben, ich
liebe Dich mit meinem ganzen Wesen. Zweisle nur daran nicht.
Welch ein Blitz von Glück, wie mir Schlegel gestern Abend Deinen
Bries gab." „Goethe tritt Dir nun auch das Gedicht ab, er über
liesert Dir seine Natur; da er Dich nicht zum Erben einsetzen kann,
macht er Dir eine Schenkung unter Lebenden, Er liebt Dich väter
lich, ich liebe Dich mütterlich - was hast Du sür wunderbare Eltern!
Kränke uns nicht." „Ich sehe es klar, wie sich Deine Nachzeichnung
der dichtenden Natur von selbst zu einem herrlichen Gedicht ordnen
wird. Du entsinnst Dich des kleinen Gedichts von Goethe, wo Amor
die Landschaft malt, er malt sie nicht, er zieht nur den Schleier von
dem was ist."' schildert ihm beredt, tiessinnig nnd versöhnlich,
sein Verhältniß zu Fichte, den Gegensatz ihrer Naturen und Denk
weisen: „so wie ich die Sache einsehe, würde ich vermuthen, daß er
Dich mit der Naturphilosophie wie in ein Nebensach zurückweisen und
das Wissen des Wissens sür sich allein behalten möchte". „Mir ist es
immer so vorgekommen, bei aller seiner unvergleichlichen Denkkrast,
seiner sest in einander gesugten Schlußweise, Klarheit, Genauigkeit, un
mittelbaren Anschauung des Ichs und Begeisterung des Entdeckers, daß
er doch begrenzt wäre, nur dachte ich, es käme daher, daß ihm die gött
liche Eingebung abgehe, und wenn Du einen Kreis durchbrochen hast,
aus dem er noch nicht heraus konnte, so würde ich glauben, Du habest
das doch nicht sowohl als Philosoph, als vielmehr insosern Du Poesie
hast und er keine. Sie leitete Dich unmittelbar aus den Standpunkt
der Production, wie ihn die Schärse seiner Wahrnehmung zum Be
wußtsein. Er hat das Licht in seiner hellsten Helle, aber Du auch
die Wärme, und jenes kann nur beleuchten, diese aber producirt.
Und ist das nun nicht artig von mir gesehen? Recht wie durch ein
Schlüsselloch eine unermeßliche Landschast." ^
Ihr ganzes Trachten geht nach Wiedervereinigung mit dem
Freunde, in ihrer Phantasie ist alles geordnet, ihr Verhältniß zu
Schelling soll mütterlich und dadurch unantastbar sein, ihr Verhältniß
' Karoline. II. S. 3 und 5. Die Briese find gleich nach der Trennung ge»
schrieben, in der ersten Hälste des October 1800. - ' Ebendas. II. S. 24. (Ja»
nuar 1801.) S. 40 ff. (I. Marz 1801.)
89 Karolinens Vtrbindung
Zusatz aus dem Titel: „ein Versuch, den Leser zum Verstehen zu
zwingen". Dieses Wort, ganz Fichte in seiner Art, wird von Schelling
und seiner Freundin sehr witzig und treffend persisflirt. „Wir haben
sür den sonnenklaren ein Motto ausgesunden:
Zweisle an der Sonne Klarheit,
Zweisle an der Sterne Licht,
Leser, nur an meiner Wahrheit
Und an Deiner Dummheit nicht!
Das Fundament des Einsalls ist von Schelling, die letzte Zeile
von mir. Schelling hat es Goethen mitgetheilt, der, sehr darüber er
götzt, sich gleich den sonnenklaren geben ließ, um sich auch ein paar
Stunden von Fichten maltraitiren zu lassen, wie er sich ausgedrückt hat."
.Ich bitte Dich", schreibt sie kurz vorher über dasselbe Buch und seinen
Titel, „was ist es doch, was Fichten treibt, seine Lehre den Leuten
wie einen Wollsack vor die Füße zu schmeißen und wieder auszusangen
und nochmals hinzuwersen? Es gehört unsägliche Geduld dazu, und
am Ende zum Kuckuck, wenn sie es nicht verstehen, was liegt daran,
und wer kann sie im Ernste zwingen wollen! Ich habe mich sehr
darüber lustig gemacht. Schelling hat nur so hineingesehen. Aber ich
habe es gelesen. Es ist ein komischer Hang."'
Dies alles schreibt sie dem Gatten nach Berlin, sie berichtet über
allerlei häusliche, poetische, litterarische Neuigkeiten, über Maria Stuart
und die Jungsrau, über Fichtes Bries an Reinhold, die Aussührung
des Ion u. s. s. Die Briese gehen unausgesetzt, der Ton, in dem sie
schreibt, ist der ungeheuchelter herzlicher Freundschaft. „Lebe wohl, mein
bester, lieber, guter, schöner Wilhelm", heißt es in einem Briese aus
dm ersten Tagen nach ihrer Rückkehr, sie bittet ihn wiederholt nach
Iena zu kommen, nennt ihn ihren „allerholdesten Freund" und äußert
ein „reines Verlangen nach seiner Gegenwart".* Es ist die Zeit, wo
sie, wie ein weiblicher Gleichen, in zwei Verbindungen lebt: in einer
Seelengemeinschast mit Schelling, die nächster Gegenwart bedars, in
einer Ehe par 6iswnce, die als sanst gepflegte Freundschast sortgesührt
wird, mit Schlegel.
3. Scheidung und dritte Ehe,
Dieser konnte oder wollte nicht kommen. Endlich ging zu einer
verabredeten Zusammenkunst Karoline nach Berlin (April 1802), Schelling
' Ebendas. II. S. 97, l04. - ' Ebendas, II, S. 76, l07.
«. Fischer, «esch. d. neuer,, Philos. VN
82 Karalmens Verbindung
reiste nach, und bei diesem Wiedersehen kam es zwischen den Gatten
zunächst über Geldverhältnisse zu peinlichen Erörterungen, die brieslich
gesührt wurden. Auch muß während des Ausenthaltes in Berlin etwaö
vorgesallen sein, was Schlegeln berechtigen konnte zu erklären, er könne
sich, wenn er wollte, von seinen Verpslichtungen gegen die Frau sür
losgesprochen halten. > Hier endet der sreundschastliche Verkehr inner
halb der Ehe. Beide kommen in dem Wunsch überein, das Band,
welches sie nur noch dem Namen nach verknüpst, gesetzlich zu lösen. Der
Entschluß reist im Sommer 1802. Gemeinschaftlich richten sie an den
Herzog die Bitte um Scheidung (Herbst 1802): beide aus denselben
Gründen divergirender Lebenszwecke, getrennter Haushaltung, kinder
loser Ehe, sreundschastlich gesaßter Uebereinkunst.'
In einem vertraulichen Bekenntniß, gerichtet an Iulie Gotter,
die Tochter ihrer Freundin, erklärt sich Karoline ossen über ihren
Schritt. Sie habe Schlegeln nie geliebt, er sei ihr Freund gewesen und
habe sich als solcher redlich, ost edel bewiesen, er hätte immer nur ihr
Freund bleiben sollen; ihre Mutter habe die Heirath gewünscht, jetzt
habe sie ihr Herz ganz von dieser Verbindung abgewendet und, obwohl
sie zunächst nicht an Scheidung gedacht habe, sich dazu entschloffen.
Sie könne sich nicht anklagen, aber sinde selbst ihr Beispiel warnend.
„Das Schicksal hat so seinen auserlesensten Iammer über mich ergoffen,
daß wer mir zusieht nicht gelockt werden kann, sich durch kühne will
kürliche Handlungsweise aus unbekannten Boden zu wagen, sondern
Gott um Einsachheit des Geschicks bitten muß." „Insoweit Du Schlegel
kennst - glaubst Du, daß er der Mann war, dem sich meine Liebe
unbedingt und in ihrem ganzen Umsange hingeben konnte? Unter
andern Umständen hätte dieses bei einmal getroffener Wahl nichts ver
ändert, so wie sie hier indessen nach und nach stattsanden, durste es
Einsluß über mich gewinnen, besonders da Schlegel mich selbst mehr
mals an die unter uns bestehende Freiheit durch Frivolitäten erinnerte,
die, wenn ich auch nicht an der Fortdauer seiner Liebe zweiselte, mir
doch mißsallen konnten und wenigstens nicht dazu beitrugen, meine
Neigung zu seffeln."' Als die Heirath mit Schlegel im Werke war,
bald nach jener schlimmsten Episode im Leben Karolinens. warnte sie
Therese Forster: „Gieb Dich aus Liebe, aber nicht aus Ucberdruß,
Siebentes Capitel.
Conflirte in Jena, deren Verlans und Charakter.
I. Die Kämpse
1. A. W.
mitSchlegels
der Litterat
.Abschied'. urzeitung.
'' IntelligcnMatt ber A. L. Z. 1799. Nr. 145. Vgl. Haym, Di» romantische
Schule. S. 757 ff.
deren Verlaus und Charakter. 87
bracht hatte, die erste, wie es hieß, von einem Mathematiker und
Physiker, die zweite von einem Philosophen; man meinte, dem natur-
philosophischen Buch am besten dadurch gerecht zu werden, daß man
es zweimal einseitig beurtheilen ließ.' Die Recensionen selbst waren
matt, trockene charakterlose Auszüge der Schrist mit einigen eingestreuten
stumpsen Gegenbemerkungen; sie hatten nichts von einer wirksamen und
entschlossenen Polemik und konnten ohne weiteres unbeachtet bleiben.
Indessen sür Schelling kam der Anlaß gelegen. Er richtet so
gleich (6. Oct.) eine „Bitte an die Herausgeber", worin er die Re-
censenten mit der größten Geringschätzung ansieht und erklärt, daß
seine Schrift weder von einem bloßen Physiker noch von einem bloßen
Philosophen, sondern nur von einem Manne, der beides in gleicher
Energie sei, richtig beurtheilt werden könne; er wünsche darum eine
dritte Recension, die zu jener „Antithese" gleichsam die „Synthese"
bilden solle, und erbietet sich selbst sie zu schreiben. Die Antwort war,
daß Selbstrecensionen nicht erlaubt seien, doch möge Schelling einige
Männer der ihm wünschenswerthen Art vorschlagen und den Heraus
gebern die Wahl überlassen. Ueber diesen Punkt scheinen sich die
Parteien mündlich zu einigen. Schelling nennt Stessens, Schütz geht
aus den Vorschlag ein und läßt diesen, der die Recension zu schreiben
sehr geneigt war, durch Schelling selbst dazu aussordern. Zugleich
unterhandelt Schlegel mit dem andern Herausgeber in derselben Absicht
und mit demselben Ersolge. Huseland aber nimmt Steffens erst aus
die Probe und legt ihm gesprächsweise die Frage vor: er sei doch
überzeugt, daß man in der Naturphilosophie nicht über die Kantische
Kritik der Urtheilskrast hinausgehen könne? Und da Stessens, der
wohl sah. wo die Frage hinauswollte, verneinend antwortet, so läßt
Huseland das Gespräch sallen, und von der Recension ist nicht weiter
die Rede. Diesen Ausgang der Sache ersährt Schlegel von Steffens,
Schelling von Schlegel, beide sehen sich durch die Herausgeber der
Litteraturzeitung getäuscht, der eine durch Schütz, der andere durch
Huseland, und dadurch erbittert, eröffnen sie nun vor dem Publikum
den Streit mit der Zeitschrist. Schlegel schreibt seinen Absagebries,
Schelling verlangt den Abdruck seiner „Bitte", die mit der Antwort
der Redactoren den 2. November 1799 erscheintd
' Allg. Litztg. 1799. Nr. 316 u. 317. - * Intelligenzblatt der A. L. Z. 1799.
Nr. 142.
ß8 Conslicte in Iena,
Unter dem Einsluß von Röschlaub und Marcus hatte sich in Bam
berg die Naturphilosophie der jungen Mediciner bemächtigt und, un
entwickelt wie sie war, die unreisen Köpse vielsach verwirrt. Die natur-
philosophische Phrase war hier zu einer lächerlichen und anmaßenden
Mode geworden, die man besonders bei Promotionen gern in den
öffentlichen Streitsätzen zur Schau trug: z. B. „der Organismus steht
unter dem Schema der krummen Linie", „das Blut ist ein sluctuirender
Magnet", „die Empsängniß ist der große elektrische Schlag" u. s. s.
Dabei erlaubte sich der unreise Uebermuth gegen anerkannte Männer
der medicinischen Wiffenschast eine wegwersende Sprache: in der einen
These hieß es von Huseland, daß die antagonistische Heilmethode nur
in seinen selbstgenügsamen Träumereien Realität habe ; in einer andern
wurde von Reil gesagt, er sei in Plattheiten sestgerannt. Es war in
> Zeitschrist sin speculative Phhsik. 1800. I. Bd. I. Hest. Nr. II. Ein T!»
parntabdruck dieser Polemik erschien bei Gabler in Leipzig. Dorothea Veit will
wissen, daß A. W. Schlegel den Aussatz nicht blos mitversaßt, sondern den
»rößten Theil desselben geschrieben habl. - ' Intelligenzblatt der A. L. Z. IM.
Nr. 57 u. 62. (30. April und 10. Mai.) Vgl. Aus Schellings Leben. I. S. 293 ff.
deren Verlaus und Charakter.
sich ein Feind Schellings, Prosessor Berg aus Würzburg, besand. Ietzt
erschien ein anonymes Pamphlet: „Lob der allerneuesten Philosophie",
worin die medicinischen Thesen eines Bamberger Doctoranden, im natur
philosophischen Iargon gehalten, mit plumper Ironie verspottet und
zuletzt der Wunsch ausgesprochen wurde, der neue Doctor möge mit
Röschlaub und Schelling ein Triumvirat zur Vertreibung des Todes
schließen: „nur verhüte der Himmel, daß ihn nicht der Unsall tresse,
diejenigen, welche er idealisch heilte, reell zu tödten, ein Unglück, das
Schelling dem Einzigen zu Bocktet in Franken an M. B., wie böse
Leute sagen, begegnete". Der ungenannte Druckort war Nürnberg
und zwar dieselbe Ossiein (Felsacker Söhne), wo einige Iahre vorher
jenes nichtswürdige „Schreiben eines Vaters an seinen Sohn über den
Fichte-Forbergschen Atheismus" erschienen war.' ungenannte Ver«
sasser war Berg in Würzburg.
Dieses „Lob der allerneuesten Philosophie" enthielt das Gist,
welches der Ienaschen Litteraturzeitung willkommen war, sie brachte
den 10. August 1802 eine Anzeige der Schrist*, blos in der Absicht,
jenen Satz über Schelling zu wiederholen, sicher, ihn tödtlich zu ver
letzen, und gedeckt durch einen seigen und doppelten Hinterhalt. Der
Pamphletift hatte ja hinzugesügt: „wie böse Leute sagen", der Recensent
hatte ja nur angesührt, was ein anderer geschrieben, Schütz selbst er
klärte, nicht einmal dieser Recensent zu sein. Indessen ist es wahr
scheinlich, daß er den Artikel versaßt, wenigstens die Feder, die ihn
schrieb, so gut als gesührt hat. Im Intelligenzblatt der A. L. Z. er
schien nämlich (den 25. September) eine „Berichtigung", die nichts in
der Sache änderte, sondern sich hinter „die bösen Leute" zurückzog, sie
ersolgte unmittelbar aus einen an Schütz gerichteten Drohbries, der ihn
der Ehrenschändung beschuldigte, und war unterschrieben: „der Recen
sent". Also war der Versasser der Recension und der Berichtigung
dieselbe Person, und da Schütz höchst wahrscheinlich diese versaßt hat,
so liegt die Vermuthung nahe, daß er auch den Artikel geschrieben.
Schelling vermochte es nicht, in dieser Sache die Feder zu rühren.
Nichts, schrieb er an Schlegel, könne ihn so weit bringen, den heiligen
Namen zu entweihen ; Schlegel möge sich der Sache annehmen und sür
ihn in die Schranken treten. ^ Dieser, über „die grenzenlose Nieder-
' S. Band V dieses Werks. (2. Auss,) - « Aug. Litztg. 1802. Nr. 225. ^
' Ans Schellings Leben. I. S. 386.
V4 Lauslicte in Iena,
> Ebendas. I. 2. 253. 384, 397. 2.399-401. 405-418, 422 ff. 2.4W.
447-449.
deren Verlaus und Charakter. 95)
es um eine große Sache zu thun, die ihn ersüllte, der er Bahn brach,
aber nicht weniger um seine Person und sein persönliches Ansehen. Er
legte zu dem Werth seiner Leistung das ganze Gewicht seines Ehrgeizes,
und so wuchs in seinen Augen das eigene Werk; er wollte den ganzen
9« Die Iahre in Winzburg.
Achtes Capitel.
Die Jahre in Würzburg.
(October 1803 bis April 1806.)
Als Schelling mit dem Plan einer italienischen Reise Iena ver
ließ, hatte er schon die Aussicht aus einen neuen akademischen Wirkungs
Die Iahre in Würzburg, 97
' Ueber Max Ioseph und Montgelas vgl. K. H. Ritter von Lang, Memoiren
Th. II. S. 143-160.
». Fischer, «esch, d. neuern Philos. VII ?
9>< Die Iahre in Würzburg.
Gegner, die es sosort mit jenem hielten und alles thaten, ihn zu ge
winnen. Aus diese Weise wäre Schelling aus dem Ienaschen Regen
in die Würzburger Trause gekommen.
Marcus benachrichtigte ihn von allem. Die erste Kunde von der
Absicht seiner Berusung erhält er noch in Iena. Der Bamberger
Freund schreibt ihm den 30. April 1803: „In der nächsten Woche er
warten wir den Grasen Thürheim als Landesdirectionspräsidenten sür
ganz Franken mit der Organisation, welche am 22. in München schon
unterzeichnet wurde. Ich habe Sie, lieber Freund, als Lehrer der
Naturphilosophie aus der Akademie in Würzburg in Vorschlag ge
bracht. Ich habe dieses als die einzige Bedingung gemacht, wie Wurz-
burg als Universität gehoben werden könnte. Heute erhalte ich durch
den Grasen von Thürheim die Nachricht, alle meine Vorschläge sowohl
in Rücksicht aus Sachen als Personen seien ohne Einschränkung vom
Hose gebilligt worden." Fast ein Vierteljahr vergeht bis zur zweiten
Nachricht: daß Montgelas und Zentner mit Schellings Berusung ein
verstanden seien, aber auch Loder und Schütz die ihrige betreiben, und
Thürheim daraus eingehe; zwöls Tage später heißt es, Schütz und
Huseland seien in Würzburg und unterhandlen hier persönlich wegen
ihrer Sache; und zwei Wochen nachher berichtet Marcus, daß von
Würzburg aus ein sehr vortheilhaster Rus sür Schütz bereits beantragt,
ihm aber persönlich gelungen sei. den Grasen Thürheim dagegen zu
stimmen. '
Die Entscheidung lag in München. Um sie nach seinem Sinne
zu lenken, wendet sich Schelling mit einem Schreiben, das wie eine
sreiwillige und vertrauliche Denkschrist abgesaßt war, unmittelbar an
den Minister des Unterrichts, um diesem die Nachtheile auseinander
zusetzen, welche besonders die Berusung von Schütz und die Verpflan
zung der Litteraturzeitung nach Würzburg unsehlbar zur Folge haben
müßten. «Ungern immer und nur mit Mühe würde man sich der
längst gehegten Hossnung entwöhnen, daß die bayrischen Staaten ein
neuer allgemeiner Vereinigungspunkt der Wissenschasten werden würden.
Aber wenn nach Loder nun sogar auch Schütz und Huseland sich um
Würzburg bewerben, so könnte das äußerste Resultat davon doch nur
dieses sein, daß Iena sich reinigte und wieder sür diejenigen ossen
' Aus Schellings Leben. I. S. 456 ff,. S. 469-475. Der letzte Bries ist
vom 14. August 1803.
I«<) Die Iahre in Würzburg.
Hast zusammen kamen, so sehen sie sich auch nur zuweilen im Hause,
während Schelling und ich stets aus einem sreundschastlichem Fuß mit
einander standen, so wie ich auch in der Folge seine Vorlesungen be
suchte." Der Gegensatz zwischen Karoline und Hovens schwäbischer,
schwäbisch gesinnten, ihrer Einsachheit und eigenen Art sehr bewußten,
und in deren Wahrung energischen Haussrau konnte nicht schärser und
sprechender sein, als cr war. In den Briesen an ihre Freundin Char
lotte von Schiller in Iena hat Henriette von Hoven das Bild dieser
ihrer „tugendhasten Hausprinzessin", dieser „Dame Luciser", wie sie
dieselbe vor sich sah, in ihrem eitlen, koketten, putzsüchtigen, anmaßenden,
rücksichtslosen, bei aller Welt, namentlich bei allen Frauen verhaßten
Gebahren in den ergiebigsten Worten gemalt. Sogar die Eltern
Schellings, seit srüher Iugend ihr wohlgesinnt, hätten ihr gleich die
Besürchtung ausgesprochen, daß „dieser böse Dämon" ihren Frieden
stören würde. Das Bild ist nicht gerecht, aber auch nicht unrichtig;
«s ist der Revers der Medaille"^
Schelling und Paulus hatten sich schon gegenseitig entsremdet, die
Standpunkte und Denkweisen beider Männer rückten immer weiter
auseinander, und da persönliches Wohlwollen sie auch nicht zusammen
hielt, so wurde die Stimmung aus beiden Seiten bald die unsreund
lichste. Die Art des Rationalismus, welche Paulus vertrat, erschien
dem anderen als die äußerste Geistesdürre, und der mystische Charakter,
den eben damals die Schellingsche Lehre anzunehmen begann, galt bei
Paulus sür Obscurantismus und Charlatanerie ; er dachte über den
Philosophen Schelling ähnlich wie Schütz, Berg und andere Gegner
dieser Art und sah scheel zu dem Ruhm des jüngeren Genossen in der
Ueberzeugung, daß dieser Ruhm ganz unverdient sei. Da er bei der
Natur seiner Denkart eine solche Ueberzeugung haben mußte, so dars
man die natürliche Mißgunst, die sich dabei etwa miteinmischte, nicht
zu hoch anschlagen. Indessen sinden wir ihn schon jetzt in einer ge
wissen heimlichen Betriebsamkeit gegen Schelling, aus Abneigung, viel
leicht auch weil er die Kunst unbemerkt Fäden zu spinnen nicht ungern
art den schlimmsten Einsluß aus die Studirenden, besonders die Mediciner
ausübe, Regierung und Universität einen Gegenphilosophen sür nöthig
hielten, daß man von München aus Bouierwek vorgeschlagen, an den
nicht mehr gedacht werde, und daß er selbst einen Mann wie Fries
am liebsten in Würzburg sehen würde. Er bespricht die Sache mit
dem Grasen Thürheim und ttbergiebt diesem schristlich seinen aus Fries
gerichteten Vorschlag. „Ich habe viel mehr Wahrscheinlichkeit, Sie bald
den Unsrigen nennen zu dürsen, als nicht. Inzwischen bitte ich, ja
nichts bekannt werden zu lassen; Schelling würde natürlich Himmel
und Erde dagegen bewegen." „Er hat in den Gegenden, wo Sie jetzt
sind, viel Bekannte; vertrauen Sie also was Sie wissen durchaus nie
mand an, es ist nichts nöthig, als daß das Reich der Thorheit und
Arroganz hier ein Ende nehme. Sollte man ihm denn nicht in seinen
Quasiconstructionen solche Schnitzer gegen Physik, Chemie u. s. s. nach
weisen können, gegen welche sich ebensowenig als gegen ein vitium
ßrs.rnmu.ti(Hls disputiren ließe? Der Einfluß, den diese Phantasmen
aus das Studium der jungen Aerzte haben, ist zu tragisch, daß man
nicht bald genug der Taschenspielerei ein Ende machen kann.">
Uebrigens wußte Schelling genau, wie Paulus gegen ihn gesinnt
sei und machinire. Schon vor der Würzburger Zeit ist in einem der
Ienaschen Briese Karolinens vom „Schneider" die Rede, wobei be
merkt wird: „das ist unsere Chiffre sür Paulus". In ihrem letzten
Briese aus Würzburg ist Paulus gemeint, wenn es heißt: „Shylock
schachert rechts und links in Betreff seines Dienstes". Und Schelling
in einem seiner Briese aus derselben Zeit nennt ihn „den bekannten
Satanas und Erbseind seiner Philosophie".'
3. Akademische Lehrthätigleit.
Schellings Wirksamkeit aus dem Würzburger Katheder begann mit
dem Wintersemester 1803 und endete im Frühjahr 1806. Und was
> I. Fr. Fries. Aus seinem handschr. Nachlaß dargestellt von Henke. S. 94 ff.
Die letzten Briese sind vom 9. und 19. August 1804. - ' Karoline. II. S. IN.
Die Iahre in Würzburg. 103
aus der Durchreise, es sehlte viel, daß sie in den Köpsen als ein sort
wirkendes Bildungselement einheimisch wurde, sie war es nicht einmal
in denen, die sie lehrten, denn Reuß und Metz zusammen waren noch
lange kein Reinhold; es sehlte aus den Schulen an den pädagogischen
Vorbedingungen und aus der Universität an der geistigen Tradition,
die sich zur Entwicklung der Philisophie verhält, wie das Flußbett zum
sophische
Strom, es Bildung
sehlten in
die der
gleichartigen
Lust schwebt,
Coessicienten,
noch dazu ohne
eine welche
so schwierige
jede philo-
und
hochentwickelte, wie die Kantische Lehre, und gar erst noch die un
sertigen, noch im Werden und in der Selbstentwicklung begrissenen
Lehren Fichtes und Schellings. In Würzburg war die Kantische
Philosophie ein Gast, der vorüberging, in Iena war sie zu Hause;
hier war der erste Kantische Philosoph aus dem Kloster davongelausen,
dort war er im Kloster geblieben und trug den Philosophenmantel
unter der Mönchskutte. Mit einem Worte: aus dem Würzburger
Katheder war und blieb die Kantische Philosophie ein exotisches Ge
wächs, das, in ein sremdes Klima verpflanzt, eine Zeitlang künstlich
und treibhausartig gepflegt wurde, aber schwerlich ein mächtiges Wachi-
thum entsalten konnte.
Aus diesem Katheder wollte Schelling sein eben begonnenes, kaum
in den Grundzügen entworsenes Identitätssystem lehren, das aus Kant
und Fichte hervorgegangen und über beide hinausgewachsen war. Dieses
System bildete den eigentlichen Stamm seiner Würzburger Vorlesungen.
Er las „über das System der gesammten Philosophie und die Natur
philosophie insbesondere" und that, was er konnte, um den Stamm
nicht blos hinzupflanzen, sondern vor dem Geiste der Zuhörer aus
seinen Wurzeln hervorwachsen zu lassen. Er gab als einleitende Vor
lesung eine „Propädeutik der Philosophie", die didaktisch sehr gut ein
gerichtet war und den kürzesten Weg zum Ziele emschlug. Es wurde
gezeigt, wie die erste und unterste Stuse des Wiffens in der Ersahrung
bestehe, wie es dann nothwendig werde, aus die Ersahrung zu reslectiren.
wie die Philosophie mit diesem Reftexionsstandpunkte zusammensalle und
unter demselben eine Reihe Stusen und Systeme beschreibe. Um die
Möglichkeit der Ersahrung und Ersahrungswelt zu erklären, gebe es
zwei Gesichtspunkte, der erste und niedere richte sich blos aus die Natur
der Dinge, der zweite und höhere aus die Natur des Erkennens und
Vorstellens : dort entstehe die realistische, hier die idealistische Richtung.
In jeder von beiden gebe es drei Stusen. Aus der realistischen Seite
Die Iahre in Würzburg. 10',
erkläre die erste alles aus der körperlichen Natur der Dinge, die
zweite aus dem Gegensatz der körperlichen und geistigen Natur, die
dritte aus der Einheit beider: so entstehe der Materialismus, der
Dualismus, die Identitätslehre; der Materialismus erscheine in den
atomistischen und hylozoistischen Systemen, der Dualismus in Des-
cartes, die Einheitslehre in Spinoza. Die idealistische Richtung durch
lause ebensalls diese drei Stusen : sie entwickle ihr atomistisches System
in Leibniz, ihr dualistisches in Kant und Fichte, und erreiche ihr Ziel
in einer dem Spinozismus entsprechenden Identitätslehre, welche den
Idealismus und die Philosophie überhaupt vollende: eine Vollendung,
wozu er selbst den Grund gelegt habe. Sein eigenes System gipselt in
der „Philosophie der Kunst". Die Ienaschen Vorträge über die letztere
wiederholt er zweimal in Würzburg (1804 und 1805).'
Im zweiten Winter las er vor hundertsünszig Zuhörern über das
System der Philosophie. Unter den Zuhörern war einer, der die
Naturphilosophie in dem ursprünglichen Geist der Schellingschen Lehre
am weitesten sördern und ihr bedeutendster Repräsentant werden sollte :
Lorenz Oken, „ein trefflicher Mensch, eine reine Seele und von durch
dringendem Geist", so bezeichnet ihn Schelling in einem seiner damaligen
Briese an Eschenmayer. *
Indessen hatte Schelling 4.
in Schristen.
Würzburg nicht blos sein System, so
' Sämmtl. Werk. Abth. I. Bd. V. S. 353-736. Bd. VI. S. 71-130. S. 131
bis 576. - ' Aus Schillings Leben. II. S. 46. - ' Ebendas. II. S. 21-23.
106 Die Iahre in Würzburg.
Neuntes Capitel.
Eonflirte in Würzburg. Gegner und Freunde.
tion
dem Staat,
der sürsie die
warBildung
durch diedes
Umgestaltung
religiösen Volkslehrers
der letzteren inersorderlichen
eine „Sec-
burg selbst: der Prosessor der Kirchengeschichte Franz Berg, uns schon
bekannt als der ungenannte Versasser jenes boshasten Pamphlets, wel
ches die Ienasche Litteraturzeitung zu ihrem letzten Ausbruch benutzt
hatte. Der Maun war nicht ohne Scharssinn, nicht ohne Einfluß und
Ansehen, aber ohne allen Charakter, er hatte es in der Ausklärung so
weit gebracht, ohne jede ernsthaste Ueberzeugung zu sein, und eS
wurde ihm daher leicht, sich in der Nähe des kirchlichen Katholicismus
zu halten. Daß ein philosophisches System mit der Macht der Ueber
zeugung austrat und wirkte, erregte seinen Neid; auch der Skepticismus
war in ihm eine Wasse der Mißgunst. Als zweiundzwanzigjähriger
110 Conslitte in Würzburg.
sophie öffentlich gelehrt werden dürse? Berg kannte das Geheimniß der
unschuldigen Heuchelei und wußte die Frage zu beantworten. Seine
Meinung war: die Universität bedürse der Philosophie, diese der Frei
heit; nun sei die Kantische Philosophie mit der positiven Religion in
Wahrheit unvereinbar, dürse aber nur so gelehrt werden, daß sie den
Schein der Uebereinstimmung zeige, daher müsse der akademische Lehrer,
bevor ihm das Katheder gestattet werde, sich schristlich darüber aus
weisen, daß er die Kunst besitze, alle nachtheiligen Schlüsse sern zu
halten.'
Aber er gab nicht blos Gutachten über Kant und dessen Lehre,
sondern selbst ein System, worin er zu Ende sühren wollte, was Kant
begonnen, und berichtigen, was jener versehlt habe. Aus Prometheus-
Kant müsse ein Epimetheus solgen,' der die deutsche Philosophie in die
richtige Bahn sühre, und Berg meinte von sich, er sei dieser Mann.
Er bildete sich im Stillen ein eigenes System, das unter dem Namen
„Epikritik" im Iahre 1805 erschien. Hier sollte das Erkenntniß-
problem endgültig gelöst sein. Gegen den Dogmatismus hielt er es
mit dem kritischen Standpunkt, aber er saßte ihn anthropologisch im
Gegensatze zu Kant und den Transscendentalphilosophen und kam von
hier aus der Richtung entgegen, welche Fries ergriff und zur Geltung
brachte. Als das einzig mögliche Realprincip nahm er den Willen:
„denken wollen" sei der Grund der Erkenntniß, „denkend wollen" der
des sittlichen Handelns. Uebrigens blieb das Ganze ein unentwickelter
Versuch, der über den Skepticismus nicht hinaus kam und keine größere
Beachtung verdiente, als er bei den Zeitgenossen sand. Auch den reli
giösen Vorstellungen verhals Berg keineswegs zu einer besseren Realität
als Kant, während er doch that, als ob er bei diesem die Wirklichkeit
der Glaubensobjecte vermisse, und sehr bedenklich über das Verhältniß
der Kantischen Lehre zur Religion sprach. In der That stand es mit
diesem Punkt in der „Epikritik" weit schlimmer als in der Kantischen
Kritik. Bei Kant galten die religiösen Ideen als moralische Noth-
mendigkeiten, bei Berg als anthropologische Projecte, bedingt durch den
jeweiligen Culturzustand. Als d«r Kanonicus Mayer ihm (brieslich)
' Franz Berg, geistl. Rath und Pros. der Kirchengeschichte an der Universität
Würzburg. Ein Beitrag zur Charakteristik des katholischen Deutschlands, zunächst
des Fürstbisthums Würzburg im Zeitalter der Ausklärung. Bon I. B. Schwab,
(Würzburg 1869.) Vgl. S. 39-42. S. 113-115, S. 381-387.
112 Conslicte in Wllrzburg,
> Ebendas. II. S. 434. - ' Man merlt an Berg noch den Scholastiker aus
der Schule der »obsLuri virie. Er meint das Fundament ber Schellingschtn
Lehre zu stürzen, indem er einen sillogistischen Schulschnitzer darin entdeckt haben
will: einen Schluß der ersten Figur mit verneinendem Untersatz, wonach man
beweisen kann, daß die Menschen nicht zweisüßig sind, weil es die Gänse sind.
Aehnlich wolle Schelling die Unendlichkeit des Denkens aus der Endlichkeit b«
Objecte beweisen. Sextus u. s. s. S. 14. — Die Art dieser Polemik erinnert an
die des Iesuiten Bourdin gegen Descartes. S. dieses Werk, Bd. I. (3. Aufl,»
S. 410 ff.
Gegner und Freunde. US
4. Die Oberdeutsche Litteraturzeitung und der Studienplan.
In der Münchener Litteraturzeitung wurde der kleine Krieg gegen
Schelling unablässig sortgesührt, und wo es nur möglich war, bekam
er einen Nadelstich. „Die neueste Identitätslehre", hieß es an einer
Stelle, „ist bekanntlich nichts anderes als eine ungemeine Vollendung
der ehemaligen gemeinen Rosenkreuzerei und Kabbalistik." Bei Ge
legenheit eines Aussatzes „über Wissenschast" sreut sich die Redaction
im voraus über die Wirkung und bemerkt: „dieser Artikel werde
hossentlich eine idealistische Pulvertonne in die Lust sprengen". In
einer Erklärung „über Herrn Schelling", welche die letzte sein soll,
wird sogar aus einem ungenannten Privatbriese ein surioser Guß über
ihn ausgeschüttet: „so ausschließend, anmaßend, bannsüchtig, versinsternd,
mystische Dunkelheit haschend, den Namen Gottes und den Titel der
Religion zur Deckung des Egoismus heuchlerisch verdrehend war kaum
ein Psaffe, als der Vernunstoberpriester Schelling, dabei Lama (dessen
Excremente gläubige Schüler küssen) und Gott zugleich".' Man
erkennt in diesem Geschrei die Stimmen wieder, die im Lager
der neubayrischen Ausklärung gegen Schelling an der Tagesordnung
waren.
Am Ende machten die sortgesetzten Angriffe Eindruck nach oben
und sanden hier eine sehr willkommene Verstärkung. Schon die Ab
sicht einen Gegenphilosophen zu berusen war ein Zeichen wachsender
Mißstimmung, aber man ging weiter und gab in dem „Kurpsalz-
bayrischen Studienplan sür Mittelschulen" eine Verordnung, den philo
sophischen Unterricht betreffend, worin Punkt sür Puntt der Lehrer ge
mahnt wurde, sich vor einer Richtung zu hüten, unter welcher unverkenn
bar Schellings Lehre gemeint war. Als Lehrbuch sür den philosophischen
Schulunterricht wurde eine gegen Schelling gerichtete Schrist, jene von
Weiller versaßte „Anleitung zur Ansicht der sreien Philosophie" vor
geschrieben. Den Studienplan hatte Wismayr, ein Freund und Ge
sinnungsgenosse Weillers, entworsen und die Regierung gebilligt. Alle
gegen Schelling geläusigen Gemeinplätze von dem Gegensatze der Schul
philosophie und Lebensweisheit, von der Verstandesgrübelei und Er-
kenntnißsucht u. s. s. hatten hier Eingang gesunden in ein ossicielles
Schriststück und trugen den Stempel der öffentlichen Autorität. Natürlich
war die Oberdeutsche Litteraturzeitung über diesen Studienplan und be-
5, Der Venveis.
Ossenbar hatte sich jetzt die Regierung in den Streit gemischt und
Partei gegen Schelling genommen. Es war dem letztern nicht zu ver
denken, wenn er nicht länger ruhig blieb, die Regierung um eine Erklärung
bat, damit er wisse, woran er sei, und mit der Pflicht der Vertheidigung
auch das Recht der Polemik sür sich in Anspruch nahm; aber er über
schritt seine Grenze und richtete unter 'dem 26. September 1804 an
das Curatorium der Universität ein Schreiben, worin er in sehr be
stimmten und drohenden Ausdrücken der Regierung den Krieg an
kündigte, wie ein Staat dem andern. „Ich mache daher", so schloß er,
„Ew. Excellenz die Anzeige, daß vom gegenwärtigen Augenblicke an
der Zustand der Ruhe, den ich beobachtet habe, ausgehoben ist, und
daß ich der mir von Gott verliehenen Krast mich bedienen werde,
meiner Sache Recht zu verschassen und diese sörmlich organisirten An-
grissspläne aus sie zu vernichten. Ich werde nie die meiner Regierung
schuldige Achtung aus den Augen setzen, aber jede in das Wissenschaft
liche eingreisende Aeußerung, wenn auch ein Collegium dieselbe publicirt,
unterliegt dem Inhalte nach der in jenem Gebiet gebräuchlichen Be-
urtheilungsart, wo bekanntlich nur geistige Ueberlegenheit, nicht äußere
Macht entscheidet. Ich werde daher sowohl die Individuen, welche die
Ideen in dem oben erwähnten Passus angegeben haben, als diese
Ideen selbst, so weit sie gegen meine Sache angehen, in ihrer ganzen
Blöße mit aller nur möglichen Klarheit darstellen. Ich werde den
ganzen jetzigen Zustand der intellectuellen Cultur in Bayern, so weit
er durch diejenigen Schriststeller repräsentirt wird, die jetzt das große
Wort sühren, von seinen ersten Ansängen her ableiten und jenes un
verkennbare System, auch die Angelegenheiten des menschlichen Geistes
gleichsam an Stelle der Vorsehung leiten zu wollen, aus seine ersten
weltbekannten Grundlagen zurücksühren. "^
Gras Thürheim brachte das Schreiben vor den Kursürsten. Ietzt
kam, was zu erwarten war, der derbste Verweis in einer demüthigenden
Form. Es wird dem Briessteller „höchstdero Mißsallen über die von
ihm bewiesene Arroganz, welche einen überzeugenden Beweis liesere, wie
> Ebendas. 1805. Nr. 20 (vom 14. Februar). - » Aus Schelling« Leben. II.
S. 30-35.
Gegner und Freunde.
unter der Würde meines Charakters. Hiergegen läßt mir die Ehre das
einzige Mittel offen: die unterthänigste Anzeige jener Verunglimpsung
bei meiner Regierung zu machen, welche bei jeder Gelegenheit die Ehre
ihrer Staatsdiener geschützt hat, deren erster nie verletzter Grundsatz
Gerechtigkeit ist, und die noch keine billige Genugthuung versagte, am
wenigsten demjenigen sie versagen wird, der einzig im Vertrauen aus
die ihm zugesagte Ruhe und Schutz diesen Psad betreten hat. der von
so vielen Dornen besäet war."
Der Verweis, wie man sieht, hatte gewirkt. Eingeschüchtert suchte
Schelling der Regierung gegenüber den Rückzug. Aber nachdem er
gegen sie ein halbes Iahr vorher eine so entschiedene und drohende
Sprache geredet und sie keineswegs mit Unrecht beschuldigt hatte, daß
sie Partei gegen ihn genommen, so hätte er jetzt in seinen Lob
preisungen etwas weniger verschwenderisch sein sollen. Auch durste er
nicht thun, als ob er jetzt erst über seine Gegner Beschwerde sühren
werde, da er es bereits versucht und nichts ausgerichtet hatte. Der
Fall des Verweises erinnert an Fichte, die Vergleichung ist nahe ge
legt und sür Schelling ungünstig. Denn man muß gestehen, daß
Fichte in einer ähnlichen Lage, die schwieriger war, zwar auch nicht
correct und vorwursssrei, aber doch weit männlicher und offener ge
handelt hat.
Schellings Erklärung „an das Publikum" war noch dazu unklug,
da sie unter der Voraussetzung gemacht war, daß von den Vorgängen
zwischen ihm und der Regierung keine Kunde nach außen dringen
tonne< Diese Annahme war salsch. Man wußte, was sich zugetragen,
und seine Gegner konnten ihn empsindlicher treffen als je. Gegen
Ende des Iahres 1805 brachte „der Freimüthige" eine Nachricht aus
Wurzburg, worin dem Publikum erzählt wurde, was sür ein Schreiben
Schelling an die Regierung gerichtet, was sür eine Antwort er empsangen,
wie „er seit diesem Donnerschlage eine Zeit lang bei Seite gekrochen",
und seine letzte Erklärung, soweit sie die Regierung betreffe, nichts sei
„als schmeichelnde Angst".
' Er war den 2l. Ianuar 1775 in Ulm geboren, hatte zuerst (Ostern 179S
bis 96) in Iena, die beiden solgenden Iahre in Güttingen studirt und bei einem
Ferienbesuch in Iena (Herbst 1797) Fichtes nähere Bekanntschast gemacht, der ihm
anbot, Hauslehrer seines Sohnes zu werden, obgleich derselbe noch keine zwei
Iahre alt war und noch keine zwei Worte sprechen konnte. Als er sich eben aus
den Weg machen wollte, um diese pädagogische Mission zu übernehmen, erhielt
er von Fichte, der sich inzwischen die Sache besser überlegt hatte, einen Absage
bries. Dennoch ging er sür die nächsten Monate nach Iena (April-Iuli 1798),
Statt Hauslehrer bei Fichte wurde er Seeretär bei einem Kausmann und Redac-
teur einer Handelszeitung in Nürnberg (Herbst 1798 bis Herbst 1801). Von
«iner Beschreibung Salzburgs entzückt, ließ er sich im Nov. 180I dort nieder,
verheirathet, ohne Anstellung, Aussichten und Vermögen; er besreundete sich mit
Vierthaler und Schallhammer und wurde Mitarbeiter der Salzburger Litteratur»
zeitung und der Annalen. Hier ergriff ihn Schillings neue Lehre, und er schrieb
seine ersten philosophischen Schristen, ersüllt von einem wissenschastlichen Krast»
gesühl und Ehrgeize, die der Empfindungsweise Schellings wenig nachgaben. In
seiner Bewunderung des letzteren, den er als „zweiten Plato' und dessen Bruno
«r als Meisterwerk preist, erhebt er sich selbst: »snek' i« 8vn« pittorel« (Vgl.
I. I. Wagner, Lebensnachrichten und Briese. Von Dr. Phil. Ludw. Adam und
Dr. Aug. Koelle. Ulm, 1849. S. 207, 208, 210.)
Wagner, der schon in Salzburg angesangen hatte, mit Ersolg philosophische
Vorlesungen zu halten, wünschte bayrischer Prosessor zu werden und bot sich der
Regierung an. Schelling, um seine Meinung gesragt, empsahl ihn als brauchbar.
So wurde er außerordentlicher Prosessor in Würzburg (December 1803). Daß
118 Conflicte in Würzburg.
Schelling aus sreien Stücken sich Wagnern zum Collegen ausgebelen habe, ist nicht
richtig. Wagner äußert sich so in einem seiner Briese (s, oben S. 2l6), und Rabus
erzählt es nach (I. I. Wagners Leben, Lehre und Bedeutung. Von Dr. L. Rabus.
186S. S. 8 ff.). Vgl. dagegen: Aus Schellings Leben. II. S. 12.
' System der Idealphilosophie von I. I. Wagner. Einleitung. Vvm Ab»
soluten und seiner Erkenntniß. S. XXIV-XXVI. XXVII ff. XXXIX. XI.I.
I.XI ff.
Gegner und Freunde, II9
schreibt er schon den 4. März 1804 an Hegel, „ist ein wahrer Klotz,
ein Musterbild von Polyphem und mir physisch und moralisch nicht
sehr angenehm". Und in einem Briese an Windischmann vom
16. September heißt es: „haben Sie Wagners Idealphilosophie ge
lesen? Seine angenommene gegnerische Rolle ist der Nothschrei um Zu
hörer und Brod. Ich werde höchstens in den Iahrbüchern etwas über
ihn sallen lassen." Er that es nicht und äußerte selbst, daß er von
Wagner nicht sprechen wollte, um ihn nicht berühmt zu machen. °°
Die Oberdeutsche Litteraturzeitung lobte Wagnern wegen seiner
Polemik gegen Schelling, aber sie sand auch, daß dieser Gegensatz
weniger in dem Buche selbst enthalten sei. als in der Einleitung zur
Schau getragen werde, und deshalb an seinem öffentlichen, lauten,
animosen Absall von Schelling wohl andere, weniger reine Gründe
mehr Antheil haben dürften, als das Interesse der Wahrheit und
Philosophie.'
Im Verhältniß zu Schelling erscheint als Wagners Widerspiel
G. M. Klein, der damals Rector des Gymnasiums in Würzburg und
Schellings Anhänger und Freund in der Weise des völligen Schülers
war. Er gab im Iahr 1805 „Beiträge zum Studium der Philosophie
als der Wissenschast des All" heraus, von denen Schelling selbst richtig
und schonend bemerkt, daß sie ziemlich treu nach seinen Vorlesungen
abgesaßt und vielleicht nur zu desultorisch geschrieben seien. Paulus
wollte den Meister im Schüler treffen und die „Beiträge" in der
Hallischen Litteraturzeitung „herunterreißen", wie sich Schelling aus»
drückt/
Gleich in der ersten Zeit machte Schelling die Bekanntschaft eines
' Aus Schellings Leben. II. S. 12, 29. Vgl. I. I. Wagner. Lebensnachrichten
und Briese von Adam und Koelle. S. 217-222. Aus Wagners Briesen: »Schel-
ling hat mich im ersten Augenblick etwas vornehm ausgenommen' (23. Dec. 1803).
„Mein Verhältniß mit Schelling kam bis zur höchsten Spannung' (20. Febr. 1804>.
„Zwischen Schelling und mir entbrennt jetzt der glühendste Wettstreit aus dem
Katheder.' „Zwischen Schelling und mir ist ein inneres Verhältnis; absolut un
möglich, denn er ist ganz Wissenschast und weiter gar nichts als, was damit sich
verbindet, Ehrgeiz und Eitelkeit. Aus Ehrgeiz und Eitelkeit, beide unterworsen
der Wissenschast, construirst Du Dir den ganzen Menschen sehr richtig." (18. März
1804). .Zwischen mir und Schelling ist also auch litterarisch Mvts sie» und es
gilt jetzt, Leben oder Tod' (II. Mai 1804). - ' Ebendas. S. 226. Br. Wagners
vom 14. April 1807. - » Oberdeutsche A. L. Z. 1805. Nr. 45 (13. April). - « Au,
Schillings Leben. II. S. 78 ff.
ISO Conflicte in Würzburg.
ihn, aber so, daß die schlimmsten Vorwürse besser waren: vielleicht
habe ihn nicht böser Wille, sondern böse Lust zum salschen Freunde
gemacht. „Freund! wie ich Sie immer noch zu nennen mir erlauben
dars", schrieb Windischmann zurück, „war es möglich, mich so weit zu
erniedrigen und gleich dem Koth von den Schuhen zu schleudern?"
Schellina, blieb ungerührt und suhr in seiner Weise sort, bis endlich
der Buße genug gethan war und er den Armen absolvirte. „Was
zwischen uns obgewaltet hat", schreibt er den 3. September 1805. „das
soll von meiner Seite ganz verschwinden, ist verschwunden. Ich habe
mich überzeugt, daß auch Sie nicht Ihre Sache suchen, und was Sie
gegen, mich im Busen trugen, nicht gegen die Sache ging. Ich reiche
Ihnen die Hand zum ewigen Bündniß sür das, was unsere gemein
schastliche Religion ist: Darstellung des Göttlichen in Wissenschast.
Leben und Kunst und Verbreitung der Allanschauung und Besestigung
derselben in den Gemüthern der Menschen.">
Zehntes Capitel.
Schellings Weggang von Würzburg und Stellung in München.
Oarolinens letzte Zahre und Tod.
' «aroline. I. S. 282 ff. - ' Aus Schellings Leben. II. S. 80. - ' Steffens,
Was ich erlebte. Bd. VIII. S. 356 ff. - » Schelling in München: eine litte»
rarische und akademische Merkwürdigkeit. Mit Verwandtem. Von I. Salat. II.
Hest. Nr. 4. .Schilling wird - nicht Prosessor in Landshut.' S. 8-13. -
> »aroline. II. S. 294- 296 <Schilderung des Einzugs).
126 Schellings Weggang von Würzburg und Stellung in München.
' lieber die Herkunst der Aretine vgl. K. H. Ritter von Langs Memoiren.
Th. II. S. 178-181. - 'Friedr. Thierschs Leben, herausgegeben von H. Thiersch.
Bd. I. S. 74 ff. Zu vgl. Anselm Feuerbachs Nachlaß. Bries an seinen Vater
vom II. März 1810. Bd. I. S. 189.
128 Echellings Weggang von Würzburg und Stellung in München.
' Bries Baranosss an Thiersch vom 8. Iuni 1808. Fr. Merschs Leben. I.
S. 54 ff. - ' A. Feuerbachs Nachlaß. Bd. I. S. 193-202.
», Fischer. Gesch. d. nenern Philos. VNl ,
130 Schellings Weggang von Nürzburg und Stellung in München,
und die Flöße daraus und alle alten Geschichten, die er so hübsch er
zählt, ich habe auch Bebenhausen besucht, wo er seine erste Kindheit
zugebracht." Sie interessirt sich sür alles, was ihn angeht; sür seinen
Magisterrock, wie sür seine speculativen Gedanken, sür die Staffage
seines Lebens, wie sür dessen höchsten geistigen Inhalt, er ist ihre Welt
geworden, und sie bedars keiner anderen. „Ich lese selbst sehr wenig",
schreibt sie den 18. März 1804 an Iulie Gotter, „aber ich habe auch
einen Propheten zum Gesährten, der mir die Worte aus dem Munde
Gottes mittheilt." Er ist ihr unerschöpslich, täglich neu, und sie immer
auss Neue entzückt von der Liebenswürdigkeit seines Wesens. So jugend
lich srisch und so verjüngt durch ihre Liebe ist Herz und Phantasie
dieser vierzigjährigen Frau, daß alle Schlacken des Geliebten vor ihrem
Blick absallen und sie ihn sieht in seiner ganzen Herrlichkeit. „Schelling
grüßt Dich", schreibt sie derselben Freundin gegen Ende der Würz
burger Zeit, „er ist sehr lustig und doch ungemein gesetzt, streng, ernst
und sanst, unerschütterlich und würdiger, als ich aussprechen kann.
Dies ist wahrlich kein Spaß, liebes Iulchen, und Spaß bei Seite, es
ist doch wirklich wahr, daß von allen Fremden niemand hier mehr
Achtung
Während
und Liebe
Schelling
sich erworben
in München
hat,seine
als neuen
unser Verhältnisse
herrlicher Freund/"
zu grün
den sucht (Frühjahr 1806), schreibt sie ihm in den Wochen der Tren
nung die seurigsten und zärtlichsten Briefe, jeder Ausdruck leuchtet von
Sehnsucht und Hingebung. „Lebe wohl", endet der erste dieser Briese,
„lebe wohl, mein Herz, meine Seele, mein Geist, ja auch mein Wille.
Ich habe Dein Bild zu mir genommen und spreche mit ihm." Und
einige Tage später: „Du liebster Freund, wenn ich nur erst weiß, daß
es Dir gut geht, so will ich auch einsam sröhlich essen, trinken und
schlasen. Das Alleinessen ist das Schlimmste sür mich. Es wäre
thöricht, wenn ich Dir erzählen wollte, wie ich Dich in Gedanken lieb
kose. Du weißt es wohl." Mitten in der leichtesten Plauderei, welche
die Neuigkeiten des Tages durchläust, brechen Worte flammender Sehn
sucht hervor: „O Du süßes, liebes Herz! Wann werde ich doch die An
dacht zum Herzen meines Herrn wieder halten! Hast Du aber wohl
gehofft, daß ich es so ertrüge?" Sie hat die bezaubernde Gabe, auch
die allergewöhnlichsten Dinge so anmuthig zu sagen, daß sie wie poetisch
erscheinen. Es ist die Rede von ihrer künstigen Hauswirthschast in
' Karoline. II. S. 248, 258, 282. Der letzte Bries ist vom I. Decor, 1805.
132 Schellings Weggang von Würzburg und Stellung in München.
München: „das wünsche ich sehr, daß wir uns vors Erste speisen lassen
und ich die Art der Sorglosigkeit üben kann, die man aus der Reise
hat. Wo kriegtest Du denn auch eine Küche her? Oder hast Du etwas
dergleichen, wo man Feuer zu Wasser machen kann?" Im letzten Briese
vor ihrer Abreise wird auch der Ort besprochen, wo sie das erste
Wiedersehen seiern wollen: „Du kommst mir aus jeden Fall nur so
weit entgegen, wie der König der Königin - bis Dachau." ^ Ist es
nicht, als ob unter der leichten Berührung ihrer Feder sich die gewöhn
lichsten Dinge in Gedichte verwandeln wollten?
Ihre Briese aus München schildern sein und ergötzlich eine Reihe
interessanter Personen, die in jener Zeit an ihr vorübergingen, wie
Frau von Stael, Rumohr, Bettina Brentano und Tieck, den sie von
alten Zeiten her kannte.
Kurz vor Weihnachten 1807 kam Frau von Stael mit ihrem
Begleiter - A. W. Schlegel. „Diese Anwesenheit, welche acht Tage
dauerte", schreibt sie nach Gotha, „hat uns viel Angenehmes gewährt.
Schlegel war sehr gesund und heiter, die Verhältnisse die sreundlichsten
und ohne alle Spannung. Er und Schelling waren unzertrennlich.
Frau von Stasl hat über allen Geist hinaus, den sie besitzt, auch noch
den Geist und das Herz gehabt, Schelling sehr lieb zu gewinnen. Sie
ist ein Phänomen von Lebenskraft, Egoismus und unaushörlich geistiger
Regsamkeit. Ihr Aeußeres wird durch ihr Inneres verklärt und be
dars es wohl; es giebt Momente oder Kleidungen vielmehr, wo sie
wie eine Marketenderin aussieht, und man sich doch zugleich denken kann,
daß sie die Phädra im höchsten tragischen Sinne darzustellen sähig ist."'
An einer andern Stelle beschreibt sie den Kunstkenner Rumohr:
„es ist immer Schade um ihn, daß er so gar unvernünstig, langweilig
und policinellenhast ist, denn einen Sinn hat ihm der Himmel ge
geben, eben den sür Kunst, wo er reich an den seinsten, zugleich sinn
lichsten Wahrnehmungen ist. Der Freßsinn ist ebenso vortrefflich bei
ihm ausgebildet, es läßt sich gar nichts gegen seine Ansicht von der
Küche sagen, nur ist es abscheulich, einen Menschen über einen See
krebs ebenso innig reden zu hören, wie über einen kleinen Iesus."'
Kurz vor ihrem Tode hatte sie die Brentanos kennen gelernt und
Tieck wiedergesehen. Ihre letzten Briese schildern die Eindrücke. „Es
> Ebendaselbst. II. S. 285, 289, 302, 304, 312. Bries vom 21. und 26. April,
9. und 15. Mai 1806. - e Ebendas. II. S. 343. Bries vom 15. Ianuar 1803.
- e Ebendas. II. S. 354. Bries vom 16. Sept. 1808 an Pauline Gotter.
Karolinens letzte Iahre und Tod. 133
scheint sich jetzt", schreibt sie Ansang 1809 ihrer Schwester, „mancherlei
Volk aus die Art nach München ziehen zu wollen, wie ehemals nach
Iena. Wir besitzen alleweil die ganze Brentanorei. Savigny, ein
Jurist, der eine von den Brentanos geheirathet, ist an Huselands Stelle
nach Landshut gerusen und bringt mit den Clemens lDemens) Bren
tano sammt dessen Frau, eine Bethmannsche Enkelin, die ihn sich ent
sührt hat, dann Bettina Brentano, die aussieht, wie eine kleine Ber
liner Iüdin und sich aus den Kops stellt, um witzig zu sein, nicht ohne
Geist, Wut au coutrairs, aber es ist ein Iammer, daß sie sich so
verkehrt und verrenkt und gespannt damit hat; alle Brentanos sind
höchst unnatürliche Naturen." „Sie ist ein wunderliches kleines Wesen,
eine wahre Bettine (aus den venetianischen Epigrammen) an körper
licher Schmieg- und Biegsamkeit, innerlich verständig, aber äußerlich
ganz thöricht, anständig und . doch über allen Anstand hinaus, alles
aber, was sie ist und thut, ist nicht rein natürlich, und doch ist es ihr
unmöglich anders zu sein. Sie leidet an dem Brentanoschen Familien-
übel einer zur Natur gewordenen Verschrobenheit, ist mir indessen
lieber, wie die anderen. In Weimar war sie vor 1^2 Iahren,
Goethe nahm sie aus, wie die Tochter ihrer Mutter, der er sehr wohl
wollte, und hat ihr tausend Freundlichkeiten und Liebe bewiesen, schreibt
ihr auch zuweilen." „Hier kam sie mit ihrem Schwager Savigny her,
blieb aber ohne ihn, um singen zu lernen und Tieck zu pflegen, der
seit Weihnachten an der Gicht kläglich darniederliegt und viel zartes
Mitleid erregt. Den Leuten, die ihn besuchten, hat sie viel Spectakel
und Skandal gegeben, sie tändelt mit ihm in Worten und Werken,
nennt ihn Du, küßt ihn und sagt ihm dabei die ärgsten Wahrheiten,
ist auch ganz im Klaren über ihn, aber keineswegs etwa verliebt.
Ganze Tage brachte sie allein bei ihm zu, da seine Schwester auch
lange krank war und nicht bei ihm sein konnte." „Unter dem Tisch
ist sie öster zu sinden wie daraus, aus einem, Stuhl niemals. Du wirst
neugierig sein zu wissen, ob sie dabei hübsch und jung ist, und da ist
wieder drollig, daß sie weder jung noch alt, weder hübsch noch häßlich,
weder wie ein Männlein noch wie ein Fräulein aussieht. Mit den
Tiecks ist überhaupt eine närrische Wirthschast hier eingezogen. Wir
wußten es wohl von sonst und hatten es nur vor der Hand wieder
vergessen, daß unser Freund Tieck nichts ist als ein anmuthiger und
würdiger Lump." „Bettine sagte iym einmal, da von Goethe die
Rede war, den Tieck gar nicht so groß lassen möchte, wie er ist: «sieh,
134 Schellings Weggang von Würzburg und Stellung in München.
Karolinenl, und erzählte ihr den Verlaus der letzten Tage und wie
sie starb. „Sie entschlies sanst und ohne Kamps, auch im Tode ver
ließ sie Anmuth nicht; als sie todt war, lag sie mit der lieblichsten
Wendung des Hauptes, mit dem Ausdruck der Heiterkeit und des herr
lichsten Friedens aus dem Gesicht." „Ich stehe da, erstaunt, bis ins
Innerste niederschlagen und noch unsähig meinen ganzen Iammer zu
sassen. Mir bleibt der ewige durch nichts als den Tod zu lösende
Schmerz, einzig versüßt durch das Andenken des schönen Geistes, des
herrlichen Gemüths. des redlichsten Herzens, das ich einst in vollem
Sinne mein nennen durste. Mein ewiger Dank solgt der herrlichen
Frau in das srühe Grab.">
Gegen Ende October kehrte er nach München zurück. Die Welt
war ihm verödet durch ihren Tod. Erst den 14. Ianuar konnte er
Windischmann schreiben und sür seine Theilnahme danken. „Sie ist
nun srei und ich bin es mit ihr, das letzte Band ist entzweigeschnitten,
das mich an diese Welt hielt. All mein Liebes deckt das Grab, die
letzte Wunde öffnet und schließt, je nachdem wir's denken, alle übrigen.
Ich gelobe Ihnen und allen Freunden, von nun an ganz und allein
sür das Höchste zu leben und zu wirken, so lange ich vermag. Einen
andern Werth kann dieses Leben nicht mehr haben; es in Unwerth zu
zubringen, da ich es nicht willkürlich enden dars, wäre Schmach; die
einzige Art es zu ertragen ist, es selbst als ein ewiges zu betrachten.
Die Vollendung unseres angesangenen Werks kann der einzige Grund
der Fortdauer sein, nachdem uns in der Welt alles verschwunden -
Vaterland, Liebe, Freiheit."
Seinem Schwager Philipp Michälis hatte Schelling bald nach
seiner Rückkehr geschrieben.' Mit ihm, der die Schwester lieb gehabt
und einst mit Ausopserung sür sie gehandelt hatte, seiert er das An
denken Karolinens, wie es in seiner Seele sortlebt. „Sie war ein
eigenes, einziges Wesen, man mußte sie ganz oder gar nicht lieben.
Diese Gewalt, das Herz im Mittelpunkte zu treffen, behielt sie bis
ans Ende. Wir waren durch die heiligsten Bande vereinigt, im höchsten
Schmerz und im tiessten Unglück einander treu geblieben, - alle Wunden
bluten neu, seitdem sie von meiner Seite gerissen ist. Wäre sie mir
nicht gewesen, was sie war, ich müßte als Mensch sie beweinen, trauern,
daß dies Meisterstück der Geister nicht mehr ist, dieses seltene Weib
> Ebendas. II. Z. 174 ff. - e Ebendos. II. S. 187. - ' Ebendas. II. S. 184.
Wiederverheirathung. Philosophische Richtung und Schristen. 137
von männlicher Seelengröße, von dem schärssten Geiste, mit der Weich
heit des weiblichsten, zartesten, liebevollsten Herzens vereinigt. O etwas
der Art kommt nie wieder!"
Elstes Kapitel.
Wiederverheirathung. Philosophische Richtung und Schriften
Wöhrend der ersten Mlinchener Zeit.
> Karoline. II. S. 328 ff. Bries vom 31. Ianuar 1807.
während der ersten Münchener Zeit. 1«
der die Gabe haben sollte, Wasser und Metall unter der Erde zu sühlen
und durch die sogenannte Wünschelruthe, die sich in seinen Händen
drehte, den Ort zu bezeichnen. Ritter (uns von Iena her bekannt)
versprach sich davon die wichtigsten Ersolge und wünschte die Sache
selbst zu sehen und zu untersuchen ; in der That wurde er aus Baaders
Betrieb von Seiten der Regierung nach Tyrol geschickt und brachte den
Mann mit nach München. Hier wurden nun allerhand Experimente
angestellt, die sür überzeugend galten, und überall in München sprach
man von Campetti. Wie eisrig namentlich im Schellingschen Kreise
dieses Phänomen verhandelt wurde, und welche Schlüsse man daraus
zog, sieht man aus den Briesen, die im Ansange des Iahres 1807
Karoline an ihre Schwester, Schelling an Hegel schreibt. „Die eigent
liche Wünschelruthe", berichtet der letztere, „schlägt uns nun allen über
der kleinsten Masse von Metall oder Wasser, d. h. uns allein, die wir
uns damit beschästigen, denn vielen hat Natur die Krast versagt oder
Lebensart geraubt. Es ist dies eine wirkliche Magie des menschlichen
Wesens, kein Thier vermag sie auszuüben. Der Mensch bricht wirklich
als Sonne unter den übrigen Wesen, die alle seine Planeten sind,
hervor."' Eine neue bis dahin verborgene Art magnetischer Anziehung,
die als siderische bezeichnet wurde, schien entdeckt. Ritter gründete
daraus seine Theorie des „Siderismus", die um ihrer Wichtigkeit
willen eine besondere Zeitschrist haben sollte. Schelling sah die Ent
deckung des „magischen Willens" vor sich und schrieb darüber als eine
ausgemachte Sache an Windischmann: „die Versuche haben sich schon
ziemlich weit sortgebildet. Mich verwundert, daß Sie in Ihrem Aus»
satz noch keine Kenntniß von dem Einfluß des Willens (dem magischen,
unmechanischen nämlich) zu haben wenigstens schienen. Oder wollten
Sie davon als einem Mysterium noch schweigen? Pendel, Baquette
oder was man ihnen substituiren mag. solgt dem Entschluß des Willens
(ja auch leisem Gedanken) ebenso wie der willkürliche Muskel, dessen
Bewegung ohne dies eine rotatorische ist. So sind unsere Muskeln in
der That nichts anderes als Wünschelruthen, die nach innen oder außen
schlagen, Flexoren, Extensoren, je nachdem wir es wollen. Form, Figur,
Zahl u. s. s. hat den bestimmendsten Einfluß aus das Phänomen. In
manchen einzelnen Beobachtungen und Versuchen zeigt es schon seine
nahe Verwandtschast mit der magnetischen Clairvoyance. Kurz, hier
' Ebendas. II. S. 828-332. Aus Schellings Leben. II. S. 1 12- 1l4.
142 Wiederverheirathung. Philosophische Richtung und Schristen
oder nirgends ist der Schlüssel der alten Magie, wie auch Sie
sagen; das letzte Entgegenstehende ist überwunden, die Natur kommt
in des Menschen Gewalt, aber nicht aus Fichtesche Weise." >
Unter den Iüngeren, die in der mago- mystischen Richtung der
Naturphilosophie sich geltend machen, sinden wir einen, dem wir jetzt
als Schellings Schüler und Anhänger, später als seinem Amtsgenossen
und Freunde wieder begegnen werden: Gotthils Heinrich Schubert,
ein Mann, in dem sich sehr verschiedene Elemente aus eine liebens
würdige Art mischten : von ärztlichem Berus, von urväterlich srommem
Glauben, duldsam durch eigene Milde und Herderschen Einsluß,
phantasiereich und empsindsam aus eigener Gemüthsart und nach dem
Vorbilde Iean Pauls ; er hatte Schelling in Iena gehört und verehrte
in ihm seinen Meister, ihm verdankte er, daß er als Rector des neuen
Realinstituts nach Nürnberg gerusen wurde (1809). Sein Lieblings-
seid war die Magie des menschlichen Seelenlebens. Er hatte über
dieses Thema einige Iahre vorher (Winter 1807/1808) in Dresden
Vorlesungen gehalten und als „Ansichten von der Nachtseite der Natur
wissenschast" herausgegeben; in Nürnberg schrieb er „die Symbolik des
Traumes" (1814). Iene religiöse Vorstellungsart, gegen welche Schelling
sich einst als „Widerporst" gezeigt hatte, war setzt in die Naturphilosophie
selbst eingedrungen und stand ihm nahe. Innerhalb seiner Lehre spannt
sich schon der Gegensatz der srüheren und späteren Elemente und tritt
in seinen Anhängern hervor, ich meine den Gegensatz der naturalistischen
und religionsphilosophischen, der pantheistischen und mystischen Denk
weise: aus jener Seite steht Oken, aus dieser Schubert, ein Wider
streit, der sich auch persönlich sühlbar machte, als später beide an der
selben Universität und aus demselben wissenschastlichen Gebiet zusammen
wirkten. Und Schelling stand nicht gleichgültig in der Mitte, sondern
neigte sich mehr zu Schubert als zu Oken.
2. Vruch mit Fichte.
Die Naturphilosophie war, wie oben erzählt, aus der Wissen-
schastslehre hervorgegangen, sie hatte sich als Identitätslehre über die
selbe erhoben und ihr entgegengesetzt als den höheren und umsaffen
deren Standpunkt. Aus der anderen Seite vollzog sich die letzte
Entwicklung der Wissenschastslehre im ausdrücklichen und schrosssten
Widerstreit gegen die Naturphilosophie; die Erlanger Vorlesungen über
das Wesen des Gelehrten, die Berliner über die Grundzüge des gegen
wärtigen Zeitalters, die Anweisung zum seligen Leben behandelten die
Naturphilosophie als eine zurückgebliebene, dem gröbsten Dogmatismus
wieder versallene, gänzlich versehlte Leistung.' Darüber kommt es zum
Bruch zwischen Fichte und Schelling. Nachdem er die Erlanger Vor
lesungen in der Ienaschen Litteraturzeitung beurtheilt hat (1805),
schreibt Schelling seine Abhandlung „über das Verhältniß der
Naturphilosophie zur verbesserten Fichteschcn Lehre" (1806).
„Was sagen Sie zu Fichtes neusten Sprüngen?" schreibt er den
l. August 1806 ,an Windischmann, „was ich dazu sage, haben Sie
wohl zum Theil schon in der Ienaschen Litteraturzeitung gelesen, ob
gleich das nur eine flüchtige Arbeit ist. gesertigt nach der Ansicht des
Einen Buchs. Seitdem habe ich die übrigen gelesen und eine eigene
Abhandlung geschrieben, darlegend das Verhältniß zwischen ihm und
mir. Diese wird in einigen Wochen erscheinen; so lange bleibt es
sten."
unter uns.
Wie Ich
erbittert
halteerdiese
damals
Schrist
über
sürFichte
eine meiner
urtheilte,besten
zeigt und
der tüchtig»
nächste
' Vgl. dieses Werk. Bd. V. (2. Ausl.) ^ - Aus Schellings Leben. II. S. 97 ss.,
l04. Briese vom 1. Nov. 1806. S. 125 vom 31. Dec. 1807.
144 Wiederverhcirathung, Philosophische Rich!ang und Schristen
ist mehrere Wochen nachher bei Hos und in der Stadt von nichts die
Rede gewesen als von Schellings Rede." „Iacobi, der sür Schelling
überhaupt Achtung, selbst Zuneigung hat, aber sreilich weder im
Charakter noch in der Philosophie mit ihm übereinstimmt, sagte, seine
Bewunderung sei gegen das Ende bis zur Bestürzung gestiegen, und
in der That sah man ihm das auch etwas an."^
Anders sreilich erklärt in einem Briese an Fries Iacobi selbst
seinen Eindruck, der weniger bestürzt als empört war und keineswegs
Bewunderung zur Ursache, sondern vielmehr eine polemische Ausregung
zur Folge hatte, die Iacobi dazu trieb, gegen Schellina. zu schreiben.
„Gegenwärtig bin ich mit einer neuen Erörterung der Schellingschen
Lehre beschästigt. wozu mich die akademische Abhandlung dieses Meisters
»über das Verhältniß der bildenden Künste zur Nature unwiderstehlich
getrieben. Die darin angewendete berückende Methode, der Betrug,
welcher darin durchaus mit der Sprache getrieben wird, haben mich
empört."'
5. Die Begründung der Religionlphilosophie.
Seitdem Eschenmayer der Identitätslehre den Einwurs gemacht
hatte, daß die Thatsache des religiösen Lebens ihr Fassungsvermögen
übersteige, war die Auslösung dieses Problems in Schellings Unter
suchungen eingetreten und allmählich durch seine eigene Entwicklung in
den Vordergrund gestellt worden. Er wollte zeigen, daß zur Durch
dringung des religiösen Lebens seine Lehre nicht blos die Fähigkeit,
sondern die alleinige Vollmacht habe. Ietzt mußte der pantheistische
Gottesbegriff näher bestimmt und so entwickelt werden, daß er die
Religion bis in ihre innersten Mysterien hinein zugleich begründet
und erleuchtet. Nun ist der bewegende Grund alles religiösen Lebens
das menschliche Erlösungsbedürsniß, das Bewußtsein des Uebels, der
Schuld, des Bösen, welches selbst in dem Vermögen der Freiheit seine
Wurzel hat. Hier also liegt der Kern des Problems, der Punkt, an
welchen der Hebel zu setzen. Es ist nicht genug, daß die Freiheit als
das Vermögen des Bösen mit dem pantheistischen Gottesbegriss irgend
wie ausgeglichen wird, sie muß aus ihm abgeleitet und begründet, es
muß in dem Wesen Gottes gleichsam die Gegend entdeckt werden, wo
jenes Vermögen wurzelt, so wurzelt, daß es außerdem gar keinen
> Knroline. II. S. 340. Bries vom 12. Oct. l87l. — ' I. Fr. Fries, dar»
gestellt von Henke. s. 312. Bries vom 26. Nov. 1807.
während der ersten Münchener Zeit. 14V
«nderen Grund haben kann und doch die Natur Gottes dadurch keines
wegs dualistisch getrennt, im Gegentheil erst dadurch in ihrer wahren,
lebendigen, persönlichen Einheit hergestellt wird.
Diese Fassung des Problems bedingt die Auslösung: es ist die
Freiheitslehre, welche die Identitätslehre in Religionsphilosophie ver
wandelt. Den Ansang machte schon die Würzburger Schrist über
„Philosophie und Religion". Die eigentliche Grundlegung giebt
Schelling süns Iahre später in seinen „Philosophischen Unter
suchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit und die
damit zusammenhängenden Gegenstände". Die Abhandlung er
scheint in dem „ersten Bande seiner philosophischen Schristen" (Lands
hut 1809), der bei seinen Lebzeiten der einzige geblieben ist, sie ist in
diesem Bande die einzige neue Schrist, zugleich eine der tiessinnigsten
in der gesammten philosophischen Litteratur und unter den Werken, die
seine Lehre sortbilden, das letzte von ihm selbst veröffentlichte.
Er selbst war von der Bedeutung des Werks durchdrungen und
nahm dasselbe keineswegs als einen Bruch mit seiner srüheren Lehre,
sondern als deren Ziel. So äußert er sich brieslich gegen Windisch
mann, als er ihm seine neue Untersuchung ankündigt: „Dieser Band
enthält zwar nur eine eigentlich neue Abhandlung, inzwischen umsaßt
diese gewissermaßen die ganze ideelle Seite der Philosophie und ge
hört zu dem Wichtigsten, was ich seit langer Zeit geschrieben".
„Ich weiß, daß Sie nicht wie Fr. Schlegel denken, dessen verdeckte
Polemik ich in eine offene zu verwandeln gesucht habe. Sein höchst
crasser und allgemeiner Begriff des Pantheismus läßt ihn sreilich die
Möglichkeit eines Systems nicht ahnden, worin mit der Immanenz der
Dinge in Gott Freiheit, Leben, Individualität, desgleichen Gutes und
Böses besteht." „Ich habe in dieser Abhandlung das, was man mein
System nennen kann, da hinausgesührt, wo es aus dem Wege der
ersten Darstellung wirklich hinaus sollte. Es war ein Unglück, daß
diese nicht sertig geschrieben wurde; viel Mißverstand wäre dadurch in
der Wurzel abgeschnitten worden." ^
6. Neue Ausgaben.
Die Weltalter. Mythologie und Offenbarung. Negative und positive Philosophie.
Ietzt erscheint die Lehre Schellings, unter ihrem höchsten Gesichts
punkt betrachtet, als eine Darstellung der Entwicklungsgeschichte Gottes.
' Aus Schellings Leben. II. S. 156 ff. Bries vom 9. Mai 1809.
150 Wiederverheirathung. Philosophische Richtung und Schristen
Wie Gott selbst die Natur als Grund in sich saßt und trägt, so da5
Schellingsche System die Naturphilosophie.
Die Entwicklungsgeschichte Gottes ist seine Selbstoffenbarung, die
durch die Welt hindurch- und darum in Perioden eingeht. Diese
Perioden der göttlichen Selbstoffenbarung sind die „Aeonen" oder
„Weltalter", Vergangenheit, Gegenwart, Zukunst, nicht nach mensch
lichem, sondern nach göttlichem Maß zu unterscheiden: die Zeit vor,
in und nach der Welt; die Urzeit, diese Welt, die künstige.
Die Entwicklungsgeschichte Gottes im menschlichen Bewußtsein, das
menschliche Erlebtwerden Gottes ist die Religion : als Nalurproceß oder
Theogonie wird Gott erlebt in der Mythologie, als wirklich offenbarer
Gott in der Offenbarung. Das ist im engeren Sinn die Geschichte
Gottes und deren Darstellung „die geschichtliche Philosophie", die sich
darum in die „Philosophie der Mythologie" und „die der
Ossenbarung" unterscheidet.
Nehmen wir nun, daß die göttliche Selbstoffenbarung Natur und
Welt als nothwendige Bedingungen in sich begreist, ohne welche sie
nicht ersüllt werden kann, in die sie aber keineswegs ohne Rest aus
geht, so müffen hier diese beiden Factoren wohl unterschieden werden:
die negativen Bedingungen und die positive Ersüllung, oder, was
daffelbe heißt, in dem Gesammtproceß des göttlichen Lebens das Reich
der Nothwendigkeit und das der Freiheit. Demgemäß zersällt das
Gesammtsystem der Philosophie in „negative und positive Philo
sophie", und so erklärt sich, wie Schelling die Freiheits- und Offen
barungslehre als „die positive Philosophie" bezeichnet, welche die Welt
bis jetzt entbehrt habe, und die zu bringen er der berusene Philosoph sei.
Einen Vorblick aus die Philosophie der Mythologie giebt Schelling
„als Beilage zu den Weltaltern" (die nicht erschienen waren) in der
letzten von ihm veröffentlichten Separatschrist „Ueber die Gottheiten
von Samothrake" (1815). Es war der erste Versuch einer An
wendung der in der Freiheitslehre entwickelten Begriffe aus die Religions-
lehre. Als er sie seinem Freunde Gries schickt, bemerkt er dabei: „Es
ist der erste Schritt zur Aussührung eines Plans, den ich Ihnen einst,
wenn ich nicht irre, aus der unvergeßlichen Reise zwischen Dresden und
Iena vorphantasirt und vorgesaselt habe, und den Sie mit so vieler
Heiterkeit ausnahmen. Ietzt ist einigermaßen Ernst daraus geworden,
d. h. etwas daran könnte doch noch wahr werden". >
> Ebendas. II. S. 364.
während der ersten Münchener Zeit.
7. Stuttgarter Privatvorlesungen. Unsterblichkeitslehre.
Das Iahr, in welchem die Freiheitslehre, dieses letzte seiner
schöpserischen Werke, erscheint, war das Todesjahr seiner Frau. Mit
ihr zugleich endet auch bei ihm die Lust litterarischen Wirkens.
Um sich geistig wiederauszurichten und Krast zu neuer Arbeit zu
sammeln, nahm Schelling sür längere Zeit Urlaub und lebte den größten
Theil des Iahres 1810 (von Februar bis in den October) in Stutt
gart. Hier umgab ihn ein Kreis gereifter, durch Bildung und Lebens
stellung angesehener Männer, die den Wunsch hatten, von ihm selbst
in seine Lehre eingesührt zu werden. Gern ergriss er diese Gelegen
heit, die ihn aus seine Sache richtete und zu dem lebendigsten Gedanken
verkehr mit sich und anderen bewog. Die Form der Belehrung sollte
dialogisch sein, nicht Vorträge, die nachgeschrieben, sondern Gespräche,
denen Fragen und Bedenken mitgetheilt wurden. Die Zusammen
künste, angeregt durch den Präsidenten von Wangenheim, sanden statt
im Hause des Oberjustizraths Georgii, mit dem sich Schelling in Folge
dieses philosophischen Verkehrs näher befreundete. Den Inhalt seiner
dialogischen Lehrvortrage, deren Abriß aus dem Nachlaß des Philo
sophen verössentlicht ist, bildete sein System unter dem Standpunkt der
Freiheitslehre. Er wollte hier die gesammte Philosophie in einem Guß
geben als die geistige Darstellung des Universums, als „Manisestation
Gottes", Geschichte der göttlichen Selbstoffenbarung, worin die Unter
schiede des Niederen und Höheren als „Perioden" oder „Potenzen"
gesaßt waren. Man dars daher diese Stuttgarter Privatvorträge als
die erste Frucht jener neuen Untersuchung über die menschliche Freiheit
ansehen.'
In einem Punkt, der stets das Ziel der Mystagogen war, ver
sucht Schelling hier zum ersten male die positive Lösung. Er glaubt
den Schlüssel in der Hand zu halten, um das verschlossenste aller Ge
heimnisse zu eröffnen: die persönliche Unsterblichkeit des Menschen, das
wirkliche Leben nach dem Tode, den Uebergang aus dieser Welt in die
Geisterwelt. Er hat seitdem nicht ausgehört, sich mit dieser Frage zu
beschästigen, in sich überzeugt, das unbekannte Land jenseits des Todes
entdeckt zu haben. Mit dem Gottesbegriff hängen stets die Unsterblich
keitsvorstellungen genau zusammen. Schellings Lehre von den Potenzen
des göttlichen Lebens, angewendet aus das menschliche, gab seiner Un-
sterblichkeitstheorie die Richtung und Construction. Der wahre und
' Ebendas. II. S. 194-203. S. W. Abth. I. Bd. VII. S. 417-487.
152 Wiederverheirathung. Philosophische Richtung und Schristen «.
licher sein wird, als das gegenwärtige. Was wir im Tode loswerden,
ist unsere Schwäche; was stirbt, ist das Ohnmächtige und Hinsällige
unseres Wesens; was sortlebt, die Individualität in ihrem wahren
Element, in ihrer concentrirtesteu Kraft, die sich im Guten zur Selig
keit, inl Bösen zur Hölle steigert.
Daß Schelling aus solche Weise über Tod und Unsterblichkeit
speculirt, ist durch seinen religionsphilosophischen Standpunkt, durch
seine Lehre von der menschlichen Freiheit und vom intelligiblen Charakter
bedingt; doch ist nicht zu verkeimen, daß auch persönliche Gemüths-
interessen, welche der Tod seiner Frau erweckt hatte, an diesen Medi
tationen und an der Lust, womit er sie ergriss, lebhast betheiligt
waren. Aus seinem Nachlaß haben wir das Bruchstück eines Gesprächs
„Clara oder über den Zusammenhang der Natur mit der
Geisterwelt" kennen gelernt, worin die Vorstellungen der künstigen
Welt am aussührlichsten behandelt werden, und wohl an mehr als
einer Stelle das Andenken Karolinens hervortritt: dort, wo Clara
das Sterben „der srüh verklärten Freundin" schildert, und in jener
Erinnerung an ein von weiblicher Hand geschriebenes Fragment, welches
in das Gespräch ausgenommen werden sollte und wahrscheinlich von
Karoline versaßt, nicht blos von ihrer Hand geschrieben war. Auch
will mir scheinen, daß die Absassung dieses Gesprächs srüher und dem
Tode Karolinens wie den Stuttgarter Vorlesungen näher liegt, als der
Herausgeber vermuthet. der es in die Zeit von 1816/1817 setzt.>
> S. W. Abth. I. Bd. IX. T. 1—I11. (S. 28. 66.) Vgl. Karoline. II. Beil.3.
S. 881 ff.
Unwillkürlich ist man bei solgender Stelle des Gesprächs an den Bries er»
innert, den Schelling über den Tod Karolinens an Louise Gotter schrieb (S. oben
S. 136 ff.): ,O wohlthätige Hand des Todes', siel hier Clara ein, »daran trlenne
ich Dich! Lassen Sie mich der srüh verllärten Freundin gedenken, die meines
Lebens Schutzengel war, wie bei ihr die« alles eintras; wie, als schon die Schatten
des Todes sich ihr näherten, eine himmlische Verklärung ihr ganzes Wesen durch»
Der Streit m. Iacobi. Controverse m. Eschenmayer. Unersüllte Ankündigungen. 153
Zwölstes Cavitel.
Ter Streit mit Jacobi. Controverse mit Gschenmayer.
Unerfüllte Ankündigungen.
3. Schellings Gegenschrist.
Die Schrist „von den göttlichen Dingen" tras ihn, nachdem er in
seiner jüngsten Abhandlung über die Freiheit ausgesührt hatte, daß
Nothwendigkeit und Freiheit weder unbegreisliche noch unverträgliche
Gegensätze seien, ebensowenig Pantheismus und Theismus, vielmehr
der echte Theismus den Pantheismus als unentbehrliche Grundlage in
sich und unter sich begreise. Um diesen Standpunkt polemisch zu be
krästigen und um so energischer einleuchtend zu machen, kam ihm das
Iacobische Buch wie gerusen. „Nächstens erscheint oder ist schon er
schienen", schreibt er an Windischmann den 12. November 1811. ȟber
die göttlichen Dinge und deren Offenbarunge von Herrn Präsident
Iacobi. Es ist schwer abzusehen, wie die göttlichen Dinge Zeit ge
sunden, bei einem so viel und gar nicht göttlich beschästigten Mann
vorzukommen. In den Vorzimmern und an den Speisetischen der
Großen haben sie ihn doch gewiß nicht ausgesucht. Es liegt in diesem
Manu, der die Welt trefflich zu täuschen verstand, eine unglaubliche
Anmaßung sammt verhältnißmäßiger Leerheit des Geistes und Herzens,
die man aus sechsjähriger Anschauung kennen muß, um sie zu be
greisen. Unstreitig wird der Welt wieder die heillose Lehre des Nicht
wissens vorgepredigt mit srommen Verwünschungen der Gottlosigkeit
unseres Pantheismus und Atheismus. Ich wünschte sehr, daß ihm
von mehreren Seiten begegnet werde. Er hat unglaublichen Schaden
gestistet und stistet ihn noch."^
> Ebendas. S. 317 ff. Bries 4 v. 17. Nov. 1810. - ' Aus Schelling« Leben.
II. S. 270.
Unersüllte Ankündigungen. 15?
Das Buch war, wie er sich gedacht, und er nahm den Kamps so
gleich aus mit dem srohen Vorgesühl eines ihm sicheren Triumphes.
„Iacobis Buch", heißt es in einem Briese an Georgii, „sollte nicht
überschrieben sein von den göttlichen Dingen und ihrer Ossenbarung,
sondern von den göttlichen Dingen und ihrer Verheimlichung
(Obscurirung). Durch diese Schrist ist meine Lage hier sehr und zwar
ins Vortheilhasteste geändert. Sie war wirklich insosern drückend, als
ich den verderblichen Wirkungen dieses Mannes ruhig zusehen mußte,
ohne ihm srei entgegenarbeiten zu können.' „Die Erscheinung dieses
Buches macht Epoche in der Entwicklung meines Systems und in seinem
Sieg über die vorher dagewesene Herzensträgheit und Geistlosigkeit, die
man sich sür Glauben, ja sür eine Art von höherer Philosophie hat
ausreden lassen. Es konnte schwerlich etwas Glücklicheres sür mich ge
schehen."
Binnen wenigen Wochen, es waren die letzten des Iahres 1811,
schreibt er sein „Denkmal der Schrist von den göttlichen
Dingen u. s. s. des Herrn Friedrich Heinrich Iacobi". Die
erste Wirkung der Streitschrist war zündend und bestätigte ihm das Ge
sühl einer sieg- und ersolgreichen That. „Ihr Bries, Freund", schreibt
er den 27. Februar 1812 an Windischmann, „war mir ein begeisternder
Zurus." „Hier hat die Schrist ein ungemeines Aussehen gemacht und
ist nicht anders wie eine Bombe in die Stadt gesallen. Trotzdem hat
sie sür meine äußere und bürgerliche Existenz keine nachtheiligen Folgen
gehabt. Im Gegentheil, sie hat mir viele Freunde erworben. Es ist
aussallend, wie Menschen aller Art und jedes Standes davon ergriffen
worden, daß sie mir ein Bild wurde von der Wirkung aus die Ge
müther, welche unsere vollkommen entwickelten Gedanken einst in ihrer
Ausbildung zur letzten Klarheit aus das Menschengeschlecht haben
müssen. Seit vielen Iahren habe ich die ansängliche Bescheidenheit,
blos sür Wissenschast und Schule zu wirken, mehr und mehr aus
gegeben und einsehen müssen, daß die Vorsehung eine Veränderung
der ganzen Denkart und keinen Theil verschmähen will. Vielleicht hat
der erste Versuch, auch aus den geistlichen und alle Stände zu wirken,
darum so glücklich aussallen müssen, um mich hierin zu bestärken.
Dies ist der eigentliche, stille, noch unausgesprochene Sinn der von
mir angekündigten Zeitschrist." „Polemik thut noth, aber ganz andere,
die mit Blitzen vom Himmel, mit Donnern der Begeisterung nieder-
' Ebendas. II. S. 280 ff.
15? Der Streit mit Iacobi. Kontroverse mit Eschenmayer.
wirst, mit sanstem Wehen eines göttlichen Geistes die gesunden Keime
belebt."'
Auch in dem Brieswechsel mit Pauline Gotter spielt „das kriegerische
Buch" eine Rolle. „Iacobi gab dieses Spätjahr", schreibt Schelling
(Ansang des Iahres 1812), „ein Buch voll der gehässigsten und bissigsten
Aussälle gegen mich heraus. Bei dem Verhältniß, in welchem wir zu
einander stehen, hätte ich nicht ganz gleichgültig bleiben können, auch
wenn es nicht längst wünschenswerth gewesen, mich wissenschastlich mit
ihm auseinanderzusetzen. So konnte ich die Gelegenheit um so weniger
vorbeigehen lassen und muß Ihnen, Kind des Friedens, bekennen, daß
ich das Ende des Iahres meist damit zugebracht, ein sehr kriegerisches
Buch zu schreiben, das in wenigen Tagen vielleicht herauskommt."
„Das Buch", heißt es einige Wochen später, „ist mir auch darum
nicht unlieb, weil es in der Entwicklung meiner Gedanken eine Art
von Epoche macht." Ueberall in den philosophischen Kreisen wirkt die
Schrist wie ein Ereigniß. Ein bedeutsamer Widerhall davon macht sich
auch in einem Briese der Freundin vernehmbar: „Welche Sensation
erregt Ihr Buch, bester Schelling ! In Iena hat es eine solche Bewegung
in die Gemüther gebracht, daß seit seiner Erscheinung an nichts anderes
gedacht, von nichts anderem geredet, nur sür und wider gestritten wird.
Der größte Theil schlägt sich mit Feuer und Flamme zu Ihrer Fahne,
und nur wenige ergreisen Iacobis Partei. Auch Goethe soll sich sreuen,
daß die Wahrheit siegt. ^
4. Urtheile über den Streit.
Dem Iacobischen Dualismus mußte Goethe abgeneigt sein, und
er hat die Schrist von den göttlichen Dingen so ausgenommen, daß er
seine entgegengesetzte Denkweise einem Verehrer Iacobis gegenüber mild
und mit den sreundschastlichsten Gesühlen sür Iacobi aussprach, diesem
selbst unverhohlen erklärte und zuletzt in ein poetisches Bekenntniß
brachte, das Iacobi als ein unartiges Spottlied empsand: „Groß ist
die Diana der Epheser". An Schlichtegroll schrieb er den letzten
Ianuar
beste. Ich1812:
habe „Grüßen
sein WerkSiemit meinen
vielem Freund
Antheil, Iacobi
ja wiederholt
aus dasgelesen.
Aller-
Er setzt die Ueberzengimg und das Interesse der Seite, aus der er
' Ebendas. II, S. 294 ff. In Betreff der im Briese erwähnten Zeitschrist
vgl. unten „Controverse mit Eschenmayer". S, 16l ff. - « A>ig Schellings
Leben. II. S. 283 ff., 291, 309.
Unersüllte Ankündigungen.
steht, mit so großer Einsicht als Liebe und Wärme aus einander, und
dies muß ja auch demjenigen höchst erwünscht sein, der sich, von der
andern Seite her, in einem so treuen, ties- und wohldenkenden Freunde
bespiegelt. Freilich tritt er mir der lieben Natur, wie man zu sagen
pflegt, etwas zu nah. allein das verarg ich ihm nicht. Nach seiner
Natur und dem Wege, den er von jeher genommen, muß sein Gott
sich immer mehr von der Welt absondern, da der meinige sich immer
mehr in die Welt verschlingt. Beides ist auch ganz recht, denn gerade
dadurch wird es eine Menschheit, daß, wie so manches andere sich ent
gegensteht, es auch Antinomien der Ueberzeugung giebt. Diese zu
ftudiren macht mir das größte Vergnügen, seitdem ich mich zur Wissen
schast und ihrer Geschichte gewandt habe." An Iacobi schrieb er einige
Monate später (den 10. Mai 1812): „Ich würde die alte Reinheit
und Ausrichtigkeit verletzen, wenn ich Dir verschwiege, daß mich das Büch
lein ziemlich indisponirt hat. Ich bin nun einmal einer der ephesischen
Goldschmiede, der sein ganzes Leben im Anschauen und Anstaunen und
Verehrung des wunderwürdigen Tempels der Göttin Natur und in
Nachbildung ihrer geheimnißvollen Gestalten zugebracht hat, und dem
es unmöglich eine angenehme Empsindung erregen kann, wenn irgend
ein Apostel seinen Mitbürgern einen andern und noch dazu sorm
losen Gott ausdringen will." „Als Dichter und Künstler", heißt es
in einem späteren Briese, „bin ich Polytheist, Pantheist hingegen als
Natursorscher, und eins so entschieden als das andere." Partei in
dem Streit zwischen Iacobi und Schelling nahm er nicht; auch konnte
die Religionsphilosophie des letztern schwerlich nach dem Geschmack des
Goldschmiedes von Ephesus sein.
Iacobi selbst war über Schellings Gegenschrist empört und sah
darin ein Werk blos heimtückischer Bosheit. „Schellings grimmigen
Aussall gegen mich", schrieb er den 23. Februar 1812 an Fries,
„haben Sie nun gewiß gelesen und auch den Nachtrag dazu im
Morgenblatt. Man sieht nun schon, daß er mit seinem Anhange
nach einem sörmlichen Plan arbeitet und alle Scheu und Scham weg
geworsen hat. Es ist mir bei dieser Gelegenheit aussallend geworden,
daß ich Schellingen verschiedene Male habe bleich werden sehen, nie
aber roth. Ich werde dem Nichtswürdigen nichts antworten; alle
meine hiesigen Freunde sind der Meinung, daß ich es ohne Verletzung
meiner Würde nicht könne." „Von Schelling ist es ein wahrhast
satanischer Kniff und Psiff, daß er seine Leser zu überreden sucht, ich
160 Der Streit mit Iacobi. Controverse mit Eschenmayer.
Gesühl, durch die Wirkung seiner Schrist wieder einmal die Zeit be
rührt und energisch getroffen zu haben; der Augenblick schien ihm
günstig, um durch eine Zeitschrist, die schon in seinem Plane lag, die
unmittelbare Berührung mit der Gegenwart und seinen Einfluß daraus
sortwirken zu lassen. Es ist das sünste und letzte mal. daß er als
Iournalist austritt. Die srüheren Zeitschristen hatten es mit esoteri
schen Dingen zu thun. wie speculative Physik, Kritik. Mediän; jetzt
ging die Absicht weiter: es sollte aus die gesammte Bildung des Zeit
alters gewirkt, dieses in seinen geistigen Mächten ergriffen, über seine
Bestrebungen ausgeklärt, aus seine höchsten Ziele hingewiesen werden;
insbesondere galt es, das Wesen deutscher Wiffenschast, Kunst und
Bildung zu erleuchten, hervorzuheben, in seiner sreien Entwicklung zu
sördern. Um diesen universellen und deutschen Charakter zu bezeichnen,
wählte Schelling den Titel: „Allgemeine Zeitschrist von Deut
schen sür Deutsche'.> Sie trat mit dem Iahr 1813 ins Leben,
angekündigt war sie schon ein Iahr vorher. Unwillkürlich erinnert der
Name an Fichtes Reden an die deutsche Nation, welche sich selbst er
klärt hatten als „Reden von Deutschen an Deutsche". Was Fichte
rednerisch geleistet hatte, versuchte Schelling journalistisch. Zeitschristen
sind keine Reden, das Iahr 1813 brachte den Besreiungskrieg und
hatte nicht Zeit, sich durch Zeitschristen belehren zu laffen, es war der
Wirkung des Worts weniger zugänglich, als die Iahre 180? und
1808, die nach der Unterjochung Deutschlands der Sammlung und
geistigen Erhebung bedursten. So blieb Schellings Unternehmen er
solglos, und sein Blatt verwehte schnell im Sturme der Zeit.
Das wichtigste Stück der Zeitschrist ist eine Controverse mit Eschen-
mayer, veranlaßt durch Schellings Freiheitslehre, gegen die jener in
schreiben
einem Privatschreiben
absertigte undEinwürse
beide Briese
gemacht,
in seine
welcheZeitschrist
dieser in ausnahm.
einem Gegen-
Er
versuhr dabei gegen Eschenmayer nicht ganz offen und etwas perssid.
Als er ihn um die Erlaubniß bat, seinen Bries mit der Antwort zu
gleich abdrucken zu dürsen, sagte er ihm über den Werth seiner Ein
würse sehr artige Sachen, während er bei sich sehr gering davon dachte
und Appetit spürte, Eschenmayer gleichsam als Nachtisch zu verzehren,
nachdem er mit Iacobi die große Mahlzeit gehalten. „Ihr Bries",
schreibt er an Eschenmayer, „betrifft die wichtigsten und geistigsten
> S. W. Vd. VIII. S. 137-194. Die Vorrede ist vom 2. Ianuar 1813.
Unersüllte Ankündigungen, UN
Sachen und trägt Ihre Gedanken so geistreich vor, daß ich aller Ruhe
bedurft hätte, um ihn nach Würden zu erwidern." „Ich wünsche,
daß Sie mir erlauben, Ihr Schreiben, das außer seiner nächsten Be
ziehung aus meine Abhandlung von der Freiheit die allgemein inter
essantesten Aeußerungen und Anregungen enthält, in das erste Hest
der Zeitschrist einrücken lassen zu dürsen." „Wir beide sind im Stande,
der Welt das Beispiel eines mit gegenseitiger Achtung, mit Anstand.
Würde und Freundschaft gesührten litterarischen Streites zu geben."
Ganz anders schreibt er an Windischmann: „Der Druck des ersten
Hestes beginnt in wenigen Tagen. Für dieses habe ich ein wahres
Kleinod in einem höchst naiven Briese Eschenmayers, den er
über meine Abhandlung von der Freiheit an mich geschrieben. Das
Geheimniß des sogenannten Nichtwissens und der damit verbundenen
Ansicht ist so darin ausgesprochen, daß nichts zu wünschen übrig bleibt.
Aus diesem Grunde, auch weil es mir nicht wichtig genug war,
ihm privatim zu antworten, habe ich mir das Sendschreiben zum
Druckenlassen ausgebeten; meine Antwort erscheint ebensalls im ersten
Heste und wird den Schleier vollends wegziehen.''
' Aus Schellings Leben. II. S. 287 ff. Bries an Eschenmayer v. 24. Febr.
1812. S. 302. Bries an Windischmann v. S. April 1812.
164 Der Streit mit Iacobi. Controverse mit Eschenmayer.
gedachte, hat sich unter der Hand so ausgedehnt, daß ich wohl noch
den ganzen Sommer damit zubringen werde. Die Zeit thut mir nicht
leid, es ist ein Lieblingskind, an dem ich pflege." Und doch hatte er
schon Ostern dem Stuttgarter Freunde gemeldet: „Von den Weltaltern
sind els Bogen, das ganze erste Buch gedruckt, es kann wohl
über dreißig stark werden". ^
Im November schreibt er Windischmann, daß die Sache stockt.
„Ich hoffte immer mein Werk bald zu vollenden, aber der Gegenstand
ist zu groß, der Arbeit zu viel, und mancherlei körperliche Beschwerden,
obgleich ich gesund im Ganzen, verzögern die Aussührung. Sie, mein
lieber Freund, scheinen den Gegenstand dieses Buchs sehr wohl aus
der letzten Abhandlung herauscalculirt zu haben, was wenige gethan.
da sich die meisten die seltsamsten Vorstellungen davon machen, wobei
ich sie eben so gern lasse, als manche, die da meinen, da ich so lange
nichts geschrieben, müsse es gar aus sein. Bitten Sie Gott, lieber
Freund, daß er mir Krast und srischen Muth besonders gegen die
Anwandlungen einer sonst ganz unbekannten hypochondrischen Laune
gebe, und es wird ein Werk hervorgehen zur Freude aller ausrichtigen
Freunde und zur Beschämung aller Feinde. Hilst Gott, so kommt
es nun ganz gewiß zu Ostern. Ich mag es nicht theilweise aus
geben, sonst hätten zwei Bücher schon ein Iahr srüher erscheinen können."*
Ostern 1812 kommt, aber nicht die Weltalter. Der Streit mit
Iacobi ist dazwischen getreten; Schelling klagt, daß ihm das Buch
einen Monat gekostet und so viel Zeit seiner Hauptarbeit entzogen
habe. „Ich hoffe", schreibt er den 23. Februar 1812 an Pauline
Gotter, „nebst dem schon sertigen Theile der Weltalter noch das erste
Hest der Zeitschrist zur Messe zu bringen." Keines von beiden ge
schieht. Verlobung und Heirath lenken ihn ab. Gegen Ende des
Iahres 1812 vertröstet er Georgii: „Gedulden Sie sich noch kurze
Zeit. Endlich wird das Werk zu Stande kommen. Ich meine die
Weltalter, die, so Gott hilst, zu Ostern kommen.'"
Statt der Weltalter kam der Krieg. „Was meine litterarischen
Arbeiten betrifft", schreibt er den 8. October 1813 an Georgii, „so
warten die Weltalter aus bessere Zeit. In diesem Iahre voller Krieg,
Sturm und Unruhe wollte ich sie nicht dem offenen Meere preisgeben;
' Ebendaselbst. II. S. 244, 250. 256. Briese vom 26. Ianuar und 2. Iuni
1811. - ' Ebendas. II, S. 269 ff. - ' Ebendas. II. S. 291, 295, 334.
Unersüllte Ankündigungen. 165
im Iahr 1814 wird man empsänglicher sür diese Ideen sein, und dann
werden sie auch gewiß nicht länger zurückgehalten.'"
Sie erschienen nicht. Auch in den Briesen ist seitdem seltener
davon die Rede, und es vergehen Iahre, bis hier die Spur des räthsel-
hasten Werks wieder einmal austaucht. „Sie sragen", erwidert
Schelling den 29. Ianuar 1819 dem schwedischen Dichter Atterbom,
.was die Weltalter machen? Nach dem, was ich Ihnen oben erzählt,
können Sie leicht denken, daß ich eben keine große Neigung haben
konnte, an diesem Werk im vorigen Winter und Frühling zu arbeiten.
Wenn ich übrigens bisher gezögert und mich selbst nicht habe überwinden
können, auch nur die letzte Hand anzulegen, so war es hauptsächlich,
weil ich noch immer sühlte, das Ganze nicht so ganz und völlig
nach meinem Sinn aussühren zu können, als ich wollte.
Wenn ich von dieser eigensinnigen Forderung abging, konnte ich das
Werk längst in die Welt schicken. Aber es war doch billig, einmal
auch blos aus die eigene Genugthuung zu sehen, und was kann man
am Ende sür ein höheres Glück begehren, als nur sich ganz auszu
sprechen? Niemand geht so rein durch seine Zeit, daß sich ihm nicht
vieles anhängt, was seinem eigentlichen Wesen gar nicht angehört.
Diese Schlacken wegzuläutern, sich von allem Fremden, Hemmenden
loszumachen und so in völlige Freiheit zu setzen, ist eigentlich das
Schwere, und indes das Positive meines Werks mit Leichtigkeit und
gleichsam im seligsten Genusse schnell und sertig sich bildete, hat jenes
negative Geschäst mich Iahre gekostet und nicht wenig Mühe. Denn
immer blieb noch etwas Störendes zurück, das meinem Ideal eines
durchaus unbesangenen, in Stoff und Form lautern und, daß ich so
sage, allgemeinen menschlichen Werks entgegen war, und es kostete
Arbeit, dies zu entdecken. Nun aber ist auch dies überwunden: ich
stehe aus dem Punkt, wo ich stehen wollte, und es gehören nur noch
wenige von Zerstreuung und andrem Geschäst sreie Stunden dazu, um
das Ganze völlig zu meiner eigenen Genugthuung zu beenden. Ob
darum auch zur Genugthuung des besangenen Theils meiner Zeit
genossen, ist eine andere Frage. Allein nach dieser habe ich niemals
gestrebt und lasse übrigens gern jedem die Freude, sich mit seinen
Fesseln zu brüsten, und die Freiheit, mit seinen Ketten zu klirren. Ich
stehe jetzt aus dem Punkt, nach dem ich immer gestrebt." „Bei dem
es: .Ich hoffe Ihnen binnen Kurzem den ersten Band meiner Vor
lesungen über Mythologie zu schicken, der zweite und dritte werden
unmittelbar solgen". Hätte er diese Versprechungen nur an keinem
andern Tage gemacht, als am ersten April! Einige Wochen später be
kräftigt er die gegebene Aussicht: „Ich kann Ihnen mit Sicherheit die
nah bevorstehende Herausgabe des ersten Bandes meines Werks über
Mythologie ankündigen, es wird den anderen Werken die Bahn brechenV
3. Oessentliche Täuschungen.
Alle diese Versprechungen bleiben eitel. Das Schlimmste war,
daß sie nicht blos in Briesen spielen, sondern dem Publikum gemacht
und so die öffentlichen Erwartungen immer von neuem gereizt und ge
täuscht wurden. Die Weltalter waren sogar im Meßkatalog schon als
erschienen ausgesührt und in der Beilage der Allgemeinen Zeitung an
gezeigt worden (1815). Eschenmayer wollte von Cotta selbst wissen,
daß bereits sünszehn Bogen gedruckt waren, als sie Schelling zurück
nahm. Die Weltalter selbst kamen nicht, aber die Abhandlung über die
Gottheiten von Samothrake erschien als „Beilage zu den Weltaltern" !
Els Iahre später (1826) standen auch die „Vorlesungen über
Mythologie" im Meßkatalog unter den herausgekommenen Schristen;
sie waren unter der Presse und schon sechszehn Bogen gedruckt, als
Schelling auch dieses Werk zurückzog. Zehn Iahre später (1836) las
man im Bücherverzeichniß der Ostermesse, Schellings „Philosophie der
Mythologie" werde demnächst erscheinen; und sechs Iahre srüher wurde
in der Allgemeinen Zeitung aus München berichtet, daß Schelling noch
im Lause dieses Jahres (1830) ein neues Werk herausgeben werde.
Nichts von allem wurde ersüllt. Die Gegner sahen dem Spiele zu
und srohlockten. Salat, „der Quiescirte von Landshut", wie er sich
selbst mit weinerlicher Ziererei nannte, schrieb darüber eine eigene
Broschüre, worin aus der Nichtersüllung dieser immer wiederholten
und Iahrzehnte hindurch sortgesetzten Versprechungen der sreilich nah
gelegte Schluß aus deren Leerheit gemacht wurdet
Von den Weltaltern ist nie mehr vollendet gewesen, als was
Schelling zu zwei verschiedenen malen, in den Iahren 1811 und 1813,
dem Druck übergeben, wieder an sich genommen und von neuem über
arbeitet hat. Es war das erste Buch, der dritte Theil des Ganzen.
Mehr ließ sich auch ans seinem Nachlasse nicht verössentlichen. Wenn
er daher in seinen Briesen öster von der ersolgten Vollendung dieses
Werks redet, so ist die Versicherung salsch und in diesem Fall nicht
aus Selbsttäuschung zu erklären.
4. Beurtheilung.
Die Erklärung liegt in einem Grunde, den Schelling geheim hielt,
und der, abgesehen von jenen eitlen Vorspiegelungen, weit achtungs-
werther ist, als seine gewöhnlichen Gegner ahndeten. Seine Werke ge
nügten ihm nicht; er hatte Recht, an sich den größten Maßstab zu
legen, er mußte es thun. denn die Zeit selbst, die aus ihn erwartungs
voll blickte, hielt ihm diesen Maßstab entgegen, und indem er die
Leistung damit verglich, sand er, daß die letztere zu klein war. Dahcr
die unüberwindliche Scheu vor der Veröffentlichung. Aehnlich urtheilt
auch Steffens. „Schon damals", berichtet er aus dem Iahre 1815.
„wars man Schelling sein mehrjähriges Stillschweigen vor. Eine
Schrist, »die Weltaltere, war schon in dem Entwurs sertig, Cotla
hatte einige Bogen drucken laffen, aber Schelling nahm sie zurück.
Man schien nicht zu begreisen, daß wer eine so bedeutende geistige
Stellung einnahm, wie Schelling, wer sür die Geschichte des Geistes
eine neue Epoche bilden sollte, sich nicht in seiner Gewalt habe. Es
ist der leitende Geist der Geschichte selber, der ihm gebietet und dem
er sich unterwersen muß. Daher liegt ihm ein anderer Maßstab des
Fertigen vor als uns. Wir dürsen schon Versuche wagen, mehr oder
weniger gelungen, denn was einen bleibenden Werth erhält, ist doch
eine gemeinschastliche That.">
Auch die Welt war Schelling gegenüber schwieriger geworden.
Iene erwartungsvolle Empsänglichkeit, die ihn, als er erschien, gleich
sam umsluthet und aus hohen Wellen getragen hatte, war in der
Ebbe; auch aus Seiten des Publikums war die Weise, ihn zu nehmen
und zu beurtheilen, älter, bedächtiger geworden. Er war nicht mehr
der vielumworbene Philosoph. Wie der Erdgeist wollte er in den
Weltaltern „den sausenden Webstuhl der Zeit" beherrschen und der
Gottheit lebendiges Kleid bilden. Wie eine Penelope vertröstete er
die werbenden Freier aus das Hochzeitsgewand und löste wieder aus. was
er gewebt hatte. Unterdeffen hatten die meisten Freier das Haus verlassen.
> Steffens. Was ich erlebte. Bd. VIII. G. 373.
Vereinsamung in München. Die Iahn in Erlangen. 16g
Dreizehntes Capitel.
I. Vereinsamung.
l. Die Zeit der Stille.
Als Schelling von Würzburg nach München ging, war er von
dein Drange, umbildend und religiös aus die Welt zu wirken, mächtig
bewegt, und er schrieb darüber ähnlich an Windischinann, wie zehn
Iahre srüher, in seiner Iünglingszeit, als er aus dem Tübinger Stist
heraustrat, an Hegel.' Auch darin lag eine Selbsttäuschung, denn er
war weder durch seine Gemüthsart, noch durch die Natur seiner in
tellectuellen Kräste, einer jener resormatorischen Charaktere, die un
mittelbar und unwiderstehlich das Leben selbst ansassen. Der Tod
seiner Frau hatte ihn in sich zurückgedrängt und auch seine wissen
schastliche Thatenlust gelähmt. Bald weicht jener Antrieb einem Hange
nach Einsamkeit und verborgenem Leben. „Ich sehne mich immer mehr
nach Verborgenheit", schreibt er schon 1811 an Georgii, „hinge es von
mir ab, so sollte mein Name nicht mehr genannt werden, ob ich gleich
nie aushören werde, sür das zu wirken, wovon ich die lebhasteste Ueber-
zeugung habe." * Mit vierzig Iahren, aus der Mitte seiner Lebens
bahn, sängt er an, in der literarischen Welt gründlich zu verstummen.
Wenn das Klügste ist, nichts drucken lassen, so hat dieser geniale
Schwabe das bekannte Wort seiner Landsleute sast buchstäblich ersüllt.
Und doch war kaum je einem deutschen Philosophen eine so glückliche
Muße gegönnt, die auch von außen wenig und nur vorübergehend ge
trübt wurde. Seine zweite Ehe gewährt ihm ein volles Familienglück,
das durch keine dauernden Sorgen verkümmert, an dem nichts zerstört
wird, er sieht drei Söhne und drei Töchter ausblühen und gedeihen.
Der Tod seiner Eltern - der Vater starb 1813, die Mutter süns
Iahre später - trisst ihn schwer; schmerzlich beklagt er den Verlust
zweier Freunde, die ihm nahe standen; eine gesährliche Krankheit des
Bruders macht ihm Sorgen, eigene Kränklichkeiten störender, nicht be
denklicher Art kommen und gehen.
' S. oben Eap. II. S. 18 ff. Cap. IX. S. 124. - ' Aus Schellings Leben.
U. S. 24?.
179 Vereinsamung in München.
' Ebendas. II. S. 279 ff. - ' Ebendas. II. S. 387 ff.
174 Vereinsamung in München.
N. Die Erlanger
I. Der Freundeskreis.Zeit.
Hier bleibt Schelling sieben Iahre, die wohl zu den stillsten und
behaglichsten seines Lebens gehören, abgerechnet eine längere Krankheit
der Frau, die ernste Besorgnisse erregte, aber durch den Gebrauch von
Karlsbald geheilt wurde. Schon die Nachricht, daß Schelling kommen
und Vorlesungen halten wolle, ries in den akademischen Kreisen sowohl
der Lehrenden als Lernenden die sreudigste Erwartung hervor. Unter
den Prosessoren der Universität hatte sich bereits eine Reihe von Männern
zusammengesunden, die durch srühere Freundschast vereinigt waren und
in Schelling ihren geistigen Führer verehrten. Er kam unter die
Seinigen und bildete, sobald er in diesen Kreis eintrat, den Mittel
punkt. G. H. Schubert war aus Mecklenburg, wo er einige Jahre
Erzieher der Kinder des Erbgroßherzogs gewesen, als Prosessor der
Naturgeschichte nach Erlangen berusen worden und hatte im Frühjahr
1819 seine Vorlesungen begonnen. Hier sand er unter seinen nächsten
Amtsgenoffen Freunde und ehemalige Collegen vom Nürnberger Real-
institut her: Schweigger, der bald nach Halle ging, Ioh. Wilh. Psass
und Kanne; er besreundete sich hier mit dem alten Kirchenrath Vogel,
mit dessen Schüler und Amtsgenosseu, dem Diakonus Engelhardt, mit
dem Arzt und Prosector Fleischmann. der auch Schellings Hausarzt
und Haussreund wurde, und in deffen Garten sich die Freunde in
heiteren Zusammenkünsten während der Sommerzeit ost und gern ver
einigten. „Nicht nur wir", erzählt Schubert in seiner Lebensbeschreibung,
> Ebendas. II. S. 365 ff., 367 ff. — ' In! Iahr 1823 hörte er aus, General,
secrelär der Akademie ber bildenden Künste zu sein, an seine Stelle trat aus de»
Wunsch des Kronprinzen Marlin Wagner.
Die Iahre in Erlangen. 175,
vornehmen Gäste, die spät kommen und srüh gehen. Er hat über
haupt nur wenige Zeit gelesen während der Iahre 1821-1823. Die
Gegenstände seiner Vorträge waren: Einleitung in die Philosophie,
Philosophie der Mythologie, Geschichte der neuern Philosophie. Seine
erste Vorlesung „über die Natur der Philosophie als Wissenschast" be
gann er den 4. Ianuar 1821, im nächsten Semester las er über die
Bedeutung der alten Mythologie, im nächsten Sommer (1822) begann
er die Vorlesung erst den 15. August und schloß sie noch vor Ende
' G. H. Schubert, Selbstbiographie, Bd. III. Abth, 2. S. 511 ff., 543.
176 Vereinsamung in Mimchen,
aber nicht sich, zuletzt sich erkennend. So ist der gesammte Proceß
nur die Bewegung zur Selbsterkenntniß, der Impuls der ganzen Be
wegung das 7v«Si «s«u?6v. „Erkenne was Du bist, und sei, als
was Du Dich erkannt hast, dies ist die höchste Regel der Weisheit.
So also ist die ewige Freiheit in der Indifferenz die ruhende Weis-
». Fischer, »esch. d. neuer» Philos. VII 12
178 Vereinsamung in München.
Auch Gott sei aus diesem Standpunkt nur ein Seiendes. An einer
Stelle seiner Vorlesung warnt Schelling ausdrücklich, das absolute
Subject und Gott nicht zu verwechseln, dieser Unterschied sei sehr
wichtig. „Selbst Gott muß der verlassen, der sich in den Ansangs
punkt der wahrhast sreien Philosophie stellen will. Hier heißt es:
wer es erhalten will, der wird es verlieren, und wer es ausgiebt, der
wird es sinden. Nur derjenige ist aus den Grund seiner selbst ge
kommen und hat die ganze Tiese des Lebens erkannt, der einmal alles
verlaffen hatte und selbst von allem verlassen war, dem alles versank
und der mit dem Unendlichen sich allein gesehen: ein großer Schritt,
den Plato mit dem Tode verglichen. Was Dante an der Psorte des
Insernum geschrieben sein läßt, das ist in einem andern Sinn auch
vor den Eingang der Philosophie zu schreiben: eLaßt alle Hossnung
sahren, die ihr eingeht». „Wer, wahrhast philosophiren will, muß
aller Hossnung, alles Verlangens, aller Sehnsucht los sein, er muß
nichts wollen, nichts wissen, sich ganz blos und arm sühlen, alles
dahingeben. um alles zu gewinnen. Schwer ist dieser Schritt, schwer,
gleichsam noch vom letzten User zu scheiden, dies sehen wir daraus,
daß so wenige von jeher dies im Stande waren."'
3. Platen.
Unter den Zuhörern dieser ersten Vorlesung war der Dichter
Platen, und ich gebe die Schilderung derselben mit den Worten seines
Tagebuchs. Er war seit Hem October 1819 in Erlangen und hatte
aus Schelling in der gespanntesten Erwartung geharrt. „Dieser außer
ordentliche Mann verbreitet ein reiches, unabsehbares Leben über die
ganze Universität. Sein erstes Collegium nach einem vierzehnjährigen
Stillschweigen hielt er am 4. Ianuar im^Glückschen Hörsaale, der
aber die Menge nicht sassen konnte. Er liest von 5 Uhr Abends bis
> S.W. Vd. IX. S.207-296.(S.214ff„ 218-227.) - e ßbendas. S. 217 ff.
Die Iahre in Erlangen, 179
Y oder 7 Uhr. Lange vor 5 Uhr waren alle Bänke voll Sitzender,
alle Tische voll Stehender, das Gedränge an der Thür war so groß,
daß sie ausgehoben wurde und viele zu den Fenstern hereinstiegen.
Viele, die nicht mehr hereinkonnten, hielten die Gangsenster offen, um
von außenher zuzuhören. Fast alle Prosessoren waren gegenwärtig.
Endlich kam er, und die Antrittsrede, die er hielt, bezog sich aus
seine bisherigen Verhältnisse, aus seine in der Stille gepflogenen
Forschungen in München und sein Verlangen wieder öffentlich auszu
treten. Dann begann er die Einleitung zu seinem Vortrage, den er
»juitis, uuivsrsae pki1«s«pkiae« angekündigt. In der zweiten Stunde
beschloß er die Einleitung und sprach von den Forderungen, die er an
seine Zuhörer mache. Er machte kein Geheimniß daraus, daß es
Seelenstärke und Anstrengung ersordere, seinem Ideengange zu solgen
und das Ganze als Ganzes zu überschauen. Er bestimmte eine Sonn-
abendstunde, um ihn zu besuchen und ihm Zweisel und Einwürse vor
zutragen, und sügte hinzu, er scheue sich nicht zu bekennen, durch die
Einwürse seiner Schüler mehr gewonnen zu haben, als durch Gelehrte,
die ganze Bücher gegen ihn geschrieben hätten. Er erinnerte sich mit
Liebe des wissenschastlichen Zusammenlebens in Iena und ermahnte
uns, kleine Cirkel von Freunden zu stisten, in welchen seine Ideen be
sprochen würden. Mit Wärme beries er sich aus den hohen Genuß
einer intellectuellen Freundschast und, gegen geistlose Zerstreuungen ge
richtet, wiederholte er die schönen Worte; severa res verum ßau6ium.
Schellings ganzer Vortrag ist trotz der anscheinenden Trockenheit hin
reißend. Er ersüllt den Geist mit einer unbeschreiblichen Wärme, die
bei jedem Worte zunimmt. Eine Fülle von Anschaulichkeit und eine
wahrhast göttliche Klarheit ist über seine Rede verbreitet, dabei eine
Kühnheit des Ausdruckes und eine Bestimmtheit des Willens, die Ver
ehrung erwecken. So sprach er von dem Subjecte der Philosophie und
von der Aussindung des ersten Prineips, die nur erreicht werden könne
durch eine Zurücksührung seiner selbst zum vollkommenen Nichtwissen,
wobei er den Spruch ansührte: Wenn ihr nicht werdet wie die
Kinder n. s. w. »Nicht etwa«, setzte er hinzu, »muß man Weib und
Kind verlassen, wie man zu sagen pflegt, um zur Wissenschast zu ge
langen, man muß schlechthin alles Seiende, ja - ich scheue mich nicht
es auszusprechen - man muß Gott selbst verlaffen«. Als er dies
gesagt hatte, ersolgte eine solche Todtenstille, als hätte die Versammlung
den Athem an sich gehalten, bis Schelling sein Wort wieder ausnahm
180 Vereinsamung in München.
Macchiavellis Buch vom Fürsten srug er sich: „Kann ich wohl ein
großer Staatsmann werden?" Auch Alsieris Leben gab ihm Spiegel
bilder. Sein poetischer Trieb und sein Bildungsbedürsniß nährten sich
von einer gehäusten und hastigen Lectüre, worüber er beinah alles
productive Krastgesühl verlor. „Lectüre und ewig Lectüre", schreibt
er im Sommer 1818 in sein Tagebuch, „es scheint sast, ich lebe nur,
um zu lesen, oder ich lebe nicht einmal, sondern lese nur". „Ich ver
zage an meiner poetischen Gabe. Es scheint, daß ich eher aus dem
Wege bin ein Litterator als ein Poet zu werden."' Mit seinem
Talent ging sein Geschmack Iahre lang in der Irre. Derselbe Mann,
der den Tiesgang Schellingscher Mystik bewunderte, hatte sich vorher
sür Garves moralische Schristen und Mendelssohns PHSdon begeistert.
Er, der später die modernen Schicksalstragödien, namentlich Müllners
Schuld aristophanisch verspottete, hat eine Zeit gehabt, wo ihn „die
Schuld entzückte und er den ganzen Tag über Müllnersche Verse im
Munde sührte. Und doch war es die Lectüre, die allmähliche Reinigung
und Modellirung seines Geschmacks nach großen Mustern, wodurch sein
Talent zu der ihm gemäßen Entsaltung kam und er der poetische und
nachbildende Sprachkünstler wurde, der in unserer Litteratur einen
dauernden, wenn auch seinem brennenden Ehrgeiz keineswegs gleichen
Ruhm gewonnen hat. Seine Sprachstudien sührten ihn den richtigen
Weg, er lernte sranzösisch, englisch, italienisch, spanisch, portugiesisch,
lateinisch, griechisch, persisch und kam durch die lebendige Bekanntschast
mit den großen Poeten, mit Shakespeare und Byron, Tasso und Alsieri,
Calderon, Camoens, Homer, Horaz, Properz, Goethe u. s. s. in eine
solche Nähe der Meister und in ein solches Formverständniß derselben,
daß er sich ihnen ebenbürtig und gleich sühlte. Er begann seine öffent
liche poetische Lausbahn in Erlangen mit dem Druck der Ghaselen, die
Schelling wahre orientalische Perlen nannte und zu den schönsten
Dichtungen zählte, die er gelesen. Während der Erlanger Iahre sind
die meisten der poetischen Werke Platens empsangen, viele vollendet;
und den Anregungen Schellings hatte er es zu danken, daß er von
dem ästhetischen Kritissiren hingewiesen wurde aus das künstlerische
Schaffen, aus die dramatische Kunst, aus das Studium der griechischen
Dramatiker. Sein erstes Drama „Der gläserne Pantoffel" war Schelling
zugeeignet mit einer Widmung in vortrefflichen Stanzen. Während
> Ueber Puchta vgl. <3. Fr. Puchtas kleine civilistische Schristen, ges. und
herausg. von A. A. Fr. Rudorss. (Leipzig 1351.) S. XIII-I,II. Ueber schellings
Urtheil, Stahls Rechtsphilosophie oetreffend, vgl. Aus Schellings Leben. III.
Die Iahre in Erlangen. l«5
S, Dorsmüller. Die Erlanger Burschenschaft. Schluß der Erlanger Zeit.
In einem weit engeren Sinn, als Platen und Puchta Schellings
Schüler heißen dürsen, wurde es Dorsmüller, der, aus dem Gymnasium
in Bayreuth von Gabler unterrichtet und sür die Hegelsche Lehre em
psänglich gemacht, in einer Zeit nach Erlangen kam (1823), wo Schelling
seine Vorträge bereits eingestellt hatte, hier das Studium der Hegel-
schen Schriften sortsetzte und namentlich die Rechtsphilosophie mit
vierzig bis sünszig Mitgliedern der Erlanger Burschenschast las, dann
aber, nachdem er Platen kennen gelernt und durch diesen bei Schelling
eingesührt worden (1824), sich ganz dem letzteren zuwendete und im
persönlichen Verkehr sein specieller und abhängiger Schüler wurde.
Von jetzt an galt ihm die Hegelsche Philosophie, sür „scholastisches
Blendwerk", Schelling hatte ihn ganz in sich ausgenommen, wie der
Pater Seraphicus im Faust die seligen Knaben. Er wurde später
Gymnasiallehrer in Augsburg und durste den Meister täglich sehen
und sprechen, als dieser im Iahr 1836 drei Monate stiller Zurück
gezogenheit hier zubrachte. Uebrigens urtheilt Dorsmüller von den
Erlanger Vorträgen, deren Wirkung wenigstens er noch selbst beobachten
konnte, daß sie mehr bewundert als verstanden wurden und ansangs
zwar
haltig die
genug
Gemüther
sortwirkten.'
ergriffen und ausregten, aber nicht ties und nach»
schien der Verdacht begründet; die Burschenschaft wurde als eine Art
deutscher Carbonarismus, als eine gesährliche Verschwörung und als
mitschuldig an jener wilden That einer rasenden Verblendung an
gesehen; sie wurde unterdrückt, und die Versolgungen brachen aus,
welche die Karlsbader Beschlüsse organisirten. Indessen dauerte die
Burschenschast sort und nahm durch die Unterdrückung zum Theil den
Charakter eines Geheimbundes an, der an die Stelle vager patriotischer
Empsindungen bestimmtere politische Ziele setzte und eine Vorschule sür
die Bewegungen wurde, die im März 1848 ihre offentliche Lausbahn
begannen. Auch in Erlangen hatte die allgemeine Burschenschaft sehr
lebhafte Theilnahme gesunden, und wie sie überhaupt die höheren In
teressen unter den Studenten in Schwung brachte, so wurde in diesem
Kreise auch der Sinn sür Philosophie genährt, man las Hegels
Schristen und hörte begierig Scbellings Vorlesungen. Ein Mitglied
dieser Burschenschast war Iulius Stahl, der später jene Rechtslehre
ausbildete, die Schelling nicht als die seinige anerkannte, aber die
preußische Reaction der sünsziger Iahre sür den Felsen hielt, aus dem
allein die conservativen Intereffen unerschütterlich ruhten. ^
Daß Schellings Vorträge nicht in weitere Kreise und nachhaltiger
wirkten, lag außer anderen Gründen auch in ihrer aphoristischen
Natur und in dem Mangel der Continuität und des Fortgangs. Da
ihn keine Amtspflicht band, so zog er die Muße dem Katheder vor.
Um aus dem letzteren wieder heimisch zu werden, bedurste er nicht blos
der guten Gelegenheit, sondern des wirklichen Lehramts. Und als sich
ein solches unter ganz neuen und glänzenden Verhältnissen in München
sür ihn eröffnete, solgte er dem Ruse des Königs, in seiner Gesund
heit gestärkt und bewegt von dem sreudigen Vorgesühl einer ernsthasten
Wiedererneuerung seines akademischen Lehrberuss. „Ich sühle schon",
schreibt
geist miter Macht
noch von
überErlangen
mich kommen,
aus ander
seinen
sich Bruder,
hier nicht „den
recht Prosessor-
einstellen
wollte; den Unterschied macht unstreitig das Amt und der Berus.
Ich konnte hier zwar dociren, aber es war keine Pflicht: unwillkürlich
kam ich mir dabei vor, wie einer, der sich produciren will und etwa
ein Concert gibt."^
> Ueber die Burschenschast in Erlangen vgl. Karl Hase, Ideale und Irr»
thümer. Ueber das Wartburgssest vgl. I. Fr. Fries, bargest, von Henke. S. 173
bis 183. - ' Aus Schellings Leben. II. S. 28. Bries vom 12. Iuni 1827. Vgl.
S. 24^26.
Zweiter Ausenthalt und Wirkungskreis in MNnchen. IS7
Zweiter Aufenthalt
Vierzehntes
und Wirkungskreis
Capitel.in München.
(1827-1841.)
I, Neue Verhältnisse.
Max Ioseph hatte sein
1, König
sünsundzwanzigjähriges
Ludwig. Iubiläum als
Bayrischer Herrscher den 16. Februar 1824 geseiert und nicht lange
überlebt. Er starb plötzlich, den 13. October 1825. Mit König Lud
wig kam eine neue, von vielen hoffnungsvoll erwartete, in ihren An
sängen mit Recht gepriesene Zeit. Es war nicht blos kronprinzliche
Politik, sondern eigene Sinnesart, die ihn von der väterlichen Bahn
ablenkte. Seine Kindheit war in die Zeit der sranzösischen Revolution,
sein Iünglingsalter in die der Napoleonischen Weltherrschast und der
ausblühenden deutschen Romantik gesallen; er war der deutsch gesinnte
Kronprinz eines durch sremde Eroberung geschaffenen, durch sranzösische
Staatskunst regierten, in einem großen und mächtigen Theil sranzösi
schen Gesinnungen blind ergebenen Königreichs. Seine Projecte waren,
wie seine Gesinnungen, in ihrer Fassung eigenartig und selbständig, in
ihrer Richtung vaterländisch und romantisch, in letzterer Hinsicht, wie
es der poetische, in ihm selbst gewaltige Zug der Zeit mit sich brachte,
deutsch mittelalterlich und katholisch, aber nicht eng doctrinär, nicht
dogmatisch gesesselt, sondern phantasievoll und erweitert durch einen
echten, hochbegabten, nicht blos sür einen Fürstensohn seltenen Sinn
sür die bildende Kunst. Die deutsche Gesinnung trug ihn weiter als
der katholische Glaube, die Liebe zum Vaterlande und zur Kunst weiter
als die Ergebenheit sür die römische Kirche. Er war ein Schüler des
srommen und duldsam gesinnten Sailer, ein Bewunderer des Iohannes
von Müller, dieses Erneuerers echter Geschichtsschreibung, ein begeisterter
Freund der Griechen. Die Romantik konnte in König Ludwig ihren
modernen und liberalen Ursprung nicht verleugnen, aber zugleich lebte
in seiner GemütlMrt ein starker Rest von dem sürstlichen Absolutis
mus des achtzehnten Iahrhunderts, der mit den Iahren und den Zeit-
verhältnissen immer schärser hervortrat, ihn der Reaction zutrieb und
seine deutsche und kirchliche Gesinnung verengte.
18« Zweiter Ausenthalt
Vorlesungen mit großem Ersolge begann. Puchta kam ein Iahr später,
aus Würzburg der Anatom Döllinger, aus Heidelberg der Iurist
Maurer; unter den außerordentlichen Prosessoren der theologischen
Facultät besand sich Döllinger, unter den Privatdocenten der juristischen
I. Stahl, der hier seine akademische Lausbahn begann. Eine Sensations
berusung wagte der König aus eigenem Gesallen, weil der Mann
seinem Sinn entsprach: Ioseph Görres. der dreißig Iahre srüher
(1797) als deutscher Iakobiner extremer Art, als neusränkischer leiden
schastlicher Republikaner „das rothe Blatt" in Coblenz redigirt, dann
sich gegen Napoleon erklärt, im Ansange des Iahrhunderts durch die
Naturphilosophie den Uebergang in die Romantik gemacht, nach der
Entscheidung der Freiheitskriege, in den Iahren 1814-1816, den
Rheinischen Merkur herausgegeben und hier im Sinne Steins die
deutsche Reichsidee und deren Verwirklichung in der Form des Kaiser
thums mit einer Energie und einem moralischen Ersolge gesordert
hatte, daß sein Blatt die sünste Großmacht gegen Frankreich genannt
wurde. Diese größte seiner publicistischen Thaten brachte ihm von
seiten Preußens Versolgung, von seiten des Bayrischen Kronprinzen
Beisall. Er hatte dann sür die landständische Versassung der Rhein
lande agitirt, gegen die Karlsbader Beschlüsse und die Fürstencongresse
eine Reihe von Schriften versaßt (1819-1822): „Deutschland und
die Revolution", „Europa und die Revolution", „die heilige Allianz
und die Völker aus dem Congreß zu Verona". Nachdem gleich die
erste dieser Schriften conssiscirt worden, suchte er seine Zuslucht in
Feindesland. Sein Ideal war das deutsche Reich und die katholische
Kirche. Er gab in Straßburg eine Zeitschrist „Der Katholik" heraus,
als ihn König Ludwig, der mit diesen Idealen sympathisirte, im Iahr
1827 als Prosessor der Geschichte nach München beries. Eine Lehr
krast war Görres nicht, er besaß die Beredsamkeit eines Agitators, das
Talent und die durch ausgeregte Zeiten gehobene Macht eines gewaltigen
Publicisten, aber nicht den geordneten, durch lehrende Mittheilung
wirksamen Geist des Katheders. Schon in Heidelberg hatte er gezeigt,
daß die akademische Lehrausgabe nicht seine Sache sei. In München
las er ein ganzes Semester von der Schöpsungsgeschichte bis zur
Sündfluth.
An dieser neuen, durch den König begründeten Universität durfte
Einer nicht sehlen, den schon der Kronprinz hochgehalten: Schelli» g,
der in München bereits amtlich angesiedelt war, nur urlaubsweise in
190 Zweiler Auscntholt
Erlangen sich aushielt, gelockt von der Universitätsstadt lmd der Mög
lichkeit, wieder einmal akademisch lehren zu können, ein Mann, der
durch seine Celebrität jeder Universität zum Ruhme gereichen mußte.
Die Berusung geschah unter Bedingungen ausgezeichneter Art, der
König ernannte ihn den l l. Mai 182? zum Generalconservator der
wissenschastlichen Sammlungen des Staats, die Akademie wählte ihn
zu ihrem Vorstand. Seine Gegner waren wirkungslos; Weiller, zu
letzt
standGeneralsecretär
versetzt>, Salat
dergegen
Akademie,
seinen wurde
Wunschausin seinen
Landshut
Wunsch
gelassen,
in 3luhc-
von
abgeneigt. - ' Schelling in München: eine litt, und akad. Merlwürdigleil. Mit
Verwandtem. Von I. Salat. II. Hest. 1845. S. 127.
und Wirkungskreis in München. 191
gekommen, sie sah sich mit einem male aus der bisherigen unnatür
lichen Lage einer künstlich erzwungenen Einrichtung von provinziell
Bayrischem Charakter unter Bedingungen gesetzt, die sie in einen
lebendigen Zusammenhang mit den Bildungsanstalten des Landes und
in eine Versassung brachten, die der Ausgabe einer rein wissenschast
lichen und sruchtbaren Wirksamkeit von nationaler Bedeutung ent
sprach. Ans einer gegebenen Vereinigung von Gelehrten kann sich das
Bedürsniß eines wissenschastlichen Zusammenwirkens im höchsten Sinn
entwickeln und daraus aus natürlichste Weise eine Akademie hervor
gehen, während aus dem entgegengesetzten Wege, wo in der Absicht,
eine Akademie zu machen, gelehrte Leute zusammengesucht werden, nur
ein künstliches und local beschränktes Gewächs zu Stande kommt. Nun
war in der Bayrischen Hauptstadt eine solche natürliche Vereinigung
von Gelehrten nur herzustellen durch eine Universität, die der Akademie
die lebendige Voraussetzung, den beständigen Zusluß, die vorhandene
Sammlung wissenschastlicher Kräste gab, Vermittlungen, wodurch sie
in die Reihe der wissenschastlichen Bildungsanstalten des Landes als
' Fr. Thierschs Leben. I. S. 299 ff. S. 342-346. Bries an Lange. Spät»
herbst 1827.
192 Zweiter Ausenthalt
religiöse Monumente erschafft und jenen andern blos aus das physische
Wohl sich beziehenden Schöpsungen der Zeit Werke der Kunst als
mächtiges Gegengewicht an die Seite stellt. „Ruhmwürdig ist, wer
immer die Wirksamkeit des Göttlichen in der menschlichen Natur zu
erhalten sucht, am ruhmwürdigsten, der es mit den größten Mitteln,
mit tieser Einsicht und aus eigenster, innerster Bewegung thut/"
Diese Festreden waren, wie es die Gelegenheit mit sich sührte,
zum Theil auch Gcdächtnißreden zu Ehren verstorbener Mitglieder der
Akademie; darunter sanden sich bayrische Specialgrößen, die der Akademie
als Ehrenmitglieder angehört hatten, wie Montgelas, Zentner, Fürst
Wrede; dann einheimische Akademiker, wie Lorenz Westenrieder, der
Geschichtsschreiber der Akademie ^, der Philosoph Socher, der Geologe
von Moll, der Anatom Döllinger u. a.; unter den auswärtigen Mit
gliedern waren zwei große Namen zu seiern: Schleiermacher und
de Sacy. Als Platen in Syrakus gestorben war, gedachte Schelling
seiner am Iahrestage der Akademie 1836 in ehrenvoller Weise und von
sich aus schmerzlich bewegt.
Von diesen akademischen Reden ist die interessanteste und sür ihn
selbst bedeutsamste die Festrede vom 28. März 1832, worin Schelling
der Akademie die eben gemachte große Entdeckung Faradays ver
kündete und zeigte, wie die Magnetelektricität ergänzend und vollendend
eingreise in die Reihensolge der Ausgaben, die der Galvanismus her
vorgerusen, und die zusammen dessen Entwicklungsgeschichte ausmachen:
wie Galvanis Entdeckung durch Volta sestgestellt, dann die chemischen
Wirkungen der Säule durch Davy (Elektrochemismus), die magnetischen
durch Oersted (Elektromagnetismus) entdeckt wurden und nur übrig
blieb, auch die elektrischen Wirkungen des Magnetismus experimentell
darzuthun, was Faraday eben jetzt geleistet. Diese Entdeckung sei bei
weitem das Ersreulichste, was seit langer Zeit im Gebiet der Wissen
schaften sich begeben. Iener Zusammenhang des Magnetismus, der
Elektricität und des chemischen Processes, den er in den Ansängen
seiner Naturphilosophie schon vor Volta behauptet, sei jetzt experimentell
bewiesen. Hier sieht Schelling den Convergenzpunkt der Naturphilosophie
und Experimentalphysik, das Einverständniß seiner ersten Grundgedanken
mit den Ergebnissen der exacten Forschung. In der Rede des sieben-
' Ebendas. (2S. August 1836.) S. 474-476. - ' 27. Mörz 1829. Zwei
Iahre vorher hatte die Akademie das sünszigjährige akademische Iubiläum dieses
Mannes in allgemeiner Sitzung geseiert.
«. Fischer, «esch. d. neuern Philo?, VII I3
194 Zweiter Ausenthalt
in dessen Geist und, wie ich hinzusetzen dars, in dessen Herzen Deutsch
land sür alles, wovon es in Kunst oder Wissenschast, in der Poesie
«der im Leben, bewegt wurde, das Urtheil väterlicher Weisheit, eine
letzte versöhnende Entscheidung zu sinden sicher war. Deutschland war
nicht verwaist, nicht verarmt, es war in aller Schwäche und inneren
Zerrüttung groß, reich und mächtig von Geist, so lange Goethe
lebte."'
3. Die Universität.
Das Gebiet seiner Hauvtwirksamkeit war das akademische Lehr
amt. Er lehrte in drei Abtheilungen sein System: den ersten Theil
bildete Einleitung und Begründung, die Einleitung bestand in einer
Auseinandersetzung des „philosophischen Empirismus", die Begründung
seiner neuen Lehre, die sich als positive Philosophie bestimmte, ge
schah durch die Geschichte der neuern Philosophie seit Descartes; die
beiden Haupttheile waren die Philosophie der Mythologie und der
Offenbarung.
Bald nach seinem Auftreten schreibt Thiersch in dem schon erwähn
ten Briese aus dem Spätherbst 1827: „Schelling hat ein sehr zahl
reiches und treues Auditorium um sich versammelt und weiß es trotz
der Schärse und Tiese seiner Speculation sestzuhalten durch Geist und
wenigstens in den meisten Vorträgen sichtbare Popularität. Auch eine
beträchtliche Anzahl halber und ganzer Graubärte hören ihn, unter
ihnen Niethammer, ich selbst, dann Abgeordnete, Geistliche u. s. s. Gegen
Hegel ist er schars und mit großer Entschiedenheit ausgetreten, daß er
seine, Schellings, Philosophie durch salsche Wendung verdorben habe,
die Natur in ein Herbarium getrockneter Kräuter verwandelt u. s. s.
Gute Köpse habe er (Hegel) noch keine zu Grunde gerichtet, weil sich
noch keine zu ihm gewandt, aber dagegen viele mittelmäßige mit einem
unleidlichen Dünkel und Hochmuth ersüllt. Mich ziehen seine Vorträge
besonders durch ihr Verhältniß zu den alten Systemen der Eleaten,
Pythagoreer und Platoniker an, die darin eine lebendige Bedeutung
lmd Beziehung haben." Ein halbes Iahr später berichtet Thiersch:
„Schelling ist, exutis novus exuviis, wie in srischer Iugend bei uns
wieder ausgetreten, und seine Vorlesungen haben den glänzendsten Er-
solg, ungeachtet sie ties sind und schwer gehen; doch der Geist und der
Name des Mannes überwiegt alles. Bei der Revision der neuen
Philosophie seit Cartessius bis aus ihn selber kam auch eine Schilderung
von Iacobi, die so unbesangen und Iacobi ehrend war, daß sie selbst
Niethammer, der wie ich und nicht wenige ältere ihn regelmäßig hört,
vollkommen besriedigte. Gegen Hegel ist er mit derselben Entschieden
heit wie gegen Baader ausgetreten, dessen Größe sast schon bei der ersten
Berührung mit Schelling, der ihn gar nicht mit Namen nannte, zu
sammengesallen ist."!
Unter seinen Zuhörern war auch Puchta, der seine Begeisterung
sür Schubert und Schelling in einem Gedichte aussprach, worin er jenen
mit dem Sckwan, diesen mit dem Löwen verglich:
Nu kennst den Löwen - seine gelben Locken
Hat er geschüttelt in der Iugend Tngen,
Ietzt, da sie schon bestreut mit weißen Flocken,
Sinnt er und sinnt, den neuen Kamps zu wagen
Und jene Krast, vor der die Flur erschrocken,
Zum letzten mal ins offne Feld zu tragen,
Zum letzten mal die träge Zeit zu meistern
Und alle srischen Herzen zu begeistern.'
Fünszehntes Capitel.
Schellings Universitätsvorlesungen in München. Propädeutik
zur positiven Philosophie.
> Fr. Thierschs Leben. I. S. 346. 349. Bries an Iacobs den 6. Febr. 182s.
- ' Vbendas. I. S. 296. Das Gedicht »Aurora' ist aus dem Iahr 1835. Vgl.
oben Cap. XIII. S. 253-257.
Propädeutik zur positiven Philosophie. 197
anreihen, daß wir sie, gleich jenen, hier, an ihrem biographischen Ort,
charakterisiren.
Den 26. November 1827 hielt Schelling seine erste Vorlesung
vor den Studirenden und entwars in dem großartigen Stil, der ihm
zu Gebote stand, seine Ausgabe und seinen Standpunkt. Sein leb
haftester Wunsch sei ersüllt, er sei als Lehrer in dieses Land gekom
men, aber leider srüh, zu srüh sür seinen eigenen Wunsch verstummt,
in dem eigentlichen Bayern habe er nie gelehrt, jetzt zum ersten mal
trete er als öffentlicher Lehrer der Bayrischen Iugend gegenüber, sür
die er eine tiese Zuneigung, zu deren Fähigkeiten er das größte Ver
trauen hege; seine Lehrgabe sei beschränkt, sie könne sich nur äußern,
wo er sich srei sühle und aus Liebe zur Philosophie, nicht aus Zwang
gehört werde. Gezwungenen Zuhörern sei er stumm ; das bloße Lernen
lasse sich zwingen, aber Philosophie sei sreie Liebe und diese nicht lern
bar, nicht erzwingbar. Nur in der sortschreitenden, dem Ziele unab
lässig zustrebenden Bewegung sei die Philosophie lebendig. „Wie kann
man etwas, das im Werden, in stets lebendiger, nie ruhender Fort
bewegung ist, als etwas Abgestorbenes, Fertiges, gleichsam Vorhandenes
behandeln, aus welches man, wie aus.das Erzeugniß einer Manusactur,
seinen Stempel drückt?" „Wo die Philosophie durch directen oder in
directen Zwang gehemmt wird, gleicht sie einem gesangen gehaltenen
Adler, dem seine wahre Heimath, die Felsenspitze, verwehrt ist." Philo
sophie sei keine Fach- oder Brodwissenschast. Nicht um Philosoph zu
werden, studire man Philosophie, sondern um große und zusammen
haltende Ueberzeiigungen zu gewinnen, ohne welche es keine Würde des
Lebens giebt. Solche Ueberzeugungen wollen srei erzeugt, srei em
psangen sein; daher dürse hier am wenigsten ein Zwang geübt werden.
Er danke es dem Könige, daß er als sreier und sreiwillig gehörter
Lehrer der Philosophie wirken und die langjährige Schuld an das
Waterland bezahlen könne.
Er nimmt zur Charakteristik seiner Lehrausgabe den Standpunkt
mitten in jener Grundanschauung, die in allen Entwicklungsphasen
seiner Lehre die Ursorm bildet. Die Philosophie habe im Grunde
keine anderen Gegenstände als die anderen Wissenschasten auch, nur
sehe sie dieselben im Lichte höherer Verhältnisse und begreise deren
einzelne Gegenstände, das Weltsystem, die Pflanzen- und Thierwelt,
den Staat, die Weltgeschichte, die Kunst, nur als Glieder eines großen
Organismus, der aus dem Abgrunde der Natur, in dem er seine
198 Schellings Universiintsvorlesungen in München.
Wurzel hat, bis in die Geisterwelt sich erhebt. Die Philosophie lasse
den, der sie in ihrer Tiese ersaßt, nicht ruhen, ehe er auch in die
Tiesen der Natur und der Geschichte geblickt habe. In beiden Reichen
seien neue Thatsachen an das Licht getreten, deren Erklärung höher
gestellte Begriffe verlange; Ansichten, die vor achtundzwanzig Iahren
als speculative Träume erschienen, seien jetzt durch das Experiment vor
Augen gelegt, so z. B. der Zusammenhang des magnetischen, elektrischen
und chemischen Processes durch die elektrochemischen und elektromag
netischen Wirkungen der Voltaschen Säule. Wohin man blicke, überall
sehe man die Anzeichen der Annäherung jenes Zeitpunkts, den die be
geisterten Forscher aller Zeiten vorausgesehen, wo die innere Iden
tität aller Wissenschasten sich enthülle, der Mensch endlich des
eigentlichen Organismus seiner Kenntnisse und seines Wissens sich be
mächtige, der zwar ins Unendliche wachsen und zunehmen könne, aber
ohne in seiner wesentlichen Gestalt sich weiter zu verändern, wo endlich
die vieltausendjährige Unruhe des menschlichen Wissens zur Ruhe komme,
und die uralten Mißverständnisse der Menschheit sich lösen. Diesen
Standpunkt habe die Philosophie vor länger als einem Vierteljahr
hundert errungen. Seitdem sei kein anderes System erschienen. Was
sich Geltung erworben, gebe sich selbst nur sür Verbesserung, sür
Vollendung des damals Gewonnenen. Er selbst habe das Werk vor
einem Menschenalter begonnen und komme jetzt, es zu vollenden. Darin
vergleiche sich sein gegenwärtiges Austreten in München mit seinem
ersten in Iena. Es handle sich jetzt um den letzten Durchbruch in das
sreie offene Feld objectiver Wissenschast, wie damals um den ersten;
beide male war ein solcher Durchbruch gleich ersehnt, gleich ungeduldig
erwartet und ihm als eine zweisache Geistesthat, die nur er entscheiden
könne, aus die Seele gelegt. ^
Schellings persönliches Ansehen und die Macht seines Worts ge
wannen ihm bald einen Einfluß aus die Studirenden, der gelegentlich
eine gewaltige Probe bestand. Die Veranlassung war schlimm genug.
König Ludwig, bei seiner Vorliebe sür alte religiöse Gebräuche, hatte
im Iahr 1830 das Oberammergauer Passionsspiel und in München
die alterthümlichen Christmetten wiederausleben lassen: in Folge der
mitternächtlichen Gottesdienste in den Hauptkirchen der Stadt gab es
Unruhe aus den Straßen und allerhand studentischen Unsug, wogegen
Wols, von hier zu Kant, Fichte und dem System des transscendentalen
Idealismus, zur Naturphilosophie und Identitätslehre. Hier erblickt
Schelling sich selbst geschichtlich aus der höchsten Stuse der negativen
Philosophie, von ihm in eine Methode und Versassung gebracht, welche
dicht vor der Vollendung, vor dem Durchbruch in die positive Philosophie
steht. Wer diesen Durchbruch nicht sindet, vielmehr den Rationalismus
noch weiter treiben will, geräth ins Monstrose und kann in der Ent
wicklung der Philosophie keine Katastrophe, sondern nur eine Episode
bilden, die nichts als ein unsruchtbares und ödes Spiel ausrichtet, ein
gelegt, wie ein Intermezzo, zwischen den Act der Begründung und den
der Vollendung des letzten Systems der Philosophie. Eine solche Episode
sei die Lehre Hegels.
Die Philosophie wird sormell oder negativ srei durch die Los
reißung von der Autorität, durch den Zweisel, der ihre Erkenntniß
unabhängig macht; wahrhast oder positiv srei wird sie erst durch die
Propädeutik zur positiven Philosophie.
Einsicht in das Wesen der Freiheit. Den Ansang der völlig sreien
Philosophie im negativen Sinn entscheidet Descartes krast des
Zweisels; Schelling bemerkt dabei, wie eine vorbedeutende Thatsache,
daß diese Begründung der neuen Philosophie in Bayern geschah; er
läßt auch nicht unerwähnt, daß sich das Psälzische Fürstenhaus den
Philosophen günstig gezeigt, die Prinzessin Elisabeth verehrte Descartes,
ihr Bruder Karl Ludwig beries Spinoza nach Heidelberg, ihre Schwester
Sophie und deren Tochter schätzten Leibniz.'
Als den wichtigsten Punkt der cartesiauischen Lehre nimmt er den
Beweis vom Dasein Gottes, das ontologische Argument, wonach Gott
nothwendig existirt, und sich die ganze Lehre in diesem ihrem höchsten
Begriff selbst als Nothwendigkeitssystem ausprägt. Gott existirt noth
wendig. d. h. es ist unmöglich, daß er nicht ist; die Möglichkeit des
Nichtseins ist von ihm ausgeschlossen, also auch die des Seins, denn
nur so lange ist etwas blos möglich, als auch sein Gegentheil möglich
ist. Wenn aber Gott blos nothwendig existirt und ihm gar keine
Möglichkeit seiner selbst vorausgeht, so sehlt die Bedingung, aus der
er sich selbst hervorbringt, so ist er unlebendig, unsrei und als der
nothwendig Existirende zugleich „der blindlings Existirende". Aus diese
Weise werde an Gott nichts als die bloße Nothwendigkeit begriffen.
Was^ über diese hinzukomme und Gott eigentlich erst zu Gott mache,
dieses Plus gehe nicht ein in die Erkenntniß und Lehre des Descartes.'^
Das ist der Punkt, um den sich in der rationalen Philosophie
alles dreht und in dem das Denken gesangen liegt : der Begriff Gottes
als eines blos nothwendig existirenden Wesens. Aus diesem Begrisse
ruht die Lehre Spinozas. Ohne vorausgehende Möglichkeit in Gott,
giebt es in ihm keine lebendige Selbsterzeugung, keine Freiheit, keine
Potenz: er ist der blind und subjectlos Existirende, das potenzlos
Seiende, das unversehene (blinde) Sein, in der That eine »existentia,
totalis«, weshalb denn auch die ganze Lehre Spinozas den Charakter
des Fatalismus trägt. In diesem Urtheil sinden wir Schelling in
wörtlicher Uebereinstimmung mit Iacobi. Spinozas Einheitslehre hatte
ihn srüh ersaßt. Er rechnet ihn auch jetzt noch unter die unvergäng-
' Schelling irrt, wenn er den Kursürsten, der Spinoza berusen wollte, Karl
Friedrich nennt und ein anderes mal meint, daß Leibniz seine Theodicee sür die
Kursürstin Sophie von Hannover geschrieben, sie war aus den Gesprächen mit
deren Tochter Sophie Charlotte, der ersten Königin von Preußen, hervorgegangen.
- » S. W. Bd. X. Zur Geschichte der neuern Philosophie. S. 14-22.
202 Schellings Universiläisvorlesungen in München.
Mg; er nahm das Ich zum alleinigen Princip, aber das menschliche
Ich, das bewußte und wollende Subject und versperrte sich dadurch
den Weg. unr das System unserer nothwendigen Vorstellungen , d. h.
die Weltvorstellung zu erklären. Was wir nothwendig produciren. das
erzeugen wir nicht willkürlich und bewußt, sondern blind, das ist nicht
im Willen, sondern in der Natur des Ich gegründet. Gegen die
Natur verhielt sich Fichte nicht erklärend, sondern abweisend und un
willig negirend. Dieses Urtheil über Fichte macht es unserem Philo
sophen leicht, den transscendentalen Idealismus und dessen Methode
sär sich in Anspruch zu nehmen und als seine Entdeckung oder Er
sindung zu behaupten. Einen großen Theil Fichtescher Einsicht setzt
hier Schelling aus seine Rechnung und verwirrt dadurch den Conto
der nnchkantischen Philosophie. Es ist nicht richtig, daß Fichte das
Ich als Princip aus das menschliche Ich beschränkt und nicht auch als
bewußtloses oder blindes Produciren gesaßt habe, vielmehr hat er das
letztere gerade in dem schwierigsten Theil seiner Wissenschastslehre be
wiesen. Es ist ebenso salsch, ihm die Methode der sortgesetzten Steige
rung oder Potenzirung des Subjectiven abzusprechen, vielmehr hat
gemde er die Grundsorm dieser Methode gegeben und besolgt, sie war
durch die Wiffenschastslehre selbst gesordert. Seine Lehre von der Ein
bildungskrast beweist, daß er die bewußtlose Production dem bewußten
Ich als Grundthätigkeit voraussetzt; seine „pragmatische Geschichte des
Geistes' beweist, daß die Methode, die Schelling und Hegel sortgesührt
haben, von ihm herrührt. ^ Hegel bestreitet nicht, daß er die Form der
Methode von Fichte entlehnt und dieser sie vorgebildet, Schelling da
gegen spricht sie Fichten ab und beschuldigt Hegel, daß er sie ihm ent
wendel habe.
Richtig ist, daß Schelling sich des Gedankens bemächtigt hat, der
innerhalb der Wiffenschaftslehre zur Geltung und Anlage, aber nicht
zur Durchsührung kam, daß er das bewußtlose Ich (die Natur des
Ich) gleichsetzte der Natur. Um die Nothwendigkeit der Vorstellungen
<die Weltvorstellung) zu erklären, mußte mit dem Ich zurückgegangen
werden zu einem Moment, wo das Ich seiner noch nicht bewußt war,
in eine Region jenseits des Bewußtseins, zu einer Thätigkeit, deren
Ende und Resultat erst das erlangte Bewußtsein ist, und welche selbst
in der Arbeit des Zusichselbstkommens . nicht im Bewußtsein, sondern
als ihm gebührt, denn auch Fichte hatte schon in seiner Grundlage der
gesammten Wissenschastslehre „die Geschichte des Geistes" versucht genau
in demselben Sinn und nach derselben Methode, die einsach aus den
Principien der Wissenschastslehre solgte und gesolgert war. Als ob
diese Voraussetzung gar nicht vorhanden wäre, erklärt Schelling in
seinen Münchener Vorlesungen, indem er das Studium seines Systems
des transscendentalen Idealismus empsiehlt: „Man wird hier schon
jene Methode in voller Anwendung sinden, die später nur in größerem
Umsange gebraucht wurde; indem man diese Methode, welche nachher
die Seele des von Fichte unabhängigen Systems geworden ist. hm
schon sindet, wird man sich überzeugen, daß diese gerade das mir
Eigenthümliche, ja dergestalt Natürliche war, daß ich mich derselben
sast nicht als meiner Ersindung rühmen kann, aber eben darum knnn
ich sie auch am wenigsten mir rauben lassen oder zugeben, daß ein
anderer sich rühme sie ersunden zu haben."'
arbeitet, dieser habe von Schellings Lehre nur die logische Natur ein
gesehen und selbst nicht mehr gewollt, als die logische Gestalt des
Systems ausbilden. Hätte er dies gethan mit dem richtigen Bewußt
sein der Grenze, mit der genauen Unterscheidung des Logischen und
Realen, so möchte sein Versuch aus dem Felde der blos negativen Philo
sophie eine gewisse Geltung haben. Aber er hat das Logische an die
Stelle des Realen gesetzt, er hat den Anspruch gemacht, daß der Be
griff alles sei, daß er außer sich nichts zurücklasse, er hat versucht,
von dem abstractesten Begrisse aus durch einen logischen Fortgang, den
er Methode nannte, mitten in die Wirklichkeit einzudringen, in die
Realität der Welt und Gottes. So häuste er Täuschung aus Täuschung,
und sein Werk wurde ein Monstrum an Leerheit. Erst wurde der
Begriff gleichgesetzt der Wirklichkeit und damit der Grundirrthum der
Wolsischen Ontologie erneuert; dann sollte dem leeren Begriff eine
Selbstbewegung inwohnen, die den nothwendigen und methodisch ge
ordneten Weg bilde aus der Welt der Begriffe in die wirkliche Welt.
Dieser vermeintliche Fortgang ist eine grobe Täuschung, es ist nicht
der Begriff, der den Trieb zur Fortbewegung in sich, sondern der
Philosoph, der die Vorstellung der wirklichen Welt als Ziel vor sich
hat, es ist mithin die Anschauung, die ihn treibt, die er bei seiner
sogenannten rein logischen Methode zwar sortwährend verleugnet, aber
sortwährend unterschiebt. Hier ist im Munde Schellings jener Einwurs,
aus welchem andere ihr ganzes Vermögen zur Widerlegung Hegels ge
macht haben. Es wäre unmöglich, bei jenem Fortgange aus dem
bloßen Begriff zur Realität auch nur den Schein einer Methode zu
erkünsteln, wenn Hegel nicht Schellings Ersindung benutzt und davon
den doppelt salschen Gebrauch gemacht hätte, dieselbe sich anzueignen
und verkehrt anzuwenden. Er hat die von Schelling entdeckte Methode,
die von der Natur der Dinge gilt, aus die Begriffe übertragen, wo
sie nicht gilt. Das Ziel aber, woraus es abgesehen und die ganze
Rechnung gestellt war, mußte versehlt werden, denn der bloße Begriff
kann nicht heran an die Wirklichkeit. Wo daher die Logik am Rande
ihres Gebietes ist und der Uebergang stattsinden soll von der Idee zur
Natur, da kommt der böse Punkt, der garstige breite Graben, wo der
logische Faden reißt, die dialektische Bewegung nicht weiter kann, die
Wortkünste nicht helsen und der religionsphilosophische Sprung umsonst
versucht wird: bald heißt es „die Idee sällt von sich ab", bald „sie
entschließt sich, sich als Natur aus sich zu entlassen" u. d. m. Es soll
«. Fischer. Gesch. d. neuern Philos. VN 14
210 Schellings Ilniversitätsvorlesungen in München.
scheinen, als ob ein logischer Act die Wirklichkeit erzeuge, während doch
die Unmöglichkeit einleuchtet, ihn zu sassen, und selbst die Worte einen
Willensact bekennen. Auch der Hervorgang der Welt aus Gott wird
unter den Schein einer nothwendigen Emanation gestellt: Gott ent
äußere sich zur Welt und kehre im menschlichen Gottesbewußtsein zu
sich zurück, worin allein er sein eigenes habe. „Damit", so spottet
Schelling, „ist wohl die tiesste Note der Leutseligkeit sür dieses System
angegeben; es läßt sich danach bereits ermessen, in welchen Schichten
der Gesellschast es sich am längsten behaupten mußte." „Es ist leicht
wahrzunehmen, daß diese neue aus der Hegelschen Philosophie hervor
gegangene Religion ihre Hauptanhänger im sogenannten großen
Publikum gesunden, unter Industriellen, Kausmannsdienern und anderen
Mitgliedern dieser in anderer Beziehung sehr respectabeln Classe der
Gesellschast; unter diesem nach Ausklärung begierigen Publikum wird
sie denn auch ihre letzten Stadien verleben."
Die ganze Hegelsche Lehre quält sich mit der unmöglichen Aus
gabe: das Wirkliche ohne Rest logisch auslösen, logisch sormuliren zu
wollen, was der logischen Formel widerstrebt und nie in dieselbe ein
geht. Darin liege ihre Verkünstelung, Unnatur, Unverständlichkeit,
welche letztere namentlich keineswegs in der Individualität des Philo
sophen ihren Grund habe, sondern in der Sache selbst. „Es geschieht
ost, daß Köpse mit großer Uebung und Geschicklichkeit, aber ohne
eigentliche Ersindungskraft an mechanische Ausgaben sich machen, z. B.
eine Flachsmaschine zu ersinden; sie bringen auch wohl eine zusammen,
aber der Mechanismus ist so schwierig und verkünstelt oder die Räder
knarren dermaßen, daß man lieber wieder aus die alte Art den Flachs
mit der Hand spinnt. So kann es auch wohl in der Philosophie
gehen." Lieber die Last der Unwissenheit als die Marter eines un
natürlichen Systems.'
Die ganze Macht, welche Schelling gegen Hegel ins Feld sührt,
concentrirt sich in dem Satz: daß logische Verhältnisse nicht in wirk
liche umgesetzt werden dürsen, daß der logische Begriff das Reale als
solches nicht sasse. Die Einbildung, daß er es vermöge, sei die Selbst
täuschung und das Trugbild nicht blos der Hegelschen Lehre, sondern
des Rationalismus überhaupt. Niemand habe das schärser gesehen,
deutlicher erkannt, öster wiederholt als Iacobi. Es war sein »oeteruir,
' Ebendas. S. 126 -164. Die letzte Vergleichung ist aus einem älteren
Erlanger Manuscript.
Propädeutik zur positiven Philosophie. 211
Systeme des Empirismus und sindet keines von beiden. Die Ausgabe
ist die schwierigste. Aus der Thatsache der Welt sollen durch eine Ana
lyse derselben die positiven Bedingungen, die sie hervorbringen, aus
gesunden und als „Potenzen in Gott" entwickelt werden. Daher ist
das Erste, die Thatsache der Welt hervorzuheben, zu zeigen, was an
der Welt, die eigentliche, die reine Thatsache ist. Diese auszumitteln
haben alle Systeme versucht; keines habe sie tieser ersaßt und ersassen
können, als das Resultat aller vorhergehenden Untersuchungen: die
Naturphilosophie, die in der Welt eine stetige Entwicklungsreihe
erkannt, worin das Subjective sortschreitend sich von Stuse zu Stuse erhöhe
und immer mehr das Objective überwinde; dieses in seinem größten
Uebergewicht sei die bloße Materie; das Subjective, das sich selbst ob
jectiv werde, sei das menschliche Bewußtsein; der Stusengang von der
bloßen Materie zum Bewußtsein (Durchbruch des Subjectiven) sei die
Natur, die eine zusammenhängende Linie bilde, deren Enden auslausen
in die Pole des Objectiven und Subjectiven: daher das Gesetz der
durchgängigen Polarität der Natur, die Vergleichung derselben mit der
magnetischen Linie. Setzen wir als den einen Pol die Natur selbst
bis zu ihrer höchsten Entsaltung (menschliches Bewußtsein), als den
anderen die Geschichte des Geistes bis zu ihrer höchsten Entsaltung
(Religion), so ist dieser alles umsassende Stusengang der gesammte
Weltproceß, das Universum selbst, vergleichbar einer magnetischen
Linie, die im menschlichen Bewußtsein, dieser Mitte zwischen Natur
und Geschichte, gleichsam ihren Indisserenzpunkt habe. Dieser Proceß,
diese Entwicklung vom blinden Sein zum erkannten, dieses sortschreitende
Werden der Erkenntniß ist die Thatsache der Welt und deren eigent
liches Thema: daher die Frage nach der Möglichkeit der so sest
gestellten Thatsache zugleich die Frage nach der Möglichkeit der Er«
kenntniß (die kritische Grundsrage) in sich schließt. Wollte man die
Thatsache so erklären, daß man die eine Seite derselben, die Realität
der Dinge, leugnet (wie z. B. Berkeley), so würde die Thatsache nicht
erklärt, sondern vielmehr verneint, die Ausgabe nicht gelöst, sondern
nicht einmal begriffen. Es giebt kein absolutes Nichtsein. Auch das
pH öv ist, wie der Platonische Sophist tiessinnig darthut. Das Seiende
geringerer Art ist auch ein Seiendes: diese Anerkenntniß gehört zu den
Präliminarartikeln der Philosophie. Es wird gesragt, wie das blinde,
verstandlose Sein erkennbar sein, selbst erkennend werden könne. Nur
Begrenztes ist erkennbar. Es wird mit dem Platonischen Philebus
Bekämpsung Hegels. Vorrede zu Cousins Vorrede. 21S
nach der Ursache der Begrenzung gesragt. Hier geht Schelling aus
seinen Gottesbegriff über, dessen Auseinandersetzung in die Darstellung
des Systems sällt.'
Sechzehntes Capitel.
habe, so daß sie an dieser Thatsache selbst den besten Maßstab hätten sür
jene künstelnde »Filigranarbeit des Begrisss«, welche nun so vielsach
sür echte Philosophie gelte. Aber, sügte er noch mit einem stechend
verächtlichen Blick, der mir durch die Seele ging, hinzu, es sei diese
Philosophie das öde Product «einer hektischen, in sich selbst ver
kommenen Abzehrung«/"
In den gedruckten Vorlesungen gilt dieses Wort von Iacöbi. Die
Iacobische Lehre ist hektisch, weil ihr die negative Philosophie sehlt, die
Hegelsche, weil ihr die positive abgeht! Was gegen die letztere in
den Vorlesungen gesagt ist, wiederholt sich noch bitterer und unver
hohlener in den Briesen jener Zeit und endet immer mit demselben
Resrain: gar kein Fortschritt, sondern blos Episode, gar keine Originalität,
sondern bloße Entlehnung und Ideenraub ! Der peinliche Verdacht, be-
stohlen zu sein, wird zum stehenden Argwohn und macht unter den
Zügen, die Schelling verunstalten, den widerwärtigsten und kleinlichsten
Eindruck. Er läßt die Bücher des Gegners, z. B. die neue Ausgabe
der Encyklopädie, von dienstsertiger Hand untersuchen, ob nicht irgend
wo eine Neuerung, etwas von seinen Ideen eingeschmuggelt sei ; ängst
licher als je hütet er die geheime Schatzkammer seiner Ideen und sindet
sich überall beraubtd 0n m'» vole mg, cassett«! „Die sogenannte
Hegelsche Philosophie", schreibt er an Chr. H. Weiße, „kann ich in
dem, was ihr eigen ist, nur als eine Episode in der Geschichte
der neuern Philosophie betrachten, und zwar nur als eine traurige.
Nicht sie sortsetzen, sondern ganz von ihr abbrechen, sie nicht als vor
handen betrachten muß man, um wieder in die Linie des wahren
Fortschritts zu kommen." Und da Weiße noch die Methode Hegels
als dessen Entdeckung und unsterbliches Verdienst anerkennen möchte,
antwortet Schelling : „Diese Methode des Potenzirens, die ich sür meine
eigenthümliche Ersindung zu halten berechtigt bin, wegzuwersen, bin ich
selbst nicht gesonnen, sie wird da bleiben, wo sie hingehört".'
3. Eine streitige Autorschast.
Es kam sogar zu einem Streit über die Autorschast einer Ab
handlung, die vor länger als einem Menschenalter erschienen war. In
dem kritischen Iournal der Philosophie, welches Schelling und Hegel
' S. oben Cap. III. S. 34 ff. - « Aus Schellings Leben. III. S. 142 ff. Bries
an Weiße v. 31. Oct. 1838. S. 187 (Erkl. v. 23. Febr. 1844 an v. Henning). -
« Schelling und Hegel. Von Michelet. (1839.) Schelling, Vorlesungen von Rosen»
Konz. S. 190 ff. Erdmann, Entwicklung der deutschen Speculation seit Kant.
Bd. II. S. 692 ff. - « Schillings S. W. Abth. I. Bd. V. Vorwort S. VI ff.
Vorrede zu Cousins Vorrede. 219
Schelling,
dunkelt, ja welcher
er gerieth
in denin letzten
Vergessenheit
Zeiten sast
undnichts
behielt
schrieb,
nur wurde
noch ver-
eine
gegen Hegel und aus dessen directes Geheiß. So lange Hegel gelebt,
lenkt;
habe erjetzt
die nach
Dolche
seinem
der Tode
Seinigen
sei das
mit Geheimniß
geheimer, unsichtbarer
verrathen. Hand
Vielleicht
ge-
daß Schelling mit dieser Erklärung Cousin nicht blos trösten, sondern
ihm zugleich den Hegel gründlich verleiden wollte.'
wieder eingesetzt, und von jetzt an leuchtete sein Stern. Das Trium
virat der Sorbonne hieß: Guizot, Villemain und Cousin. Mit der
Iuliregierung kam sür ihn die Zeit der össentlichen und einflußreichen
Ehren. Er wurde Director der Normalschule, Mitglied der Akademie,
Staatsrath und (1832) Pair von Frankreich. Die Bewunderung und
Freundschast dieses Mannes ließ sich Schelling gesallen selbst unter
dem Uebelstande, sie mit Hegel zu theilen. Er hatte es dem Einflusse
dieses Freundes zu danken, daß er im Iahre 1833 den Orden der
Ehrenlegion erhielt und bald daraus zum correspondirenden Mitglied
der Pariser Akademie (zugleich mit Schleiermachcr und Savigny) er
nannt wurde. Im August 1833 wurde Cousin Mitglied der Mün-
chencr Akademie, im solgenden Monat erhielt Schelling den sranzö
sischen Ordens
Das Bedürsniß, die deutsche Philosophie kennen zu lernen, hatte
Cousin zuerst zu Kant gesührt, dessen Lehre, wie er glaubte, in der
Richtung der schottischen Schule lag, und in dessen Vernunstkritik er
sich mit unsäglicher Mühe und mit Hülse einer lateinischen Uebersetzung
hineinlas; Fichtes Subjectivismus schreckte ihn ab, Iacobis Zwiespalt
von Vernunst und Glaube war ihm zuwider, denn er war ontologisch
gesinnt und überzeugt von der Einheit der Vernunst- und Glaubens-
wahrheiten; der Rus der Naturphilosophie zog ihn nach Deutschland.
Er kam (indem er den Sohn des Marschalls Lannes begleitete) das
erste mal 1817 nach Deutschland. Der erste Philosoph, den er kennen
lernte, war Hegel in Heidelberg; erst im solgenden Iahr machte er in
München Schellings Bekanntschaft. Er besreundete sich mit beiden,
sah zu ihnen empor als zu den Häuptern der Philosophie der Gegen
wart und bezeugte seine Doppelverehrung, indem er im Iahr 1821
den vierten Theil seiner Ausgabe des Proklus beiden widmete als
»Klnicis et iusßistris, prnlosopkiae prassentis 6neibus«.
So hatte Cousin sehr verschiedene philosophische Richtungen lern
begierig durchlausen und vereinigte in seiner Denkweise Descartes und
Locke, die Schotten und Kant, Schelling und Hegel, empirische Psycho
logie und Ontologie, Empirismus und Rationalismus! er glaubte sich
der umsassendsten Gegensätze bemächtigt und einen Standpunkt gewonnen
zu haben, der die Wahrheiten aller Systeme ohne deren Jrrthümer
zusammensasse und in sich schließe. Diesen Standpunkt nannte er seinen
' Ebendas. III. S. 102. Bries vom 30. März 1835. S. 73. Bries vom
II. Sept. 1833. S. I02. Bries v. 30. März 1835. S. 71. Bries v. 25. Aug. 1833.
Vorrede zu Cousins Vorrede. 223
> Aus Echellings Leben. III. S. 40-42. - ' Ebendas. III. S. 336.
Vorrede zu Cousins Vorrede, S25
3. Schelling» Vorrede.
Cousin wünschte seine Schrist von ScheUing beurtheilt und in
Deutschland verbreitet. Diesen Wunsch ersüllte Schelling. Er gab
zuerst in dem Litteraturblatt der Bayrischen Annalen eine Anzeige von
der Vorrede' und veranlaßte dann, daß einer seiner srüheren Zuhörer,
der ihm besreundet war, Hubert Beckers, damals Prosessor am Lyceum
zu Dillingen, sie übersetzte. Die Uebersetzung begleitete er selbst mit
einem Vorwort, welches im Wesentlichen die Anzeige in den Annalen
wiederholte. '
Cousin hatte Hegel hoch gepriesen, er hatte ihn als den Fort»
bildner der Schellingschen Lehre angesehen und die Hegemonie der
Philosophie zwischen beide getheilt. Unmöglich konnte Schelling, der
aus dem Katheder so ost und so nachdrücklich gerade das Gegentheil
erklärt hatte, diesen Punkt hier stillschweigend übergehen. Die Gelegen
heit gebot ihm, sich zu äußern, sie kam ihm nicht blos ungesucht, sondern
erwünscht, er empsing aus der Hand eines sranzösischen Philosophen
von Rus und hervorragender Stellung den Lorbeer der Philosophie wie
einen schuldigen Tribut und konnte den zweiten Kranz, der sür den
Nebenbuhler bestimmt war, nebenbei mit nachlässiger Hand zerreißen.
Seit dem mythologischen Versuch über die Gottheiten von Samothrake
hatte Schelling nichts sür die große Oessentlichkeit drucken lassen, seit
der Schrist gegen Iacobi nichts, das unmittelbar aus den Charakter
seiner Lehre ging. Seit mehr als zwanzig Iahren ist diese Vorrede
das erste Wort über seine Philosophie, das Schelling dem großen
Publikum anbietet, es ist das erste überhaupt, worin er seine Sache
gegen Hegel litterarisch anseinandersetzt. Daher hat die Vorrede
großes Aussehen gemacht und eine Wichtigkeit bekommen, welche sie
sonst nicht haben würde. Natürlich konnte durch die wenigen Worte,
die er sallen ließ, der Streit nicht ausgemacht werden, aber die Gering
schätzung seines Tons erbitterte die Gegner.
Cousin hatte der deutschen Philosophie ihre Methode zum Vorwurs
gemacht : da sie ontologisch begründet sein wolle, so sehle ihr jeder noth-
Th. II. S. 200 ff. Weiße schrieb in den Bl. s. litt. Unterhaltung (1834. Nr. 260)
sür Eousin gegen Heine, wosür ihm Schelling sehr dankbar war. Er versehlte
auch nicht, diesen Artikel Cousin mitzutheilen und aus dessen Wunde zu legen.
Aus Schellings Lebcn, III. S. 95, 99.
' Bayr. Annal. Littbl. 1833. Nr. 165. (7. Nov.) - ' AuS Schellings Leben.
S. 72, 74 ff. Vgl. S.W, I. Bd. X. S. 201-224.
IS'
228 Velämpsung Hegels. Vorrere zu Cousins Vorrede.
Siebzehntes Capitel.
I. Vorbedingungen.
I. Schellings Mission.
Mit der Vorrede zu Cousins Schrist, mit der Münchener Katheder
polemik, mit so vielen brieslichen und mündlichen Versicherungen ließ
sich die sogenannte „Episode" der Hegelschen Lehre nicht wegreden; sie
war da und bereits zu mächtig geworden, um vor einem Hauche
Schellings zu schwinden. Sollte sie ernstlich aus dem Wege geräumt
und in ihrer Geltung beseitigt werden, so mußte Schelling ihren Platz
erobern, und dazu gehörte ein weit größeres Ausgebot öffentlich wirk
samer und siegreicher Kraft, als er bisher ins Feld gesührt hatte. Die
Hegelsche Lehre war da anzugreisen und zu stürzen, wo sie ihre Be
deutung errungen hatte und von wo aus sie herrschte. Galt es den
Kathederkrieg, so war dieser nicht in München auszumachen, sondern
in Berlin. In München blieb Schelling, was er auch von der legi
timen Herkunst seines Systems und von der unechten des Hegelschen
sagen mochte, nur Prätendent. Galt es den litterarischen Kamps, so
mußte gegenüber den Werken des Gegners, die sich schon in Reih und
Glied ausgestellt hatten, Schelling ebensalls mit seinen Werken hervor
treten und statt der Versprechungen und Versicherungen endlich die
Leistung bringen. Er dachte auch an eine Gesammtausgabe seiner
230 Berusung uad Uebersiedlung
aller dieser Pläne bleibt zurück und kommt nicht aus den öffentlichen
Schauplatz. Es war nun die Frage, ob er die andere Probe noch
unternehmen könne und wolle, nämlich seine Sache, die den großen
Proceß gegen Hegel in sich schloß, persönlich sühren und auskämpsen
als Lehrer der Philosophie in Berlin. Hier mußte es sich zeigen, ob
seine Lehre noch die Krast besaß, aus das Zeitalter zu wirken.
Nicht darum handelte es sich in Schellings eigenem Sinn, einen
Schulstreit zu beginnen oder den Zeitungsgeist zu berühren, sondern
das höchste aller menschlichen Probleme, welches schon eine brennende
Zeitsrage geworden, endlich und endgültig zu lösen: Religion und Er»
keuntniß aus eine noch nicht dagewesene Art zu versöhnen, die geschicht-
liche oder positive Religion dergestalt speculativ zu erleuchten und zu
durchdringen, daß diese Einsicht als der letzte Gipsel aller Philosophie
erscheinen müsse, wogegen die herkömmlichen Gegensätze und Vereini
gungen von Glauben und Wissen aus untergeordnete Stusen des
Denkens zurücksallen. Ein solches Ziel hatte ihm schon vorgeschwebt,
als er von Würzburg nach München ging, als er zehn Iahre später
einem Ruse nach Iena gern gesolgt wäre; und als er jetzt, in den
Ansängen des Greisenalters, den kühnen Entschluß saßte, in Berlin zu
lehren, glaubte er sich in der That sähig, das religiös zerrissene Zeit
bewußtsein im Innersten heilen und versöhnen zu können. Er sah in
Berlin nicht blos eine Ausgabe, sondern eine Mission vor sich, und
ob er nun Recht oder Unrecht hatte, es ist nicht zu zweiseln, daß er
> Au« Schellings Leben. III. S. 92. Bries v. 9. Iuli 1834. - ' Cbenbas.
III. S. 132 u. 148. Bries an Dorsmull« v. 9. Oct. 1837 u. 29. Mltr, 1839.
nach Berlin. 231
ties und ernsthast davon ersüllt war. Ich will auch gleich hinzusügen,
um besangene und ungerechte Ansichten von der Würdigung Schellings
sernzuhalten, daß er seine Mission nicht wie ein Parteimann nahm;
er war kein Parteimann und glaubte nicht, daß seiner Sache von außen,
etwa mit reactionären Mitteln, geholsen werden könne. So hat er es
stets verworsen, daß Iulius Stahl den Protestantismus wie etwas
Vorhandenes, Fertiges, Abgemachtes behandeln und kirchlich einsangen
wollte, derselbe sei krast seines Wesens etwas Progressives und Künstiges.'
2. Bayrische Zeitverhältnisse. Das Ministerium Abel.
In dem Iahrzehnt von 1830 - 1840 nahmen die Zeitumstände
eine Wendung, die viel dazu beitrug, daß Schelling in Berlin lebhast
begehrt wurde und München selbst nicht ungern verließ. Die glück
lichste Zeit der Regierung König Ludwigs war deren erstes Lustrum
gewesen. Tie Iulirevolution hatte Europa in revolutionäre Schwingungen
versetzt. Belgien und Polen ergriffen und auch in Deutschland Aus
brüche politischer Erregung zur Folge gehabt. Ein Hauptseld derselben
war die Bayrische Rheinpsalz. Das sogenannte Hambacher Fest im
Mai 1832 hatte viele Tausende versammelt, es waren agitirende Volks
reden gehalten und von dem Meineide der Fürsten, der Erdrosselung
der Freiheit, der nationalen Einigung Deutschlands, der Wiedererobe
rung des Elsaß u. s. s. gesprochen worden. Im nächsten Iahr solgte
das Franksurter Attentat. Die Universitäten erschienen wieder als
Herde der Verschwörung, die Völker als Feinde der Fürsten, die Frei
heit der Wissenschast als Gesahr sür Kirche und Staat. König Lud
wig, schon mißtrauisch und argmöhnisch. sing an, reactionär und
despotisch zu werden. In Bayern verbanden sich zu einer gemein
schastlichen Reaction Kirche und Staat, der sürstliche Absolutismus und
die kirchliche Hierarchie. In Preußen geschah das Gegentheil; der
sürstliche Absolutismus und die Staatsraison nahmen gegen die kirch
liche Hierarchie eine drohende und gewaltsam eingreisende Machtstellung.
Hier war der Kamps zwischen Kirche und Staat, in Bayern das
Bündniß. Es geschah im November 1837. daß König Ernst August von
Hannover die Versassung seines Landes gewaltsam aushob. König
Ludwig I. in Bayern ein ultramontaues Ministerium beries, und der
König von Preußen, Friedrich Wilhelm III., den Erzbischos von Köln
verhasten ließ.
' S. unten S. 240 (Text und Anmerkung), 241.
232 Berusung und Uebersiedlung
Facultät aus den Fuß einer gewöhnlichen Schule herabgesetzt und die
Universität München aus der Rückkehr zu ihrem Ursprunge begriffen,
nämlich nach Ingolstadt.' Man war hier, wie sich A. v. Hum
boldt kaustisch ausdrückte, „von den gelehrten Benedictinern zu den
landesgeborenen Bettelmönchen übergegangen".*
Unmöglich konnte sich Schelling in einer solchen Atmosphäre und
an einer solchen Universität noch wohl sühlen. Zwar wurde er per
sönlich nicht beeinträchtigt, der König suhr sort ihn auszuzeichnen und
hatte gegen Ende 1835 ihm den philosophischen Unterricht des Kron
prinzen übertragen.^ Zwischen seinem königlichen Schüler und ihm
entstand ein Verhältniß, das sich mit der Zeit immer inniger gestaltet
und den Philosophen während der letzten neunzehn Iahre seines Lebens
wahrhast beglückt hat. Wir wollen am Schluß dieses der Lebens
geschichte Schellings gewidmeten Buches aus seine Beziehungen zu dem
Kronprinzen und König Maximilian von Bayern aussührlicher zurück
kommen.
Indessen lies die ganze Zeitströmung in seiner Nähe ihm zuwider.
Schon ein Iahr vorher (Nov. 1834), als sich die ersten Aussichten
nach Berlin erössnet , hatten, schrieb Schelling an Beckers: „Alles, was
um mich geschieht, trägt dazu bei, mir den Abschied von München und
den wissenschastlichen Anstalten Bayerns zu erleichtern und sogar er
wünscht zu machen". Und noch waren nicht die Zeiten Abels gekommen!
Die Zwangsmaßregeln, die vier Iahre später eingesührt wurden, machten
ihn völlig mißvergnügt. Als sie schon im Anzuge waren, schrieb er
an Dorsmüller: „Der neuen Versügung, welche den Gymnasiallehrern
Nebenstunden untersagt, entspricht so ziemlich, was mit den Univer
sitäten versucht wird, die den Lyceen zum Opser gebracht werden sollen.
Damit diese nicht, wie es nahe bevorstand, gänzlich vertrockneten und
zuletzt mehr Lehrer als Schüler zählten, sollen die philosophischen Fa
cultäten zum Standpunkt der Lyceen herabgesetzt werden. Wenn dies
aus solche Weise, wie es beabsichtigt wird, sich aussührt, so ändert sich
damit auch meine ganze Stellung. Dens proviciebit."^ So lagen sür
Schelling die Dinge in München. Wie standen sie in Berlin?
' Fr. Thierschs Leben. Bd. II. S. 479-499. - « Briese von Alex. v. Hunl»
boldt an Chr. K. I. v. Bunsen (1869). S. 15. - « Aus Schellings Leben. III.
S. 118. - « Ebendas. III. S. 101 u. 140. Bries vom 29, November 1834 und
14. Iuli 1838.
234 Verusung und Uebersiedlung
deren zwei sich ein Mann zn verschaffen genmßt hatte, der in dem
Freundeskreise des Kronprinzen Bunsens ausgeprägter Gegensatz war:
der damalige Oberst von Radowitz.'
2. Der Rus. (1N40.) Dunsen. Stahl.
Das Project der Berusung war nicht ausgegeben. Der günstige
Zeitpunkt kam mit der Aera Friedrich Wilhelms IV. Wenige Wochen
nach dem Regierungsantritt schrieb Bunsen. den 1. August 1840, im
unmittelbaren Austrage des Königs an Schelling: der König bitte ihn,
seiner Residenz und Universität angehören zu wollen; er solle kommen
nicht wie ein gewöhnlicher Prosessor, sondern als der von Gott er
wählte und zum Lehrer der Zeit berusene Philosoph, dessen Weisheit,
Ersahrung, Charakterstärke der König zu seiner eigenen Stärkung in
seiner Nähe wünsche. „Die Stellung", so endete das schmeichelhaste
Schreiben, „ist einzig, wie die Persönlichkeit, welche der König als Organ
der Nation einladet, sie einzunehmen." Die Berusung Schellings war
die Kriegserklärung von oben gegen die Hegelsche Philosophie. Es
war in dem Schreiben selbst unumwunden gesagt, gegen welchen Feind
man die geistige Macht Schellings ins Feld sühren wolle. Er solle
dem Elende abhelsen, welches „der Uebermuth und Fanatismus der
Schule des leeren Begriffs" angerichtet. Dies waren Bunsens Worte.
Es gelte .der Drachensaat des Hegelschen Pantheismus", so hatte der
König selbst sich unlängst gegen Bunsen brieslich ausgedrückt. ^
Die Ansichten der Menschen sind wandelbar, besonders wenn man
vorgesaßte Meinungen über Dinge hat, die man nicht kennt. Solche
Meinungen abzulegen, ist rühmlich. Vier Iahre später schrieb Bunsen
an einen seiner englischen Freunde : „Was Hegel angeht, so gestehe ich,
daß ich jedes Iahr höher von seiner Fähigkeit denke, die Wirklichkeit
zu umsassen, obgleich die Methode mir unschmackhast bleibt". Vorher
hieß es „die Schule des leeren Begriffs". ^
Der Bries mit dem Ruse des Königs kam aus der Schweiz (wo
Bunsen seit einem Iahre preußischer Gesandter war) und wurde in
einer „vertraulichen Beilage" von der Bitte begleitet, Schelling möge
zu einer mündlichen Besprechung nach der Schweiz kommen. In der
selben Zeit wurde auch Stahl erwartet, dessen Arbeit über „Kirchen
recht der Protestanten" den König sehr interessirt hatte, und dessen
' Aus Schellings Leben. III. S. 159. - ' Chr. K. I. v. Bunsen u. s. s. Bd. II,
S. 133 ff. - ' Ebendas. II. S. 279.
240 Berusung und Uebersiedlung
ersten Einrichtungen nach der Resormation Norm sein und bleiben, nur
im Geiste Speners gemildert. Er übersieht, daß der Protestantismus
nothwendig insosern etwas Fließendes ist, als er ein ihm Entgegen
stehendes zu überwinden, allmählich innerlich und ohne äußere Mittel
zugleich mit sich in das Höhere, die zukünstige Kirche, zu verklären hat;
der Protestantismus sür sich ist so wenig die Kirche, als der Katholi-
cismus sür sich. Stahl, den Sie als meinen Schüler ansehen, ist durch
meine Vorlesungen nur eben hindurchgegangen und hat, zu eitel, um
sür sein übrigens unleugbares Talent mehr nöthig zu halten, blos
Allgemeinheiten daraus benutzt; die Philosophie der Offenbarung hat
er nie gehört, und er kennt meinen letzten Sinn durchaus nicht." ^
Und doch konnte Bunsen glauben und es selbst Gladstone brieslich ver
sichern, Stahl sei der ausgezeichnetste Mann, der aus Schellings Schule
' propos von Stahls" bemerkt Schelling gegen Weiße, »hätte dieser, wie
er gesollt, bekannt gemacht, was ich ihm bei der Gelegenheit geschrieben, als er
mir einen Theil seiner Handschrist vorlegte, um gewissermaßen meine Einwilli»
gung zur Benutzung meiner Ideen zu erhalten, so hätte die Meinung, als ob die
sortanige Ausschließung aller Vernunstnothwendigkeit in meinem Sinn wäre,
nicht entstehen können.' Bries v. 3. Novbr. 1884. In einem späteren Briese an
Dorsmüller heißt es: »Sie würden nicht wie Stahl austreten wollen, der sich
einbildete, mit so schwächlichen Mitteln, als aus einigen Vorlesungen ausgeschnappte,
nur willkürlich adoptirte Ideen, gegen die große Macht der Versinsterung, die
nicht blos in Berlin, sondern aus allen preußischen Universitäten ist, wirken zu
können, und der sich nebenbei noch sür einen Schellingianer halten läßt.' 13. Dec.
1840. Aus Schellings Leben. III. S. 99 u. I6l. Vgl. oben Cap. XIII. S. 257. -
' Aus Schellings Leben. III. S. IS7.
nach Berlin. 24I
' Chr. K. I. v. Bunsen. Bd. II. S. 136 Anmerkung. - ' Aus Schillings
Leben. III. S. 1S5 ff. Vgl. Bunsen. Bd. II. S. 135 ff. - » Ebendas. III. S. 16S.
Bries v. 5. Febr. 1841 an seinen Bruder.
K, Fischer Gesch, d. neuern Philos. V« IS
242 Berusung und Uebersildlung
Zunächst ist natürlich Hegel gemeint, der in allen diesen Leuten eigent
lich spricht. Nun können Sie vielleicht nicht so bestimmt wie ich, der
ihn von Iugend aus gekannt, wissen, was dieser sür sich und ohne
mich sähig gewesen wäre, obwohl seine Logik hinlänglich zeigen kann,
wohin er, sich selbst überlassen, gerathen wäre. Ich kann also wohl
von ihm und seinen Nachsolgern sagen, daß sie mein Brod essen.
Ohne mich gab es gewiß keinen Hegel und keine Hegelianer, wie sie
sind. Dies ist nicht hochmüthige Einbildung, wovon ich weit entsernt
bin, es ist Wahrheit."'
Achtzehntes Capitel.
I. Schellings Wirksamkeit,
l. Gegner. Erwartungsvolle Stimmung.
Als Schelling das erste mal nach München ging, kam er mitten
in das Lager seiner damals eisrigsten Gegner. Aehnlich schien es sich
jetzt mit Berlin zu verhalten. Nicht blos von der Hegelschen Schule
drohten ihm Angriffe, auch von Seiten der Orthodoxen sahen einige
scheel dazu, daß ein Philosoph dem Glauben der Zeit aushelsen sollte.
Man mochte dem Manne nicht recht trauen, von dessen gegenwärtiger
Lehre man nichts Sicheres wußte; sicher war nur, daß unter den
Nachkantischen Philosophen er zuerst sich wieder dem Spinoza genähert,
den Pantheismus erneuert und die Bahn gebrochen habe, aus welcher
die Hegelsche Lehre entstanden und in die glaubensseindliche Richtung
gerathen sei, mit welcher die Gegenwart zu thun habe. Indessen
waren solcher Gegner nur wenige. „Der bei weitem größere Theil",
so berichtet Schelling selbst in seinem ersten Briese aus Berlin, „hält
sest zu mir, namentlich kann ich aus Neander wie er aus mich zählen,
ohngeachtet ich kein Hehl habe, daß es mir mit der Philosophie Ernst
ist im wissenschastlichsten Sinne.
Auch die Feindschast der Hegelianer hatte er sich weit ärger vor
gestellt und weit schwärzer gesärbt, als sie war. Hörte man Schelling,
so hätte man meinen sollen, daß jeder Hegelianer Gist und Dolch
' Ebendas. III. S. 165 ff. Bries vom 10. Sept. 184l. - ' Ebendas. III.
S. 173. Bries vom 9. Nov. 1841 an Dorsmüller.
244 Wirksamleit in Berlin. Antrittsrede.
gegen ihn sühre aus die geheime Verordnung des Meisters selbst. Laute
Zeugnisse sprachen dagegen. Hatte doch des Meisters Lieblingsschüler
Gans in dem Vorwort zu seiner Ausgabe der Hegelschen Rechts
philosophie mit Bewunderung von Schelling geredet, während dieser
die Vision „Hegelscher Seiden" hatte. „Wir alle", sagte Gans, »haben
niemals anders als mit der tiessten Ehrsurcht den Namen Schellings
ausgesprochen. Er ist uns einer, der neben Plato und Aristoteles,
neben Cartesius und Spinoza, neben Leibniz, Kant und Fichte scinm
Platz einnimmt. Er ist uns der jugendliche Entdecker des Standpunkts
der neuern Philosophie, der Columbus. der die Inseln und Küsten
einer Welt aussand, deren Festland anderen zu erobern überlasten
blieb." „Es ist wohl nun natürlich und auch menschlich zu erklären,
daß der seit nunmehr sünsundzwanzig Iahren Zurückgetretene äber
den Fortschritt, der auch ihn als einen wesentlich Ueberschrittenen be
zeichnet, unmuthig wird und sich dagegen, wie gegen eine logische Fessel,
die Freiheit und Leben ertödte, sperrt. Aber weniger zu erklären iß
es, wenn verlautet, daß der große Urheber der Identitätsphilosophie
von dem, was ihn auszeichnete, von seinem Princip abgewichen sei und
in dem wissenschastlich undurchdrungenen Glauben wie in der Geschichte
ein Asyl gesucht habe." „Systeme können nur durch Systeme wider
legt werden, und so lange ihr uns kein wissenschastliches zu bereiten
denkt, müssen wir bei dem bleiben, welches wir haben." > Der Leser
wolle diese Worte beachten. Gans lebte nicht mehr, als Schelling in
Berlin austrat. Auch über die anderen hatte er nicht zu Nagen: „3ie
Hegelianer betreffend", heißt es in dem schon erwähnten Briese, „so
werden die meisten bei mir hören, nachdem sie mir öffentlich und pri
vatim jede Ehrerbietung versichert und bezeugt." ^
Die Spannung, mit der man dem Beginn seiner Vorlesungen
entgegensah, war unglaublich. Das größte Auditorium der Universität
war zu klein sür den allzugroßen Zudrang; die Studenten hatten er
klärt, wenn nicht durch die Thüre, würden sie durch die Fenster her
einkommen. Unter den eingeschriebenen Zuhörern waren die Namen
Savigny, Lichtenstein, Steffens u. a. In der Thal war es rührend,
daß Steffens, der einst vor dreiundvierzig Iahren die erste Vorlesung
des jugendlichen Schelling in Iena gehört hatte, jetzt ein Greis M
den Füßen des greisen Mannes saß.'
> G. W. Fr. Hegels Werle. Bd. VIII. Vorr. S. XII-XIV. Die Vorrede in
aus d. Iahr 1833. - ' Aus Schellinas Leben. III. S. 173. - ' Ebendas. III. s. M
Vorwort zu Steffens. 24S
2. Die Antrittsrede.
Den 15. November 1841 eröffnete Schelling seine Vorlesungen
zu Berlin. Er sprach mit der ganzen Energie seines Selbstgesühls,
mit dem ganzen Bewußtsein der Würde seines Namens und Beruss,
mit einer zu sicheren Vorempsindung, daß er siegen werde, in seinen
polemischen Affecten durch die Bedeutung des Augenblicks, die ihn
durchdrang, gemildert und ruhiger gestimmt. Die Rede war classisch
ftilisirt, getragen von Krastgesühl, und ließ nur die Hoheit des Alters
hervortreten, nirgends die Schwäche.
Man möge ihm Zeit und Raum gönnen, um zu rechtsertigen,
warum er hier sei; er könne das Die cur Kio nur beantworten durch
die ganze Reihe seiner Vorträge. Er sei gekommen, der Philosophie
einen größeren Dienst zu leisten als je zuvor, dies sei seine Ueber-
zeugung, nicht die Meinung aller. Vor vierzig Iahren sei es ihm
gelungen, in der Geschichte der Philosophie ein neues Blatt auszu
schlagen, die Seite sei voll, das Blatt müsse umgewendet werden, er
selbst müsse es thun, da ein anderer, dem er es sonst gern überließe,
nicht da wäre. Der Berusene allein vermöge es. Sei er dieser be
rusene Lehrer der Zeit, so wäre es nicht sein Verdienst, sondern das
Werk höherer Macht. Er dränge sich nicht hervor aus den öffentlichen
Schauplatz und habe bewiesen, daß er ihn entbehren könne, lange Iahre
habe er in stiller Zurückgezogenheit gelebt, jedes Urtheil schweigend
über sich ergehen lassen, dieses Schweigen nie gebrochen, selbst nicht,
als man vor seinen Augen den geschichtlichen Hergang der neuern
Philosophie versälscht habe. Daß es in der Philosophie mit ihm aus
sei, habe er ruhig die Leute sagen lassen, während er sich im Besitze
gewußt einer sehnlichst gewünschten, dringend verlangten, wirkliche
Ausschlüsse gewährenden, das menschliche Bewußtsein über seine gegen
wärtigen Grenzen erweiternden Philosophie. So habe er gezeigt, daß
er sähig sei jeder Selbstverleugnung, srei von voreiliger Einbildung,
von der Liebe zu flüchtigem Ruhm. Die Zeit sei da, wo er das
Schweigen ausgeben, das entscheidende Wort sprechen müsse. Denen,
die ihn sür sertig und abgemacht gehalten, müsse er lästig sallen, sie
hätten mit ihm von vorn anzusangen, nachdem sie ihn schon construirt
und untergebracht. Es sei etwas in ihm, von dem sie nichts gewußt.
Dieses neue, nothwendige, durch die ganze bisherige Geschichte der
Philosophie gesorderte Wer! zu vollbringen, sei er gleichsam ausgespart.
Es müsse hier vollbracht werden, „in dieser Metropole der deutschen
246 Wirlsamkeit in Berlin. Antrittsrede.
nicht mehr sern, sondern sei vorgedrungen in den Kern seiner gewal
tigsten Fragen. Unwillkürlich und mit Recht werde jede Philosophie
abgewiesen, deren Resultate den innersten Lebensmächten zuwiderlausen,
eine unsittliche Philosophie sei wirkungslos, ebenso eine irreligiöse. Der
äußere Schein einer Uebereinstimmung mit dem Glauben mache die
Philosophie nicht religiös und täusche die Welt nicht. Schon sei in
einem gegebenen Fall die Deduction christlicher Dogmen sür Blendwerk
erkannt, die Schüler selbst, die treuen oder ungetreuen, hätten es er
klärt. Wie es sich auch damit verhalte, der Verdacht sei da, die Mei
nung vorhanden. Von beiden Seiten heiße es: der Widerstreit zwischen
Philosophie und Religion sei unversöhnlich. Von den Stimmsührern
des Autoritätsglaubens werde zunächst eine bestimmte Philosophie bc-
kämpst, aber der Krieg gelte aller. Ihm selbst mache man den Vor
wurs, daß er den ersten Impuls zu jenem Systeme gegeben, dessen
Resultate so irreligiös ausgesallen. Man könne von ihm nicht er
Vorwort zu Steffens. 247
zur Geschichte des Tages von einem vieljährigen Beobachter. (Lpz. 1843.) S.W.
- ? Schellings S. W. Bd.X. S. 301-390. - Die obigen Zeitangaben der Ber
liner Vorlesungen Schellings find der Gesammtausgabe seiner Werke entnommen
und stimmen nicht ganz mit den amtlichen Lectionskatalogen. Nach den letzteren
hat Schelling sünsmal über Philosophie der Mythologie gelesen: Sommer 1842,
1843, 1845, Winter 1844/45 und 1845/46; die im Sommer 1842 begonnene B°r»
lesung sollte im nächsten Sommer ergänzt und vollendet werden, ebenso die Vor
lesung aus dem Sommer 1845 in dem daraus solgenden Winter »nach einer
kurzen Wiederholung des vorangegangenen Theils". Demnach scheint, daß er
innerhalb eines Semesters die Mythologie nur einmal ganz vorgetragen hat,
Im Sommer 1844 las er über den ersten Theil der Offenbarungsphilosopyie.
Für die beiden Wintersemester 1842/1843 und 1843/1844 sehlt in den Katalogen
Name und Ankündigung. Nach 1846 findet sich Schillings Name nur einmal
noch; in dem Winterkatalog von 1847/1848, sür welches Semester er »die neuere
Philosophie seit Cartesius in ihrem Zusammenhang« und Fortschritt' angekündigt
hatte, ohne sie dann zu halten.
Vorwort zu Steffens.
mester aus den zehnten Theil des ersten herabgesunken sein), so kamen
doch sast jedes Semester Deputationen, welche um Wiederausnahme der
Vorlesungen baten. Schelling versprach es auch sür das Iahr 1850,
aber ersüllte die Zusage nicht. Wir werden später aus die Veran
lassung kommen, die er sür den einzigen Beweggrund erklärt hat, aus
dem er seine Lehrthätigkeit einstellte. ^
Schelling war damals die von der Preußischen Regierung aner
kannte und gleichsam mit ihr verbündete Großmacht der Philosophie,
der König schätzte ihn hoch, der damalige Cultusminister Eichhorn war
sein Verehrer und Freund, die Familien beider verbanden sich durch
eine Heirath. Iedes öffentliche Wort, das Schelling gelegentlich sprach,
wurde weiter getragen und durchlies die Zeitungen. Was er bei Ge
legenheit einer Ovation oder beim Beginn und Schluß eines Semesters
gesagt hatte, erregte die Ausmerksamkeit und Kritik der öffentlichen
Meinung. Er kannte die Tragweite seiner Worte und wußte, daß
jedes an die Adresse kam, sür die es bestimmt war. Was er daher
den Gegnern zu hören geben wollte, wurde bei solchen Gelegenheiten
gesprochen und sollte einschlagen in die Kämpse der Zeit. In der
Philosophie waren es die Hegelianer, in der Theologie und Kirche die
Rationalisten und Lichtsreunde, die damals blühten, auch wohl die
Männer der starren Orthodoxie, denen er gelegentlich etwas von der
Art, die man später „Neujahrswunsche" genannt hat, zukommen ließ.
Als ihm nach dem Schlusse des ersten Semesters, den 18. März
1842, seine Zuhörer einen solennen Fackelzug brachten, erwiederte er
diese Huldigung mit einer Gegenrede, die aus dem Bewußtsein seiner
philosophischen Großmacht hervorging und einen bösen Blick aus die
Gegner wars, die sie ihm streitig machten. Er verdiene den Dank
der Studenten, denn er habe ihnen etwas mitgetheilt, das länger daure,
als das schnell vorübergehende Verhältniß zwischen Lehrer und Schüler,
eine Philosophie, welche die srische Lust des Lebens und das volle
Licht des Tages vertragen könne; er habe sie die höchsten Dinge
in ihrer ganzen Wahrheit und Eigenthümlichkeit erkennen
lassen, er habe ihnen statt des Brodes, das sie verlangten, nicht einen
Stein gegeben und dabei versichert: das sei Brod! Er verabscheue jeden
Unterricht, der zur Lüge abrichte, jeden Versuch, durch absichtliche Ent
stellung die Gemüther der Iugend moralisch und geistig zu verkrümmend
' Aus Schellings Leben. III. S. 242. Bries vom 29. Decbr. 1852 an Beckers.
Bgl. S. 221 ff. Anmerkung. Bries vom 3. Ian. 1850. - ' Preußische Staatsztg.
250 Wirksamleit in Berlin. Antrittsrede.
1842 (v. 19. März). Den 22. März wurde ihm von seinen Schülern eine Dan!»
adresse überreicht, die auch von Neander und Twesten unterzeichnet war. Man
begrüßte darin »die neue Aera der Philosophie".
> Leipz. Allg. Ztg. 1842 v. I. Decbr. Augsb. Allg. Ztg. 1842. Nr. 346. (Die
Vorlesung, von der im Winterkatalog 1842/43 nichts steht, ist also nachträglich
gehalten worden.) - ' Nachgelassene Schristen von H. Steffens. Mit einem Vor»
Wort von Schelling. (Berlin 1846.) S. N. Abth. I. Vd, X. 2. 391- 413. - 'Wie
ich wieder Lutheraner wurde und was mir das Lutherthum ist. Eine Consession
von H. Steffens. Breslau 1831.
Vorwort zu Steffens. 25!
der größten und dauerndsten Macht, die die Erde je gesehen, zurück
gestoßen hat?'"
Die gesorderte Freiheit habe nothwendige Voraussetzungen ver-
neiuender Art. Aus dem Wege von der Resormation bis zum völlig
sreien Wiederausbau des positiven Christenthums werde in einem
unvermeidlichen Fortgange das Gebäude des alten Autoritätsglaubens
Stück sür Stück abgetrugen; der Ossenbarungsglaube werde in der
protestantischen Dogmatik immer dünner, immer sadenscheiniger. Dies
habe schon d'Alembert sehr richtig erkannt und an dem Beispiele der
Glaubenslehre eines Genser Theologen ergötzlich geschildert: in der
ersten Auslage sei „von der Nothwcndigkeit einer Ossenbarung"
gehandelt worden, in der zweiten nur noch von deren „Nützlichkeit',
das dritte mal, sagte d'Alembert, werde es heißen „die Bequemlich
keit einer Offenbarung", und in der vierten Auslage, so sügt Schelling
hinzu, wird man „von der Unschädlichkeit der Offenbarung" reden.
So gehe es sort bis zum äußersten Deismus. Am Ende gelten die
Glaubensthatsachen nur noch sür Einkleidungen und Allegorien soge
nannter sittlicher Wahrheiten ; das positive Christenthum werde sür ein
paar armselige moralische Lehrsätze hingegeben, wie jener König, von
dem Sancho Pansa erzählt, sein Reich sür eine Gänseheerde verkauste
oder der „Neologe", über den Goethe sich lustig macht, ererbte Ritter
güter besitzt, aber lieber ein Bauerngütchen möchte. Dies ist die Art,
wie die Rationalisten mit dem positiven Glauben umgehen! Unsähig,
denselben in seiner Eigenthümlichkeit zu erkennen, verslüchtigen sie ihn
und lassen an seine Stelle moralische Gemeinplätze treten. Es ist keine
Religion mehr, sondern ein willkürliches philosophisches Machwerk.
Mit der Natur der Religion hören auch deren Wirkungen aus; je
philosophischer die Religionsideen werden, je entkleideter vom Positiven,
um so unwirksamer zeige sich ihr Einfluß aus die Volksbildung: diese
schätzbare Bemerkung habe im Hinblick aus die socinianische Gemeinde
in Polen Spittler gemacht, ein Mann, den bis jetzt an politischem
Scharssinn kein deutscher Geschichtssorscher übertroffen. *
Gegen diese Glaubensverslüchtigung suche man umsonst Hülse bei
den Glaubensbekenntnissen. Sie können nicht helsen, weil sie den
Glauben nicht aus seinem eigensten Ursprunge begründen, sondern nur
aus der Schrist beglaubigen, nicht aus die Wahrheit, sondern blos
überhaupt nur aus die Möglichkeit der Dinge, nicht aus deren Existenz,
diese könne überall nur geglaubt werden, in der Natur so gut wie in
der Religion. Ohne die Einsicht in die Möglichkeit seines Objects
sei der Glaube blind, durch diese Einsicht werde er erleuchtet. Das
positive Christenthum erleuchten, heiße klar machen, „daß es zu seiner
Voraussetzung keine anderen Verhältnisse habe, als durch welche die
Welt besteht, daß der Grund des Christenthums gelegt sei. ehe der
Grund der Welt gelegt war". Wem dieser tiesste Ursprung des Christen-
thuins verborgen bleibe, der könne auch seinen geschichtlichen Ursprung
nicht verstehen, denn das Christenthum sei älter, als seine Bücher. Eine
Untersuchung, deren äußerste Objecte nur die christlichen Urkunden seien,
reiche nicht heran bis an den Kern der Sache, so wenig als der Thurm
von Babel an den Himmel, und könne daher jenen Kern auch nicht
zerstören. Daher die Kritik, die sich mit den Versassern und Ab
sassungszeiten der biblischen Schristen zu thun mache, zwar anerkennens-
werth sei in gelehrter Hinsicht, aber nichts in der sachlichen Frage
entscheide und schließlich zu keinem anderen Resultat sühre, als was
sich sür jeden, dem die objective Wahrheit des Christenthums nicht
einleuchte, auch ohne Kritik von selbst versteht: daß nämlich eine solche
Lehre dann nur ein Gewebe successiver menschlicher Ersindungen sein
könne. ^
Die Lösung der Glaubenssrage, sachlich verstanden, ist die erste
Forderung, die Art der Lösung könne nur wissenschastlich, das Mittel
dazu nur philosophisch sein. Ohne die Erleuchtung des positiven christ
lichen Glaubens durch Vernunsteinsicht sei dieser Glaube verloren.
Bekenntnisse retten ihn nicht, auch nicht eine Veränderung in der
äußeren Form der Kirche. Die Glaubensüberzeugung, das gemein
same Bewußtsein der Glaubenswahrheit sei das innerste Selbst der
Kirche. Ohne dieses sei die Kirche ein Körper ohne Seele, ein todter
Körper. Daher möge man sich nicht der Täuschung hingeben, als ob
man die erste aller religiösen Zeitsragen umgehen und vertagen könne,
als ob der Kirche zu helsen sei durch eine Versassung, als ob der
Glaube kommen werde, wenn die Versassung da sei. Diese soll und
wird aus dem religiösen Leben, aus dem Glauben hervorgehen, nicht
umgekehrt. Weder Glaube noch Versassung lassen sich erkünsteln oder
erzwingen. Wollte der Staat eine sogenannte Rechtgläubigkeit vor-
hört dadurch nicht aus, die Wirklichkeit der natürlichen Dinge ebenso
zu ersahren und zu erleben, wie der Unkundige, der nichts davon weiß,
wie diese Dinge sein können. So soll es sich auch mit den göttlichen
Dingen verhalten, deren Realität von allen aus gleiche Weise ersahren,
erlebt, geglaubt wird, während die Einsicht in ihre Möglichkeit die
höchste Erkenntniß ausmacht, die Vollendung der Philosophie, die da
durch den Glauben bei keinem aushebt oder stört. Die Naturphilo
sophie verändert die Natur nicht und macht dieselbe nicht weniger
positiv, als sie ist. Ebenso behält der Glaube sein eigenthümliches. in
ihm selbst gegründetes Leben und bleibt, was er ist, unabhängig von
aller Wissenschast. Eben darin bestehe das eigentliche Wesen der
Glaubenssreiheit.>
Erst die sreieste Wissenschast, d. h. die vollkommen entwickelte, er
reicht den Glauben und versteht denselben in seiner ganzen Realität,
in seiner ganzen von ihr unabhängigen Freiheit. Daher sind es diese
drei Posten, die Schelling vertheidigt: die Freiheit der Wiffenschast
gegen die Orthodoxen, die Freiheit des Glaubens (in dem bezeichneten
Sinn) gegen die Rationalisten, die Zusammenstimmung beider, Ä
meine den Satz: „je sreier die Wissenschast, um so einleuchtender der
positive Glaube" - gegen die Kritiker, mit welchen letzteren er den
Proceß sehr kurz und sich erstaunlich leicht macht. Am schärssten wollte
er die Lichtsreunde und die Orthodoxen getrossen haben und glaubte,
daß gegen jene das Vorwort auch einige Wirkung gehabt. „Mm
schämt sich doch", bemerkt er in einem Briese an Dorsmüller, „des
lichtsreundlichen Enthusiasmus aus der einen Seite, und aus der andern
legt man der Sache nicht mehr die Wichtigkeit bei, wie srüher." Tie
Märzstürme des Iahres 1848 hatten das Ministerium Eichhorn und
das orthodoxe System in Preußen plötzlich verschwinden gemacht. »In
einer Hinsicht athme auch ich sreier", schrieb Schelling unmittelbar nach
jenen tumultuarischen Tagen, „ich konnte mich nicht wohl sühlen in
der Atmosphäre der Bestrebungen, namentlich in Ansehung des Christen-
thums, die Zeit wieder aus den blinden Autoritätsglauben zuräckzu
sühren, wogegen ich mich darum in dem Vorwort zu Steffens auch io
entschieden aussprach, Bestrebungen, die bei weitem mehr schadeten, al?
sie je nützen konnten. "^
> Ebendas. S. 406. - ' Aus Schellings Leben. III. S. 207, 2l l ff. »«'
vom 11. Decbr. 1847 und 30. März 1848 an Dorsmüller.
Vonvort zu Steffens. 25?
Neunzehntes Capitel.
> S. W. Abth. II. S. VI. Das erste mal la« Schelling in der Akademie
den 20. Febr. 1843 (Aus Schellings Leben. III. S. 178). Die Abhandlung »Vor»
bemerlungen zu der Frage über den Ursprung der Sprache" wurde den 25. 3toa,
1850 gelesen. S. W. Abth. I. Bd. X. S. 419 ff. - ' Schelling in München.
Van Salat, ordentlichem Prosessor an der ehemaligen Universität zu Lanostml.
Hest II l.1835). S. 98 ff.
und Iahre. 259
»In der Thal", schrieb damals Schelling seinem Bruder, „die Bosheit
ber ganzen, überall zusammenhängenden antireligiösen, aus Zerstörung
ausgehenden Clique ist grenzenlos, und sie werden nicht ruhen, so lang
ich unter den Lebenden bin. die ganze Hölle wird sich in diesen Werk
zeugen gegen mich austhun.">
In diesem Iahr erschien unter dem Titel „Fr. W. I. v. Schel
ling. ein Beitrag zur Geschichte des Tages von einem vieljährigen
Beobachter" ein racheschnaubendes, im Uebrigen unschädliches Buch.
Ter «ieljährige Beobachter war Christian Kapp, den Schelling - ich
lasse dahingestellt, mit wie vielem Grunde — einst schwer und ent
ehrend beleidigt hatte. Kapp, damals Prosessor in Erlangen, hatte
im Jahr 1829 Schelling die Zusendung und Widmung einer Schrist
»lieber den Ursprung der Menschen und Völker nach der mosaischen
Genesis" angekündigt; die Antwort Schellings, nicht als Anrede, son
dern in der dritten Person gehalten, bezeichnete den Versasser als
notorischen Plagiator, der seine Vorlesung über Philosophie der My
thologie, Hegels Vorlesung über Philosophie der Geschichte aus Hesten
gepländert habe, unter „die diebische Nachdruckerzunst" gehöre und jetzt
üch ihm nähere, „um durch hündisches Schönthun und Schweiswedeln
die wohlverdienten Fußtritte abzuwenden". Kapps briesliche Erwide
rung wurde gar nicht angenommen, und dieser brachte nun in einem
osssenen Sendschreiben an Schelling den Handel zur Kenntniß des
Publikums.' Nie eigentliche Rache sollte jetzt in dem obengenannten
Auch zwar spät, denn es waren vierzehn Iahre versloffen, aber um so
grändlicher vollstreckt werden. Es war aus eine vernichtende Charakte
ristik Schellings abgesehen, aber es kam nur zu einer Sammlung
dunkler, sast unarticulirter Tiraden, und nach 268 Seiten hieß es:
»Ties alles nur zum Vorgeschmack, nun etwas näher zur Sache".
Keine neue Lehre bringe Schelling in Berlin, sondern wiederkäue die
«lte, „unter dem Hohngelächter der Eumeniden sreffe er sein Gespeites",
er sei „der Iudas und Segestes der deutschen Wissenschast", „der echte
Luciser, der Philosoph des Absalls", „das Plagiat sei das eigentliche
Princip seiner schriststellerischen Thätigkeit", seine erste Schrist „Vom
Ich" sei Fichten und Kotzebue nachgebildet, seine Naturphilosophie aus
einem vergeffenen Buch des 17. Iahrhunderts, Kusselaers Pantosophie,
entlehnt u. s. s. Kapp wollte den Spieß umkehren, aber er hatte
> Aus Schellings Leben. III. S. 180. — ' Sendschreiben an den Hern,
Präsidenten u.s, s. von Schelling in München. Von Pros. Chr. Kapp zu Erlangen. 183«.
17'
260 Letzte Kämpse
> Fr. W. I. v. Schelling u. s. s. (Lp,. 1843.) S. 9l. 129. 175 ff.. 268, 323 ff..
358 ff. - ' Schelling. Vorlesungen von Rosenkronz (1843). S. V. — ' Schellings
religionsgeschichtliche Ansicht nach Briesen aus München (Berlin 1841).
und Iahre. 261
such gegen die sreie Philosophie" vernichten wollte. ' Die Absicht beider
(anonymer) Schristen war rein polemisch; die erste hatte Riedel, die
zweite Engels versaßt. Neutraler verhielt sich I. Frauenstädt, der
aus Schellings Vorlesungen während der beiden ersten Semester eine
kurze Skizze seiner Lehre gab, „die Irrthümer in der Aussassung des
Christenthums" nachzuweisen, „das Große, Tiese und Wahre seiner
Einsichten" zu würdigen versprach. Die Skizze war aus den drei
Haupltheilen der Vorträge genommen: Philosophie der Offenbarung,
Satanologie (die Schelling noch gegen Ende des ersten Semesters las,
indem er die Stundenzahl verdoppelte) und Philosophie der Mythologie.
Die Widerlegung war einsach : der Pantheismus sei salsch, der Theis
mus ebensalls, also auch die Lehre Schellings, die beide verbinde. ^
Schelling ließ diese Auszüge und Skizzen, die aus seinen Vor
lesungen veröffentlicht wurden, ihren Weg gehen, und man konnte
zweiseln, ob er sie überhaupt sür richtig anerkenne. Privatim äußerte
er sich darüber mit der größten Verachtung. In einer sehr derben
Epistel an den württembergischen Psarrer Barth, der sich über Schel
lings neue Lehre aus Grund der Frauenstädtschen Schrist öffentlich
ausgelassen hatte, heißt es von der letzteren: „sie habe von seinen
Vorlesungen einen durchaus unrechtlichen Gebrauch gemacht und sei das
Product einer bettelhasten und schmutzigen Buchmachern".'
Da trat ein Fall ein, den er nicht mehr ruhig mit ansah. Er
hatte so viel über Ideenraub, Plagiat, Nachdruck geklagt und den
Teusel an die Wand gemalt, bis „der bekannte Satanas und Erbseind
seiner Philosophie"^ wirklich kam und aus der Sache Ernst machte.
Es war Paulus, sein ganz specieller Landsmann, der vor sünszig
Jahren Schellings Aussatz über den Mythus selbst in die Oeffentlichkeit
gebracht
' Schelling
hattetundsein
die Offenbarung,
Freund undKritik
Amtsgenosse
des neuesten in
Reactionsversuchs
Iena, sein Amts-
gegen
die sreie Philosophie (Berlin. 1841). - ' Schellings Vorlesungen in Berlin. Dar»
stellung und Kritik der Hauptpunkte derselben u. s. s, von Dr. I. Frauenstädt
<Berlin 1842). - » Aus Schillings Leben. III. S. 190. Bries v. S. Febr. 1841).
Vgl. Einleitung in die Philosophie der Offenbarung oder Begründung der posi»
tiven Philosophie. Zweite Vorlesung. »Wenn aber ein wissenschastliches Kunst-
werk in öffentlichen Vorträgen entsaltet worden, da scheint es, hat eine schmutzige
und bettelhaste Buchmacherei, die es beschmutzt und besudelt, weder eine Manisesta»
tion des Unwillens, noch selbst die Anwendung bestehender Gesetze zu sürchten.'
S. W. Abth. II. Bd. III. S. 22. - « S. oben Cap. VIII. S. 101 ff. - ° S. oben
Cap. I. S. 14-1«.
262 Letzte Kämpse
genosse, aber nicht mehr sein Freund in Würzburg; dann hatten sich
auch ihre äußeren Lebenswege getrennt, Paulus war nach der Würz»
burger Zeit einige Iahre lang (1807- 1811) Schulrath in Bamberg.
Nürnberg und Ansbach und seit 1811 Prosessor in Heidelberg. Er
hatte Schelling nicht aus dem Auge gelassen, überzeugt, daß seine
Lehre von seiten der Herkunst nicht originell, von seiten des Inhalts
unwahr, in ihren Wirkungen irresührend, in ihrem Charakter lauter
Schein und Dunst sei. Er paßte aus ein gedrucktes Wort Schellings,
um ihn aus der That zu ergreisen und der Welt als Gaukler, wosür
er ihn hielt, zu entlarven.
Kaum war die Vorrede zu Cousin da, so erschien eine Spott
schrist unter dem Titel: „Entdeckungen über Entdeckungen unserer
neuesten Philosophen, ein Panorama in sünsthalb Acten mit einem
Nachspiel. Von Usgis ^.mica Veritss" (1835). Der anonyme
Wahrheitssreund war Paulus, welchen Schelling auch gleich als Ver
sasser erkannte. ^ Das Nachspiel ging aus Fichte den Sohn , der, ohne
Schellings neue Lehre zu kennen, es derselben schon zuvorgethan haben
wollte und sich als Zukunstsphilosoph meldete; das Intermezzo spottete
über den bekannten Unsall Hegels, der in seiner Habilitationsschrist
die Lücke im Planetensystem eben da als nothwendig hatte nachweisen
wollen, wo kurz vorher Piazzi schon einen Planeten entdeckt hatte; der
eigentliche Hauptheld der übrigen vier Acte war Schelling, in dessen
Philosophie „die absolute Leere" Paulus wirklich zu entdecken meinte.
Den Titel seiner ersten Schrist „Vom Ich" habe Schelling von Kotze-
bue, den Inhalt von Fichte, die Identitätslehre von Bardili. an seinen
bisherigen Leistungen sei nichts originell, die Verheißung künstiger sei
Phrase, Ansang und Ende des Mannes eine Mystissication. Es sei
Zeit, „sein im absolut Leeren lange genug ausgesührtes Possenspiel"
nun wirklich einmal zu beendigen.
Dieser letzte und entscheidende Act schien gekommen, als Schelling
mit seiner Offenbarungsphilosophie in Berlin austrat, von der, wie er
selbst verkündet hatte, „die größte, in der Hauptsache letzte Umänderung
der Philosophie" ausgehen sollte. ^ Es war der Moment, aus den
' .Die Schrist: Entdeckungen u. s, s., die so viel Lügen als angebliche That»
sachen enthält, habe ich erst vor Kurzem genauer angesehen und aus den ersten
Blick als Versasser meinen alten Collegen und Landsmann Dr. Paulus in Heidel»
berg erkannt.' Aus Schellings Leben. III. S. 115. (Bries an Beckers v. 2I.Octbr.
I835.) - ' Worte aus Schellings Vorr, zu Cousin. S. XVIII.
und Iahre, 263
Paulus lange gewartet. Es ließ jetzt von der ersten Vorlesung, die
Schelling während des Winters 1841/42 in Berlin hielt, ein Hest aus
seine Kosten wörtlich nachschreiben und gab es (bei Leske in Darmstadt)
unter dem Titel heraus: „Die endlich ossenbar gewordene positive
Philosophie der Ossenbarung und Entstehungsgeschichte, wörtlicher
Text, Beurtheilung und Berichtigung der v. Schellingschen Entdeckungen
über Philosophie überhaupt, Mythologie und Offenbarung des dog
matischen Christenthums im Berliner Wintercursus von 1841-42, der
allgemeinen Prüsung vorgelegt von Dr. H. C. G. Paulus" (1843).
Weitschweisig, wie Titel und Widmung/, waren Vorrede, Einleitung
und die in den Text eingeslochtenen Zwischenbemerkungen des Heraus
gebers, so daß sie von dem sehr umsänglichen Buch einen großen Theil
einnahmen, der übrige und größte Theil gab sich selbst sür den wört
lichen Text der Vorträge Schellings. Es war nicht mehr ein Auszug
oder eine Skizze, sondern eine Copie. Daß es sich wirklich so verhielt,
anerkannte Schelling, indem er den Herausgeber wegen Nachdrucks ge
richtlich versolgte. Den 3. August 1343 brachte die Preußische allge
meine Zeitung die Nachricht, das Werk sei als Nachdruck polizeilich mit
Beschlag belegt. Paulus schrieb eine „Vorläusige 'Appellation an> das
wahrheitsliebende Publikum contra des Philosophen Fr. W. I. von
Schellings Versuch, sich mittelst der Polizei unwiderlegbar zu machen".
Eine solche Lehre zu widerlegen und unschädlich zu machen, sei ein ge
meinnütziges Werk, es gebe dazu kein anderes Mittel, als die Ver
öffentlichung; da Schelling seine Vorträge selbst nicht habe drucken lassen,
so sei das angeklagte Buch weniger Nachdruck als „Vordruck" und
übrigens so versaßt, daß es der Herausgeber als sein volles geistiges
Eigenthum beanspruche, da er die sremde Lehre keineswegs blos mit-
getheilt, sondern zum Gegenstand seiner eigenen historischen und kriti
schen Darstellung genommend Der Proceß erregte die allgemeinste
Ausmerksamkeit, es war seit den Bundesgesetzen gegen Nachdruck der
' Die Widmung hieß: »Insbesondere gewidmet denen, welche endlich wieder
den historischen Christus historisch-idealisch suchen zu müssen begreisen, kirchen»
historisch aber einsehen, wie die ins Nebermenschliche phantasirende , dialektische
Speculation in Athanasius, Augustinus, Anselmus und deren Nachahmern sich
von dem praktisch geistigen Messiasideal der neutestamentlichen Christlichkeit im
unsruchtbaren Meinungsglauben immer weiter verlausen habe." - ' Vgl. Heinrich
Eberhard Gottlob Paulus und seine Zeit. Von K, A, Frhrn. v. Reichlin»Meldegg
l18S5). Bd. II. S. 378-383.
264 Letzte Kämpse
meiner Vorlesungen nicht habe hingehen lassen, weil ich weiß, daß gegen
die vollkommene Ehr- und Schamlosigkeit des verhärteten zweiundacht-
zigjährigen Sünders durch kein Mittel etwas zu gewinnen ist als pecu-
niärer Verlust, daß Geldstrase und Geldentschädigung, die ich zu er
langen hoffe, das Einzige ist, was ihn assicirt." Wenige Tage später
kommt Schelling aus die Sache zurück und wünscht dem Processe die
größtmögliche Publicität zu geben. „Bei dieser Gelegenheit hoffe ich
des alten Bösewichts nebst seinem ihm allein noch gebliebenen Schild
knappen einmal sür immer loszuwerden." „Die Regierungen müssen
eines von beiden aus sich nehmen, entweder den Bundesbeschlüssen ins
Gesicht entgegenzuhandeln oder einen s«i 6issut berühmten Gelehrten
und Buchhändler, wäre der erste auch Geheimer Kirchenrath und der
andere Hosbuchhändler, als sörmlichen Diebstahls überwiesen zu ver-
urtheilen."^ Da er nun den Schutz und die Genugthuung, die er ge
rade in Berlin am ehesten erwarten durste, nicht gesunden, so erklärte
er dem Ministerium, unter solchen Verhältnissen nicht weiter lesen zu
können.'
3. Die Auslassung über Hegel.
In einem sehr beachtenswerten Punkt überrascht uns das nach
gedruckte Werk. Wir sehen daraus, daß Schelling über Hegel ganz
anders aus dem Katheder in München, in dem Vorwort zu Cousin,
in Briesen u. s. s. sich ausgelassen hat. ganz anders dagegen aus dem
Katheder in Berlin: dort so geringschätzig und wegwersend wie mög
lich, hier dagegen mit der größtmöglichen Anerkennung und Hoch
schätzung. Die Beweggründe, weshalb er von Hegel in einer so zwei-
züngigen, nach Zeit und Ort so verschiedenen Weise geredet hat, springen
in die Augen und bedürsen keiner besonderen Darlegung. Aber die
Thatsache selbst ist so unbekannt und doch so bemerkenswerth, daß wir
sie ans Licht stellen und der Vergessenheit, der das nachgedruckte Werk
wohl versallen ist, entreißen wollen.
In den Vorlesungen über die Philosophie der Offenbarung, die
Schelling während des Winters von 1841/42 zu Berlin gehalten,
kommt er aus den Entwicklungsgang seiner Lehre, aus die Entstehung
der Identitätsphilosophie und den Versuch zu sprechen, den Hegel zur
Vollendung der letzteren gemacht habe. „Mit großer Energie sührte
ein Anderer den Abschluß des Systems herbei. Es wäre meiner un»
' Aus Schellings Leben. III. S. 182-184. Briese vom 28. Sept. und6.Oct.
1843 an Dorsmuller. - ' Ebendas. III. S. 242.
266 Letzte Kämpse
würdig, mich nicht srei über ihn auszusprechen, und würde sein An
denken wenig ehren. Ich habe mich sreimüthig über Kant und Fichte
geäußert, die beide meine Lehrer gewesen, obgleich ich bei keinem der
selben gehört habe (doch bei Fichte eine Stunde, als ich schon sein
College geworden war, und da lernte ich seinen Vortrag kennen, wie
ihn keiner seiner Nachsolger hatte). Sollte ich mich scheuen, über
Hegel zu sprechen?" „Daß ich ihn erwähne, zeigt, wie hoch ich ihn
stelle. Ich sehe, wie Hegel allein den Grundgedanken meiner Philo
sophie in die spätere Zeit gerettet hat, und diesen Gedanken, wie ich
namentlich
sehen habe, aus
hat seinen
er bis Vorlesungen
zuletzt erkannt
über
undGeschichte
in seinerder
Reinheit
Philosophie
sestgehal
er»
ten. Während wir anderen uns von dem Materiellen der gewonnenen
Ansicht sortnehmen ließen, hielt er die Methode in ihrer Reinheit
trefflich sest. Keiner hätte die vorangegangene Philosophie besser vollen
den können als er. Er hat die Identitätsphilosophie selbst zur posi
tiven Philosophie gemacht und damit überhaupt zur absoluten, nichts
außer sich lassenden Philosophie erhoben." ^
Nun wird weiter dargethan, daß Hegel die Identitätsphilosophie
mit Recht als „die Wissenschast der Vernunst" gesaßt und als ein
rationales, aus das reine Denken gegründetes System ausgesührt habe,
darum sei bei ihm die dialektische Methode an die Stelle der intellec-
tuellen Anschauung getreten und die Logik das Fundament der Philo
sophie geworden; sie hätte süglicherweise nicht blos ein Theil seines
Systems, sondern dieses selbst seinem ganzen Umsange nach sein sollen.
„Es könnte nun nicht anders als erwünscht sein, in das Innere der
Hegelschen Logik einzugehen, um die methodologischen Erörterungen,
den Scharssinn, der sich im Einzelnen kundgiebt, hervorzuheben, damit
niemand glaube, es solle das Werk überhaupt verurtheilt und über das
Verdienst des Urhebers abgesprochen werden. Nur tadle ich, daß sich
die Logik nur zu einem Theil gemacht und die Natur- und Geistes
philosophie außer sich gelassen hat. In diesem Fall war sie absolute
Logik, das Ideal der reinen Vernunstwissenschast. Daß indes diese
erst
ganzespäter
Wissenschast
- undsichnicht
in das
unabhängig
Logische auslösen
von Hegel
müsse,-habe
eingesehen."*
ich selbst
hieß es. daß Hegel das Werk Schellings, nämlich die Identitätsphilo-
sophie nicht gesördert, sondern nur karikirt und dadurch deren Mängel
erkennbar gemacht habe; darin bestehe das einzige Verdienst seiner
Lehre, die kein Fortschritt sei, sondern blos eine Episode. In dem
Vorwort zu Cousin sigurirte Hegel als der später Gekommene, den die
Mur zu einem neuen Wolssianismus prädestinirt zu haben schien. >
Nirgends hat Schelling über Hegel eingehender, gerechter, seiner
ielift würdiger geurtheilt als in dieser von Paulus überlieserten Vor»
le'ung. ' Es sind zwar nachgeschriebene Worte, die aber den Sinn
iini Wortlaut seiner Rede im Wesentlichen ohne Zweisel richtig wieder
geden, wie es ja auch Schelling selbst durch die Klage wegen Nach'
irulks anerkannt hat.
Es war eine Episode aus dem Berliner Katheder, die wir in den
gedruckten Vorlesungen umsonst suchen, obwohl es hier Stellen genug
giebt, die sich mit Hegel beschästigen.' Aber das Maß der Anerken
nung ist so ties heruntergesetzt worden, daß der später Gekommene
nur noch als ein hausbackener Philosoph von einer gewissen Nützlich
keit gilt.steht
barung Inzuderlesen:
sechsten
„Konnten
Vorlesung
sich über
mir sreilich
die Philosophie
die besonders
der Offen»
allem
> Aal. oben Cap. XV. S. 207-212, Cap. XVI. S. 215. 227-229. - ' Pau»
lus. S. 358-377. - » Sammll. Werke. Abth. II. Vd. I. S. 335. 587. Bd. III.
L. 53. 86-90. - < Ebendas. Bd. III. S. 87. - Aus dem München» Katheder
hatte er die Hegelsche Philosophie mit einer unnützen Flachsmaschine verglichen!
2, oben E. 210.
268 Letzte Kämpse
' Ebendaselbst. III. S. 18l, 197. - ' S. oben Cap. XIII. S. 170-172.
270 Letzte Kämpse,
' Aus Schellings Lebcn. III. S. 20l ff. Bries an Maitz v. 8. Nov. I846. -
« Ebendas. III. S, 24S ff. Bries an Schubert vom 8. März 18SZ. - ' Ebendas.
III. S. 214-217. Bries an Maitz vom 12. December 1849.
und Iahre. 271
sondern sängt auch an sich alt zu sühlen, jedensalls sind seine Tage
gezählt. Also komm, komm, liebstes Kind, es soll dir gut gehen und
du dich wohl sühlen bei uns." Der letzte Bries, den wir von ihm
haben, ans dem Februar 1854, ist ein großväterlicher Dank sür die
Geburtstagswünsche einiger seiner Enkel.' Es war sein letzter Geburts
tag, der achtzigste. Ein altes katarrhalisches Uebel, das ihn während
des Winters 1853/54 viel belästigt hatte, sollte durch eine Kur in
Psäsers gemildert werden. Schon aus der Reise dahin sanden die
Seinigen in Gotha und Erlangen sein Aussehen sehr verändert. Er
starb in Ragaz Abends den 20. August 1854.
Aus seinem Grabe hat König Maximilian II. ihm ein Denkmal
errichtet, seine Bildsäule steht in München, seine Büste in Walhalla,
eine Straße in München, eine in Berlin sührt seinen Namen. Dauernder
als diese äußeren Zeichen seines Andenkens und Ruhms lebt seine
Geistesthat in der deutschen Philosophie.
sophischen Lehrer angeregt und gesördert gesühlt hat, zeigt uns der
genannte vieljährige Brieswechsel.
Als es sich um Schellings Berusung und Uebersiedlung nach
Berlin handelte, war der Kronprinz in Athen und ersuhr in der Ferne,
welcher schmerzliche Verlust ihn bedrohe; der letzte Bries des Königs
hatte ihm plötzlich alle Freude am griechischen Himmel genommen, denn
er sprach von Schellings Ruse nach Berlin: „Wenn noch hundert
Briese mir dieselbe Nachricht wiederholten, ich kann es wahrhastig
nicht glauben, daß Sie, mein lieber verehrter Freund und Lehrer,
Bayern und Ihren, ich kann wohl sagen, mit kindlicher Innigkeit und
Liebe an Ihnen hängenden Schüler so plötzlich verlassen wollen; sagen
Sie, was haben wir gethan, um dieses zu verdienen?" „Mögen sich
auch in Preußen Ihnen schöne Aussichten des Wirkens und Nützens
eröffnen, vergessen Sie nicht, daß ein Herz wenigstens in Bayern
schlägt, in dem keines Ihrer Worte verloren gegangen noch je verloren
gehen wird, das von Ihnen empsangene als eine heilige Schuld be
trachtet, die abzutragen die Ausgabe seines ganzen Lebens sein wird;
was Sie mir thun, das thun Sie nicht nur unserem deutschen Vater
lande, sondern, wenn Gott mir hilst, dem gesammten Reiche des Geistes
der Welt! Gott, wie nöthig brauche ich Sie, wie nöthig braucht Sie
Bayern!" „Wie schmerzlich ist es mir, gerade jetzt so weit von
München zu sein, in einem Augenblicke, wo es sich darum handelt, ob
Bayern den größten Gelehrten, und Ich meinen besten Freund ver
lieren soll."'
Der Prinz athmet aus, wie er hört, daß Schelling, statt München sür
immer zu verlassen, zunächst den glücklichen Ausweg getroffen habe, mit
einjährigem Urlaub nach Berlin zu gehen, er beantwortet die Nachricht mit
einem Iubelrus der Freude: „Eine gesegnete nenne ich die Stunde, die
Ihnen den ergriffenen glücklichen Ausweg in die Seele gab". „Ich
bin eisersüchtig um jeden Strahl Ihres Geistes, der einem andern
Lande, wenn auch dem besreundetsten, zukommen soll" u. s. s. Nach
einem Wiedersehen in Berlin und in München schreibt der Prinz ein
Iahr später: „Wie ost denke ich der glücklichen mit Ihnen, meinem
lieben Herzenssreunde, zu Berlin und namentlich hier in München
verlebten Stunden; so Gott will, werden es nicht die letzten sein. Ich
verdanke Ihnen weit mehr, als ich es auszudrücken vermag; ich wäre
' Maximilian II. und Schelling. S. 33-35. Briese vom 12. u. 27. Febr. 1841.
«. Fischer. Gesch. d. Philol. VN IS
274 Letzte Kämpse
in Ansehung der Gottheit Christi und ist beunruhigt von den damals
rielverhandelten Fragen über die Gegensätze zwischen Glauben und
Nissen und deren mögliche Versöhnung; er sragt, ob die neukatholische
Zeitbemegung als ein Fortschritt im Sinne des Iohanneischen Christen-
thums gelten dürse, ob es zeitgemäß sei, die oft gesuchte Annäherung
des Protestantismus an den Katholicismus nunmehr anzubahnen; was
in den gegenwärtigen Zeitläusen Bleibendes und Vorübergehendes, was
in den menschlichen und staatlichen Verhältnissen Metaphysisches
enthalten sei; unter den damaligen Tagessragen, die ihn beschäftigen,
ist auch die Iudenemancipation nicht vergessen. Nachdem über die
VulkZbewegungen und Ausstände der Iahre 1848 und 1849 die monar
chischen Zustände gesiegt und sich wiederbesestigt hatten, sragt König
Maximilian II,, ob die der Monarchie günstige Sinnesänderung wohl
ein halbes Iahrhundert andauern könne; er möchte wissen, welche welt
bewegenden Ideen voraussichtlicherweise aus die gegenwärtige Zeitrichtung
solgen werden? Diese weiffagende Belehrung war eine der letzten, die
er von dem Philosophen begehrte. ^
In allen diesen Fragen, die stets mit vielem Intereffe, ost mit
sürstlicher Eile und Unbestimmtheit gestellt sind, erkennt man stets die
edle, durchgängig humane Tendenz und Gesinnung; Kronprinz Maxi
milian war ein Gegner der reactionären Bestrebungen in Religion und
Wissenschaft, in den Gebieten der Kirche und Universität, er stand hier
seinem Vater wohl nicht seindlich gegenüber, aber andersdenkend. Zwischen
beiden lag das ultramontan gesinnte Ministerium Abel (April 1838
bis Februar 1847) mit seiner, wie der Kronprinz sagte, „verdüsternden
Achtung". Schelling sympathisirte mit seinem königlichen Schüler,
auch er war über die Zustände unter dem genannten Ministerium miß
gestimmt und sühlte sich in seiner Stellung als Vorstand der Akademie
der Wiffenschasten (da er als solcher nicht mehr gewählt sein wollte)
durch Abel persönlich verletzt. Die Verhältniffe lagen so, daß man
ihn, wie er auch dem Kronprinzen schrieb, in Berlin gern kommen, in
Mänchen nicht ungern gehen sah.
Den 21. März 1848 hatte König Ludwig I. abgedankt und der
Kronprinz war König geworden. Gleich am nächsten Geburtstage
Lckellings (Ianuar 1849) verlieh ihm der König das Großkreuz des
> Vgl. Ebendaselbst. S. 119-121 (Hohenschwangau, den 10. December 1845).
E. 141 (Echlangenbad. den 17. August 1847). S. 213-214 (München, den 12. Ja.
nunr 1852). S. 239-40 München, den 30. November 1853).
,8'
276 Letzte Kämpse und Iah«.
Schöllings Vehre.
Srfter Abschnitt.
Naturphilosophie.
(1794-1797.)
281
Erstes Capitel.
Wurzel ersaßt, bringt ihn schon mit dem ersten Schritt dicht in die
Nähe des Meisters.
Die Grundsrage geht aus den Punkt zurück, worin schon sest
gestellt ist, daß die Philosophie Einheitslehre und ihr Princip das
Unbedingte sein müffe; jetzt wird von neuem gesragt: worin dal Un
bedingte oder Absolute bestehe, dieser Realgrund alles Wiffens, dieser
Urgrund alles Realen? Zur Auslösung dieser Frage bieten sich zwei
Möglichkeiten: entweder ist das eine Princip, aus welchem alles ab
geleitet werden soll, in die Natur der Dinge zu setzen, unabhängig
von dem erkennenden Subject, oder in das Wesen des letzteren; ent
weder ist jenes Princip „das absolute Object" oder „das absolute
Subject". Die erste Fassung giebt den Standpunkt des Dogmatismus,
die zweite den des Kriticismus. Die Philosophie aus einem Princip
ist Monismus: diese Fassung steht sest. Der Monismus ist entwedcr
dogmatisch oder kritisch : welche dieser beiden Fassungen die einzig mög
liche ist, steht in Frage.
Das Unbedingte kann nicht in da« Object gesetzt werden, denn
ein absolutes oder unbedingtes Object widerstreitet sich selbst; dus
Object ist nur denkbar in Rücksicht aus ein (ihm entgegengesetztes)
Subject, daher ist es als solches bedingt und in der Sphäre der Objecle
überhaupt das Unbedingte nicht anzutreffen. „Unser deutsches Wort
bedingen nebst den abgeleiteten ist in der That ein vortreffliches
Wort, von dem man sagen kann, daß es beinahe den ganzen Schutz
philosophischer Wahrheit enthalte. Bedingen heißt die Handlung, wo
durch etwas zum Ding wird, sie bedingt dasjenige, was zum Ding
gemacht ist, wodurch zugleich erhellt, daß nichts durch sich selbst als
Ding gesetzt sein kann. d. h. daß ein unbedingtes Ding ein Wider
spruch ist, Unbedingt nämlich ist das, was gar nicht zum Ding ge
macht ist, gar nicht zum Ding werden kann."> Alle Objecte sind
bedingt und gehören in die Reihe der Dinge. Mithin kann das Un
bedingte nur in dem gesucht werden, das schlechterdings nicht als
Object oder Ding gedacht werden kann: in dem Gebiete des Subjec-
tiven, in dem Subject. sosern daffelbe kein Object, kein Ding ist noch
jemals sein kann. Die einzig mögliche Fassung des Unbedingten ist
die kritische. Doch muß man sich hier vor einem Fehlgriff hüten.
ziehung
WiezudasdemObject
Subject
nur durch
bestimmbar
seinen ist,
Gegensatz
so giltund
vondurch
demseine
letzteren
Be»
dasselbe in Rücksicht aus das Object. Beide beziehen sich aus einander
> Ebenda,, § 3.
Tas Princip der «lleinheii. 285
und sind durch diese ihre Relation bedingt. Das dadurch bestimmte
Lubject gehört in die Sphäre des Bedingten, der Dinge, der Objecte;
es ist das in der Wechselwirkung mit dem Object begrissene, vor
handene, gegebene Subject. mit einem Wort die Thatsache des subjec-
tiven Bewußtseins (das Bewußtsein als Thatsache). Es könnte scheinen.
nl3 ob zwischen den beiden entgegengesetzten Standpunkten des Dogma
tismus und Kriticismus (des absoluten Objects und absoluten Subjectsj
ein mittlerer möglich wäre, der scheinbar beide vereinigt, indem er von
der Verbindung zwischen Subject und Object, von der Thatsache des
Bewußtseins, von (dem Factum) der Vorstellung der Dinge ausgeht.
Jede Thatsache ist als solche bedingt und kann schon deshalb nicht zum
Princip der Philosophie gemacht werden; ein solcher Standpunkt ver
mittelt nicht, sondern sällt aus die dem Kriticismus entgegengesetzte
Leite und ist nur dadurch lehrreich, daß aus seiner Durchsührung die
hold
Unhaltbarkeit
seine Elementarphilosophie
des ganzen Versuchsaus
einleuchtet.
die Thatsache
Bekanntlich
des Bewußtseins
hatte Rein-
Bd. I. S. 75. Der Bries an Hegel ist vom 4. Febr. 1795, die Vorrede der Schrist
vom Ich u. s. w. vom 29. März 1795.
' Schellings sämmtl. Werke. Abth. I. Bd. I. S. 193. — ' Ebenda?. S. 159.
Vgl. Aus Schellings Leben. Bd. I, S. 76.
Dogmatismus und Kriticismus. 287
Zweites Capitel.
Dogmatismus und Kriticismus.
I. Der Pseudokantianismus.
Gegeben ist sür das gewöhnliche Bewußtsein die Mannichsaltig-
keit der Dinge, begriffen unter dem Gegensatz des Bewußtseins und
der Welt, des Subjects und Objects; gesordert wird sür die philo
sophische Erkenntniß die Auslösung dieses Gegensatzes, die absolute
Einheit des Subjects und Objects; die Forderung wird ersüllt und
die unbedingte Einheit hergestellt, indem entweder das Subject völlig
' Schellings sammtl. Werke. Abth. I. Bd. I. S. 281-342 (geschrieben im
Jahr 1795).
288 Dogmatismus
sassen, und diese Schwäche sei nicht etwa nur eine einstweilige Schranke,
die der sich erweiternde Geist mit der Zeit überwinden werde, sondern
die Naturbeschassenheit der menschlichen Vernunst, man könne sich da
her über diesen Punkt gänzlich und sür immer beruhigen, Dank der
glorreichen Entdeckung Kants! Ietzt könne man das theoretisch Unbe
weisbare mit völliger Sicherheit dem Stempel der praktischen Vernunst
übergeben und dadurch in gangbare Münze verwandeln. Und dieses
theoretisch Unbeweisbare, was ist es? Der Unbegriss der Realität eines
Dinges an sich, eines absoluten Objects ! Diesen Unbegriff nicht denken
zu können, gilt als die Schwäche der theoretischen Vernunst; diesen
Unbegriff in Realität zu verwandeln, an die Realität dieses Unbegrisss
zu glauben, gilt als die Stärke und Erhabenheit der praktischen! Und
das nennt man kritische Philosophie, rühmt sich derselben und preist
daraushin den Namen Kants !^ Schelling hatte in Tübingen Beispiele
solcher Kantianer vor sich und schildert sie seinem Freunde Hegel in
einem Briese aus dem Ansange des Iahres 1795 schon in den Zügen,
welche die „philosophischen Briese" mit geschärster Satire ausprägen.
„Jetzt giebt es hier Kantianer die Menge, aus dem Munde der Kinder
und Säuglinge hat sich die Philosophie Lob bereitet, nach vieler Mühe
haben nun endlich unsere Philosophen den Punkt gesunden, wie weit
man mit dieser Wissenschast gehen dürse. Aus diesem Punkt haben
sie sich sestgesetzt, angesiedelt und Hütten gebaut, in denen es gut
wohnen ist, und wosür sie Gott den Herrn preisen." „Alle möglichen
Dogmen sind nun schon zu Postulaten der praktischen Vernunst ge
stempelt, und wo theoretisch-historische Beweise nimmer ausreichen, da
zerhaut die praktische (tübingische) Vernunst den Knoten. Es ist Wonne,
den Triumph unserer philosophischen Helden mit anzusehen. Die Zeiten
der philosophischen Trübsal, von denen geschrieben steht, sind nun
vorüber."
II. Verhältniß zwischen Dogmatismus und Kriticismus.
I, Uebereinstimmung: das monistische System.
Die Kantische Vernunstkritik hat jene Vcrirrung veranlaßt, aber
nicht verschuldet, denn ihre Grundsrage läßt über die Bedeutung des
Problems keinen Zweisel. Es wird gesragt: „Wie sind synthetische
Urtheile a priori möglich?" Gesetzt, es gebe blos Einheit und keine
' Ebendas. Br. III. u. Br. VII. S. 293 ff.. 313. - ' Ebendas. Br. V. u. VI.
S. 301-303. 308, - ' Ebendas. Br. V. S. 30S.
und Kriticismus.
' Ebendas. Br. VII. S. 315 ff. Br. VIII. S. 316 ff., 319-322.
292 Dogmatismus
durch die Art der praktischen Lösung, durch den Geist des Postulats:
das dogmatische System nimmt die Lösung als absoluten Zustand,
das kritische als unendliche Ausgabe; jenes sordert die unbeschrank
teste Passivität des Subjects, dieses die unbeschränkteste Activität. Tai
dogmatische Postulat heißt: „vernichte dich! höre aus zu sein!" Das
kritische heißt: „sei!">
Die Uebereinstimmung beider Systeme liegt in (der Ausgabe und
Forderung) der Identität, ihr Gegensatz in der Freiheit. In diesem
Punkte verhalten sie sich, wie Ia und Nein. Gilt der Dogmatismus,
so ist die Freiheit unmöglich; wird das Ding an sich (das absolute
Object) gesetzt, so ist die Freiheit ausgehoben, mit der Idee eines ob
jectiven Gottes ist die Vernunstsreiheit und Autonomie unverträglich;
die nothwendige Folge des ersten Begriffs ist die Verneinung des
zweiten. Daß der Begriff Gottes als eines absoluten Objects (Dinges
an sich) praktisch sein soll, hebt die Nothwendigkeit dieser Folge nicht
aus. Ding an sich und Freiheit sind absolut entgegengesetzt: dies ist
der Gegensatz zwischen Dogmatismus und Kriticismus.
Wären die Erkenntnißobjecte Dinge an sich, so wäre die Freiheit
vernichtet, die letztere ist also nur möglich, wenn die Erkenntnißaijecte
(nicht Dinge an sich, sondern) Erscheinungen sind. Daß wir nicht
Dinge an sich, sondern Erscheinungen erkennen, dieser phänomenale
Charakter der Erkenntnißobjecte ist mithin nicht die Folge der mensch
lichen Vernunstschwäche, sondern der unbedingten Vernunstsreiheit: ienes
rühmen die Kantianer, dieses ist der wahre Gedanke Kants und die
Grundidee seines ganzen Systems.^
m. Das Ergebniß.
Wir sassen den Kern der philosophischen Briese, die zum Tiessten
und Einsichtsvollsten gehören, was über Kant geschrieben ist, in solgen
den Satz: Dogmatismus und Kriticismus sind beide Identitäts-
systeme, sie sind beide monistisch, der Kriticismus ist Freiheits-
system, der Dogmatismus das Gegentheil. Wenn es keinen anderen
Beweis der Freiheit giebt, als den praktischen, so ist der Dogmatis
mus nur praktisch widerlegbar, nämlich dadurch, „daß man das ent
gegengesetzte System in sich realisirt".
Die drei ersten Schristen Schellings sind in ihrem Fortgange
' Aus Schellings Leben. I. S. 76. Bries v. 4. Febr. 1795. - ' Meine Gesch.
der neuern Philos. Bd. V. (2. Ausl.) Buch III. Cap. III. S. 432.
294 Die Freiheit
Helden, Fichte, im Lande der Wahrheit begrüßen! Segen sei mit dem
großen Mann; er wird das Werk vollenden!'"
Drittes Capitel.
Die Freiheit als Principe
leistet, ist Natur; was der moralischen Widerstand leistet, ist Mensch
heit. Natur ist Schranke des Könnens, Menschheit ist Schranke des
Dürsens.'
Giebt es nun kein unbedingtes Streben ohne unbedingtes Wider
streben, ohne moralischen Widerstand, ohne daß der Freiheit eines
Wesens die eines andern in den Weg tritt, so ist eine Mehrheit
sreier Wesen nothwendig. Alle erstreben dasselbe Ziel und sind
darin identisch, ihr gegenseitiges Widerstreben oder ihre Nichtidentität
liegt nicht im Ziel, sondern in den Schranken des Strebens, nicht in
dessen unbedingter, sondern bedingter Natur, in seiner zeitlichen und
empirischen Beschränkung. Vermöge des empirischen Strebens sallen
die Freiheitssphären aus einander und schließen sich gegenseitig aus.
Eben dadurch wird jede dieser Sphären eine ausschließende, einzelne,
individuelle: jedes sreie Wesen bildet einen Einzelwillen, eine moralische
Individualität.
Wäre ein Individuum als solches unbedingt srei, so wären alle
übrigen vollkommen unsrei, und die Freiheit überhaupt wäre unmög
lich. Also Freiheit überhaupt und unbedingte empirische oder indivi
duelle Freiheit stehen in Widerstreit; dieser Widerstreit ist zu lösen
und die Freiheit als solche dadurch herzustellen, daß jeder Einzelwille
dergestalt eingeschränkt wird, daß mit seinem Wollen das aller übrigen
bestehen kann.^
Das Problem ist der Widerstreit der allgemeinen und individuellen
Freiheit, des allgemeinen und individuellen Willens; die Lösung des
Problems sordert die Uebereinstimmung beider, der allgemeine Wille
geht aus ein Reich moralischer Wesen, der individuelle aus die absolute
Selbstbestimmung des Individuums; das Gebot des ersten ist ethisch,
das des anderen moralisch. Es handelt sich um die Uebereinstim
mung beider, um die Gleichung des ethischen und moralischen Mollens.
Das höchste Gebot aller Ethik heißt: „Handle so, daß dein Wille
absoluter Wille sei, daß die ganze moralische Welt deine Handlung
wollen könne, daß durch dieselbe kein vernünstiges Wesen als bloßes
Object, sondern als mithandelndes Subject gesetzt werde". °
II. Die Rechtslehre.
Die Form des Einzelwillens ist eine nothwendige Bedingung des
Willens überhaupt, sie gilt daher unbedingt und tritt jeder Einschrän-
' Ebendas. § 8-13. - ' Ebendas. § 13-20. - « Ebendas. § 31-45.
296 Die Freiheit
kung entgegen. Wenn nun das ethische Gebot die Geltung des all
gemeinen Willens und darum die Einschränkung des individuellen
sordert, so erhebt sich dagegen die unbedingte Geltung des letzteren
von seiten der Form. Hier ist eine Wissenschast nöthig, die sich in
Gegensatz zur Ethik stellt, und deren Charakter und Probleme aus
eben dieser Entgegensetzung einleuchten. ^ Einzuschränken ist der Einzel
wille in Rücksicht aus seine Herrschast nach außen, die Ausdehnung
seines Machtgebietes, sein Können, d. i. die Materie des Willens,
denn die uneingeschränkte Freiheit des Individuums in diesem Sinne
wäre die Vernichtung der Freiheit aller. Unbedingt anzuerkennen und
ausrechtzuhalten
sönliche Wollen, istdiedieWurzel
Willenssreiheit
aller Freiheit.
von seiten
Eingeschränktes
der Form, dasKönnen
ver-
innerhalb der Willenssreiheit ist Dürsen. Was ich dars, ist mein
Recht. Iene der Ethik entgegengesetzte Wiffenschast ist die Rechts
lehre. Der individuelle Wille soll nichts enthalten, was dem allge
meinen widerstreitet, er soll in Rücksicht seiner Materie mit diesem
übereinstimmen: das gebietet die Ethik. Der allgemeine Wille dars
nichts enthalten, was die Form des individuellen Willens aushebt, die
Materie des ersten muß im Einklang sein mit der Form des letzteren:
diese Uebereinstimmung ist das Problem der Rechtslehre.'
1. Unecht.
Die Frage heißt: Was dars ich? Welches sind meine ursprüng
lichen Rechte? Die Deduction derselben ist die Ausgabe der Rechtslehre,
zu lösen aus einem obersten Grundsatz, den die Geltung der indivi
duellen Willenssorm dahin bestimmt: „Ich habe ein Recht zu allem,
was der Form des Willens gemäß ist, ich dars alles, wodurch ich das
Dürsen als solches behaupte." So ist die Materie des Dürsens be
stimmt durch deffen Form, blos dadurch; Materie und Form des
Dürsens verhalten sich, wie das schlechthin Bestimmbare zu dem schlecht
hin Bestimmenden: es soll die persönliche Willenssreiheit einen Spiel
raum beschreiben dürsen, unantastbar durch jede sremde Willenscausa-
lität, diese sei allgemeiner Wille oder individueller Wille oder Wille
überhaupt. '
Gegenüber dem allgemeinen Willen besteht das Recht in der mo
ralischen Freiheit, gegenüber dem individuellen Willen in der sormalen
Ebendas. § 95-104.
Die Freiheit
ob ich die physische Uebermacht habe. Hier steht die Untersuchung bei
einem neuen Problem. Es ist zur Erhaltung des Rechts offenbar
nothwendig, einen Zustand zu schaffen, in dem aus der Seite des Rechts
immer auch die physische Gewalt ist. Die Auslösung dieses Problems
enthält das Staatsrecht.'
Lchlußsatz: das All lebt, die ganze Natur ist lebendig, es giebt
keinen wirklichen Gegensatz zwischen Natur und Geist, zwischen unor
ganischer und organischer Natur. Wir sehen schon das Thema und
die Anlage vor uns zu der künstigen Naturphilosophie, zu dem küns
tigen Identitätssystem.
Wenn Schelling von der physichen Causalität als Erscheinung der
Freiheit kurzweg sagt: „diese Causalität heißt Leben", so gründet er
sich damit aus Kants tiessinnige, in der Kritik der teleologischen Ur
teilskrast gesührte Untersuchung. Freiheit in der Natur ist objective
Zweckmäßigkeit. Kant hatte gezeigt, daß dieser Begriss ein nothwen-
diges Princip unserer Betrachtungs- und Beurtheilungsart der Natur
sei, kein erklärendes, sondern ein leitendes Princip, nicht unser Urthcil
bestimmend, sondern nur unsere Reslexion. Wenn sich nun dieses Rc-
slerionsprincip in ein wirkliches Erkenntnißprincip verwandeln läßt, so
wird aus der teleologischen Naturbetrachtung im Sinne Kants Natur
philosophie im Sinne Schellings. Ten ersten Schritt dazu bemerken
wir schon in einigen Sätzen der „neuen Deduction des Naturrechts".
Auch giebt es ein Zeugniß, daß Schelling der Idee der Kantischen
Teleologie sich bereits bemächtigt und ihre Bedeutung erkannt hatte.
Von dem Abschnitt, in welchem Kant den Begriff der objectiven Natur-
Mckmäßigkeit erläutert, sagt Schelliug schon am Schluß seiner Abhand
lung vom Ich: „Vielleicht sind nie aus so wenigen Blättern so viele
tiessinnige Gedanken zusammengedrängt worden". ^
Vaß die Kantische Pilosophie nothwendig die Fichtesche sordert,
den Kriticismus als Monismus als Identitäts- und Freiheitssystem :
diese Einsicht hat Schelling sich gewonnen und in seinen Schristen dar
gelegt. Es bleibt noch ein Schritt übrig, womit er innerhalb der
Wissenschaftslehre zu seiner eigenthümlichen und selbständigen Ausgabe
übergeht: er hat zu zeigen, daß die Kantisch-Fichtesche Philosophie dazu
drängt, die innere Zweckmäßigkeit der Natur als ein reales Princip
oder, was dasselbe heißt, den Geist und die Freiheit als Weltproduc-
tiun zu sassen.
Viertes Capitel.
ihm gesetzmäßig; die Gesetze der Welt nämlich sind als Verstandes,
begriffe dem Geiste eingegraben, unbegreislich wie und woher; diese
Gesetze überträgt der menschliche Geist aus die Dinge an sich, es ist
nicht einzusehen, wie er sie überträgt; und diese ihm sremde Welt ge
horcht diesen ihr sremden Gesetzen aus eine völlig unbegreisliche Art.
Und das soll Kant gelehrt haben? Dieses System ist nicht Idealis
mus, Dogmatismus soll es auch nicht sein, es ist nichts. „Es hat
nie ein System existirt, das lächerlicher oder abenteuerlicher wäre.'"
Der Grund dieser durchaus verkehrten Aussassung liegt darin, daß
die Erkenntniß in zwei von einander völlig gesonderte Elemente zerlegt
wird: Form und Materie, die Form der Erkenntniß sei durch uns
gegeben, die Materie von außen; der Grund der Erkenntnißsorm seien
unsere VorstellungsvermSgen, die Ursache des Erkenntnißstosss (der sinn
lichen Eindrücke) die Dinge an sich. Wie soll aus diesen beiden Ele
menten je ein Product werden, und zwar ein Product gleich der Er
kenntniß? Wie entsteht in uns die Vorstellung der äußeren Dinge,
unabhängig von uns? Woher die Nothwendigkeit dieser Vorstellung?
Woher die Nothwendigkeit der Beziehung unserer Vorstellung aus
äußere Objecte? Unter der gemachten Voraussetzung ist von diesen
Fragen keine zu beantworten. Wenn Vorstellung und Ding nicht
unmittelbar zusammenstimmen, so ist die Erkenntniß unmöglich; wenn
Vorstellung und Ding einander ursprünglich entgegengesetzt werden, so
ist ihre Zusammenstimmung ein Wunder. Wäre die Kantische Lehre
jener Dualismus der Erkenntnißelemente, an dem die ganze Aussassungs
weise der Kantianer hängt, so wäre die Erkenntniß von vornherein
unmöglich, und die kritische Grundsrage nach der Möglichkeit der Er
kenntniß sinnlos. Es hilst nichts, den Unsinn dieser Aussassung hinter
einer dunklen Schulsprache, wie sie „die Kantischen Hierophanten" im
Munde sühren, zu versteckend
Ienes Grundübel der dualistischen Aussassungsweise wurzelt in dem
verworrenen Begriff der Dinge an sich, in diesem Hirngespinnst, das
die Philosophen so,lange gequält hat: Dinge an sich, Dinge, die außer
den wirklichen Dingen noch vorhanden sein, die ursprünglich aus uns
einwirken und den Stoff zu unseren Vorstellungen liesern sollen! Hätte
man die Kantische Lehre von der Entstehung des Objects vermöge der
Einbildungskrast und Anschauung richtig verstanden, so würde jenes
' Ebendas. Abh. I. S. 360 ff. - ' Abh. II. S. 363-6S. Vgl. Abh. I. S. 350.
302 Das Hreiheilssystem
Hirngespinst verschwunden sein, wie Nebel und Nacht vor Licht und
Sonne.^
II. Der Standpunkt des Idealismus.
I. Die Begründung ber Erlenntniß.
Wahrheit ist absolute Uebereinstimmung des Gegenstandes und
des Erkennens. Ist der Gegenstand ein vom Erkennen unabhängiges
Ding an sich, so ist jede Uebereinstimmung unmöglich ; sie ist nur dann
möglich, wenn der Gegenstand kein solches Ding an sich, kein dm
Erkennen sremdes Ding, sondern „nichts anderes ist, als unser noth-
wendiges Erkennen". Erkenntniß ist Identität der Vorstellung und
des Gegenstandes, die Frage nach der Möglichkeit der Erkenntniß ist
gleichbedeutend mit der Frage nach dieser Identität; diese letztere aber
ist nur unter einer einzigen Bedingung möglich: wenn es ein Wesen
giebt, zugleich vorstellend und vorgestellt, zugleich anschauend und an
geschaut, d. i. ein Wesen, das sich selbst anschaut. Das einzige Wesen
dieser Art sind wir selbst, das Ich. der Geist. Ichheit, Geist,
Selbstanschauung sind Wechselbegriffe. Der Geist erkennt nur, was er
anschaut;
duct: aus was
diese erunmittelbare
anschaut, istAnschauung
seine eigenegründet
Thätigkeit
sich und
alle deren
Gewißheit,
Pro-
Anschauen
keit ist das und
Anschauen
Angeschautes
selbst, nicht
oder,unterschieden,
anders ausgedrückt,
die angeschaute
der Geist
Thätig-
ist
Der Geist ist sich Object. Was er ist. muß er sür sich sein
und werden; was er thut, muß er wissen. Er ist nicht blos an
schauende Thätigkeit (productive Anschauung), sondern macht sich die
selbe objectiv. indem er aus jener unmittelbaren Einheit des Anschauens
und des Angeschauten (der Vorstellung und des Gegenstandes) heraus
tritt und jetzt mit Freiheit wiederholt, was er mit Nothwendigkeit er
zeugt hat. Die geistige Thätigkeit, die zuerst mit dem Product ein
sach zusammensiel und gleichsam darin gebunden war, wird jetzt srei:
sie erscheint als sreies, von dem Product unabhängiges Handeln, das
Product erscheint als nothwendiges, von unserem Handeln unabhängi
ges Object, als ein ohne unser Zuthun vorhandenes Ding, nicht durch
das Bewußtsein gesetzt, sondern demselben vorausgesetzt. So entsteht
das Bewußtsein äußerer Dinge als gegebener Objecte: die objective
Anschauung. Sie ist kein Product der Willkür und giebt sich dem
gemäß als unwillkürliche, mit dem Gesühle des Zwanges oder der
Nöthigung verbundene Vorstellung.
Der Geist kann seine Thätigkeit davon absondern, er kann das
Product mit Freiheit wiederholen oder reproduciren, aber die An
schauung nicht ändern. Die Abstraction von der Anschauung ist srei,
die Anschauung selbst ist gegeben und nothwendig. Die Anschauung
ist das, wovon abstrahirt wird, also die Bedingung, ohne welche die
Abstraction nicht möglich ist; darum ist mit der Freiheit der Abstrac
tion zugleich das Gesühl des Zwanges in Betress der Anschauung ver
bunden. Vermöge der Abstraction wird die subjective Thätigkeit srei,
und der Geist erkennt dadurch sich als Subject und die Anschauung
als Object; das Bewußtsein der Freiheit und das Bewußtsein des
Objects sind darum nothwendig mit dem Gesühle verknüpst, an die
Anschauung gebunden zu sein. Sie bedingen sich gegenseitig, diese
beiden nach innen und außen gerichteten Acte des Bewußtseins, das
der Freiheit (des Subjects) und der Anschauung (des Objects), keines
ist ohne das andere möglich, keines von beiden ohne das Gesühl der
Nöthigung. Die Abstraction verwandelt die Anschauungen in Begriffe:
daher stehen die Begriffe in demselben Verhältniß zur Anschauung als
die Abstraction, sie sind nothwendig aus die Anschauung bezogen und
zugleich Producte unserer sreien Thätigkeit. Dieser unserer sreien
Thätigkeit können wir uns nur bewußt werden im Gegensatz zu dem
Producte der Anschauung: daher Denken und Anschauung, inneres und
äußeres Bewußtsein nothwendig mit einander verknüpst sind.
304 Das F«iheitssysstem
weit mehr vermögen würde, als der Glaube an seine Philosophie selist,
so hätte man bedauern können, daß Kant seine Philosophie, die allen
Dogmatismus von Grund aus zerstören sollte, in der Sprache o«
Dogmatismus vortrug." „Nichtsdestoweniger müßte ein Kantianer,
der nicht an Worten hängen bleibt, sondern aus die Sache geht, zwar
dem Buchstaben seines Lehrers zuwider, doch seinem Geiste ganz gemäß
behaupten, daß wir wirklich die Dinge, wie sie an sich sind,
erkennen, d. h. daß zwischen dem vorgestellten und dem wirklichen
Gegenstande gar kein Unterschied stattssinde." ^
> S. WTAbth. I. Bd. I, S. 403-404.
Uebergang zur Naturphilosnphie. 30?
Fünstes Capitel.
Trieb, der, mit der rohen Materie gleichsam ringend, jetzt siegt, jetzt
unterliegt, jetzt in sreieren, jetzt in beschränkteren Formen durchbricht.
Es ist der allgemeine Geist der Natur, der allmählich die rohe Materie
sich selbst anbildet. Von dem Moosgeslechte, an dem kaum noch die
Spur der Organisation sichtbar ist, bis zur veredelten Gestalt, die die
Fesseln der Materie abgestreist zu haben scheint, herrscht ein und der
selbe Trieb, der nach einem und demselben Ideale von Zweckmäßigkeit
zu arbeiten, ins Unendliche sort ein und daffelbe Urbild, die reine
Form unseres Geistes, auszudrücken bestrebt ist. Es ist keine
Organisation denkbar ohne productive Krast. Ich möchte wissen,
wie eine solche Krast in die Materie käme, wenn wir dieselbe als ein
Ding an sich annehmen. Es ist hier kein Grund mehr, in Behaup
tungen surchtsam zu sein. An dem, was täglich und vor unsern Augen
geschieht, ist kein Zweisel möglich. Es ist productive Krast in Dingen
außer uns. Eine solche Krast ist aber nur die Krast eines Geistes.
Also können jene Dinge keine Dinge an sich, können nicht durch sich
selbst wirklich sein. Sie können nur Geschöpse, nur Producte eines
Geistes sein. Die Stusensolge der Organisationen und der Uebergang
von der unbelebten zur belebten Natur verräth deutlich eine productive
Krast, die erst allmählich sich zur vollen Freiheit entwickelt.'"
Hier ist die erste Conception der Schellingschen Naturphilosophie
gleichsam im Grundriß: die Natur als ein Entwicklungssystem,
dessen innerster bewegender und erzeugender Grund, dessen letzter, trei
bender Zweck und naturgemäße Frucht der Geist ist.
' Ebendas, S. 396. - ' Worte Kants in seiner Abhandlung „Vom vorneh.
men Ton in der Philosophie'. - ' Schellings Abhandlungen z, Erl. 'des Idea
lismus. S. W. Abth. I, Bd. I. S. 401 ss.
310 Uebergang
Naturphilosophie.
(1797-1807.)
3l5
Sechstes Capitel.
sie Ell/^r/sung der Naturphilosophie. Der Kritische Standpunkt.
andere Art der Erkenntniß der Dinge. Dann bleibt den Philosophen
nichts übrig, als unter die Poeten zu gehen, die nach der Theilung
der Welt kommen. Auch haben wir in der philosophischen Litteratur
unserer Tage schon ein Buch, das der Metaphysik diesen erbaulichen
Trost zuspricht.
Es hat eine Zeit gegeben, wo Philosophie und Ersahrung, Natur
philosophie und Physik ungeschieden eines waren, aber die Fortentwick
lung ist hier, wie überall, die differenzirende Macht gewesen, die Wege
haben sich gesondert, darin liegt einer der Hauptunterschiede der alten
und neuen Philosophie; die Wasserscheide bildet das sechzehnte Iahr
hundert, und einem Wegweiser gleich, der die Philosophie aus die neue
Bahn der Erkenntniß nach dem Vorbilde der Ersahrungswissenschast
hinweist, steht Bacon an der Spitze der neuen Zeit. Seitdem wurde
die Stellung der Philosophie kritisch. Und kritisch ist sie entschieden
und sestgestellt worden.
Bacon wollte aus der Philosophie eine Theorie der Ersahrungs
wissenschast machen, dadurch mußte der Unterschied zwischen beiden im
mer deutlicher hervortreten, bis Kant das Verhältniß seststellte. Gegen
stand der Ersahrungswissenschast sind die Thatsachen der Natur und
Geschichte, die unter dem Ersahrungsstandpunkt als vorgesundene und
gegebene erscheinen, ausgelöst, zergliedert, erklärt werden. Die Grund
srage aller Ersahrungswissenschast heißt: wie sind die Dinge möglich?
Gegenstand der Philosophie ist die Thatsache der Ersahrungswissenschast
selbst, und ihre Grundsrage heißt: wie ist die Erkenntniß der Dinge,
Mathematik, Physik, Ersahrung möglich? Der Ersahrungsstandpunkt
setzt voraus, was der philosophische untersucht: die Möglichkeit der Er
sahrung; jener verhält sich zu den Bedingungen aller. Erkenntniß dog
matisch, dieser kritisch.
Die Bedingungen der Erkenntniß sind auch die Bedingungen aller
Erkennbarkeit, aller erkennbaren Objecte, aller Erscheinungen, d.h. es
sind Weltbedingungen.
Die Dinge als gegeben ansehen, ohne alle Rücksicht aus die Be
dingungen ihrer Erkennbarkeit, heißt sie dogmatisch betrachten; sie nicht
als gegeben ansehen, sondern aus den Bedingungen der Erkennbarkeit
herleiten (d. i. aus denselben Bedingungen, aus denen die Erkenntniß
solgt), heißt sie kritisch betrachten.
Der kritische Standpunkt umsaßt daher in seiner Tragweite mehr
als blos das Gebiet einer subjectiven Erkenntnißtheorie, denn es ist
318 Tie Entstehung der Naturphilosophie. Der kritische Standpunkt.
klar,
niß und
daß Erkennbarkeit
unter die Erscheinungen,
vorausgehen,denen
auchdiederBedingungen
Mensch im der
anthropolo
Erkennt-
Siebentes Capitel.
Die philosophischen Ausgangspunkte und die Grundidee
der Naturphilosophie.
3, Leibnizens Entwicklungslehre.
Ist aber Leben und Organisation vermöge ihrer inneren Zweck
mäßigkeit in der bewußtlosen Intelligenz oder in der Einheit von
Materie und Geist gegründet, so ist das Leben allgegenwärtig und die
ganze Natur eine Stusensolge des Lebens, so giebt es nichts absolut
Geistloses, darum nichts absolut Todtes.
In dieser Grundsorm der Schellingschen Naturphilosophie erkennen
wir ihre Verwandtschast mit Leibniz, deren sich Schelling sreudig be
wußt war. Seine Uebereinstimmung mit Leibniz sällt in denselben
Punkt als sein Gegensatz zu Kant: in die Bejahung zweckthätiger
Naturkräste, der Allgegenwart des Lebens, des Stusenganges der Dinge,
des Entwicklungssystemes der Welt. „Die Zeit ist gekommen", sagt
Schelling in der Einleitung seiner ersten naturphilosophischen Schrift,
„da man Leibnizens Philosophie wiederherstellen kann." „Sein Geist
verschmähte die Fesseln der Schule, kein Wunder, daß er unter uns
nur in wenigen verwandten Geistern sortgelebt hat und unter den
übrigen längst ein Fremdling geworden ist. Er gehorte zu den wenigen,
die auch die Wissenschast als sreies Werk behandeln. Er hatte in sich
den allgemeinen Geist der Welt, der in den mannichsaltigsten Formen
sich offenbart und wo er hinkommt Leben verbreitet." ^
Diese Annäherung an Leibniz ist kein Zurückgehen hinter Kant,
sondern sie geschieht im Hinblick aus die Entsaltung der bewußtlosen
Intelligenz, ganz in Uebereinstimmung mit Fichte, der aus demselben
Grunde dieselbe Verwandtschast empsand. In jener letzten Abhand
lung, die dem Eintritt der naturphilosophischen Periode unmittelbar
vorausging, sagt Schelling am Schluß, indem er aus Fichte hinweist:
„Die Geschichte der Philosophie enthält Beispiele von Systemen, die
mehrere Zeitalter hindurch räthselhast geblieben sind. Ein Philosoph,
dessen Principien alle diese Räthsel auslösen werden, urtheilt noch
neuerdings von Leibniz, er sei wahrscheinlich der einzige Ueberzeugte
in der Geschichte der Philosophie, der Einzige also, der im Grunde
Recht hatte. Diese Aeußerung ist merkwürdig, weil sie verräth, daß die
Zeit, Leibnizen zu verstehen, gekommen ist. Denn so, wie er bisher
Wenn aber jede Art der Trennung von Natur und Geist die
Zweckmäßigkeit in der Natur (und damit Entwicklung, Leben, Erkennt»
niß) unmöglich macht, so ist deren alleiniger Grund die Einheit
von Natur und Geist. Natur und Geist sind nicht verschiedene
Wesen, sondern eines: der Geist entwickelt und verwirklicht sich in der
Natur, diese realisirt die Gesetze des Geistes. „Die Natur', sagt
Schelling, „soll der sichtbare Geist, der Geist die unsichtbare Natur
sein. Hier also, in der absoluten Identität des Geistes in uns und
der Natur außer uns, muß sich das Problem, wie eine Natur außer
uns möglich sei. auslösen."
Ich will bei dieser Stelle von neuem daraus hinweisen, wie die
kritische Grundsrage: „Wie ist die Erkenntniß der Natur (die erkenn
bare Natur, die Natur als Object, die Natur außer uns) möglich?'
unserem Philosophen bei der Grundlegung seiner Naturphilosophie voll
kommen und als leitender Gesichtspunkt gegenwärtig war.
Unternehmen bei manchen zuwider sein könnte. Es ist ein alter Wahn,
daß Organisation und Leben aus Naturprincipien unerklärbar seien.
Soll damit soviel gesagt werden: der erste Ursprung der organischen
Natur sei physikalisch unersaßlich, so dient diese unerwiesene Be
hauptung zu nichts, als den Muth des Untersuchers niederzuschlagen.
Es ist wenigstens verstattet, einer dreisten Behauptung eine andere
ebenso dreiste entgegenzusetzen, und so kommt die Wissenschast nicht von
der Stelle. Es wäre wenigstens ein Schritt zu jener Erklärung gethan.
wenn man zeigen könnte, daß die Stusensolge aller organischen
Wesen durch allmähliche Entwicklung einer und derselben
Organisation sich gebildet habe. Daß unsere Ersahrung keine
Umgestaltung der Natur, keinen Uebergang einer Form oder Art in
die andere gelehrt hat, ist gegen jene Möglichkeit kein Beweis; denn,
könnte ein Vertheidiger derselben antworten, die Veränderungen, denen
die organische Natur so gut als die anorganische unterworsen ist.
können in immer längeren Perioden geschehen, sür welche unsere kleinen
Perioden (die durch den Umlaus der Erde um die Sonne bestimmt
sind) kein Maß abgeben, und die so groß sind, daß bis jetzt noch
keine Ersahrung den Ablaus derselben erlebt hat." „Die positiven
Principien des Organismus und Mechanismus sind dieselben." „Ein
und dasselbe Princip verbindet die anorganische und die organische
Natur." ^ Diese Worte, die Schelling selbst als die Summe und das
Gesammtresultat seiner Schrist von der Weltseele bezeichnet, sind bald
ein Iahrhundert alt und über ein Iahrzehnt älter als das Auftreten
Lamarcks. Darum Hätte Häckel, der geistvolle und bewegteste Reprä
sentant der Darwinistischen Lehre in Deutschland, nicht sagen sollen,
daß „man in der ganzen srüheren Zeit vor Lamarck die Frage nach der
Entstehung der Arten überhaupt niemals ernstlich auszuwersen gewagt. '^
Wir haben Ausgabe und Richtung der Naturphilosophie vor uns
und würdigen dieselbe, wie Schelling selbst seine Ausgabe ansah. Einer
der entschiedensten Gegner Schellings und seiner Lehre hat ebenso ge-
urtheilt. Schelling muß dieses Urtheil sür tressend gehalten haben,
denn er hat es in seinem Excerptenbuche bemerkt, ohne den Urheber
zu nennen. Sein Sohn hat sowohl in dem biographischen Fragment
als in der Ausgabe der Werke das Urtheil angesührt mit der Er
klärung, er wisse nicht, von wem es herrühre. Das Urtheil lautet:
l Schelling. Von der Weltseele. Vorrede zu Ausl. I. 1798. S.W, Abtb. I.
Bd. II. S. 348-350. — ' Häckel, Anthropogenie. (4. Ausl.) 189l.
Mechanismus und Vitalismus. 327
Achtes Capitel.
Mechanismus und Vitalismus.
Weltanschauung sührt. Die Thatsache, ans der sie ruht, ist die der
Naturwissenschast selbst. Es giebt zwei dieser Grundanschauung ent
gegengesetzte Vorstellungsweisen, mit denen die Naturphilosophie streitet,
denn der Begriff einer durchgängig lebendigen Materie kann aus zwei
Arten verneint werden: die Verneinung trifft entweder das Leben in
der Materie überhaupt oder die Allgegenwart des Lebens.
Im ersten Fall wird erklärt, daß die in der Materie wirksamen
Kräste blos mechanisch und daher auch die sogenannten organischen
Körper, naturwissenschastlich betrachtet, nichts anderes sind als Maschi
nen; im anderen Fall gilt das Leben in der Natur als die Eigen-
thümlichkeit blos der organischen Körper, als das Werk einer beson
deren, von den übrigen Naturkrästen unterschiedenen Wirkungsart, der
sogenannten „Lebenskrast". Iene beiden der Naturphilosophie entgegen
lehre
gesetzten
undVorstellungsweisen
der Vitalismus dersindPhysiologie.
demnach derDie
Mechanismus
mechanische der
3laturlehre
Natur-
Wir kennen
I. Derschon
Dogmatismus
die Differenz, welche
in den
derStandpunkt
Physik. der Natur
philosophie von dem der Physik unterscheidet, und es war eine der
ersten Ausgaben Schellings, die zu der Einsührung und Begründung
seines Standpunkts gehörte, daß er eine Kritik der Grundbegriffe der
dogmatischen Naturlehre unternahm, daß er nachwies, wie sehlerhaft und
widerspruchsvoll diese Grundbegriffe gerathen müssen, und wie das mecha
nische Natursystem nichts anderes sei als der Dogmatismus der Physik.
und Vitnlismus, 329
Zeitsolge von Erscheinungen; Zeitsolge ist, wie Kant gelehrt hat, nichts
an sich Gegebenes, sondern eine nothwendige, blos im Geist und näher
in der Beschränktheit unseres Geistes begründete Vorstellungswcise, die
Grundsorm und Bedingung aller sinnlichen Vorstellungen. Wenn daher
in der Zeitsolge der Erscheinungen etwas an sich sein soll, so kann
dieses Etwas nicht in der Zeit, sondern nur in den Erscheinungen sein;
sonst würde das Phänomen ihrer Zeitsolge, d. h. die Bewegung nicht
der Natur der Dinge, sondern blos unserer vorstellenden Natur ent
sprechen, also aus eine Täuschung hinauslausen. Die Bewegung ist nur
dann keine Täuschung, sondern ein wirkliches Erkenntnißobject, wenn
beides in uns stattsindet: die Zeitsolge und die Erscheinungen.
Wir haben diese drei Fälle: entweder Zeitsolge und Erscheinungen
ganz außer uns, oder jene in uns, diese außer uns, oder beide ganz
in uns. ^ Der erste Fall ist nicht möglich, denn die Zeit ist nichts
außer uns, der zweite Fall macht die Bewegung zur Täuschung, es
bleibt daher nur der dritte übrig.
Die Kantianer meinen die Schwierigkeit zu lösen, wenn sie die
selbe halbiren, die Zeitsolge aus unsere Rechnung, die Erscheinung aus
Rechnung der Dinge an sich setzen. Hier spukt das Ding an sich, das
Gespenst der Kantianer, ein Ding, das unabhängig von aller Vor
stellung existiren, von außen aus uns einwirken und doch weder im
Raum noch in der Zeit sein noch Causalität haben soll. das sür un
vorstellbar gilt und doch so viel Gerede von sich macht. So unmög
lich und widersinnig das Ding an sich ist, so ungereimt ist jene bei
den Kantianern beliebte Hälstung des Phänomens der Bewegung. Soll
die letztere als Erkenntniß- und Ersahrungsobject gelten, so muß sie
ganz und ohne Rest abgeleitet werden aus den Bedingungen der Vor
stellung
digen Vorstellungen,
oder der Intelligenz;
deffen Entstehung
sie gehörtzuin begreisen
das System
eben der
die nothwen-
Ausgabe
Vergleichen
II. Derwir
Vitalismus
die mechanischeinNaturlehre
der Physiologie.
mit der Erscheinung
des Lebens in der Natur, so ist schon gezeigt, wie die Erkennbarkeit
> Ebenoas. S. 31-32.
und Vitalismus.
Die Naturphilosophie
Neuntes
unter dem Capitel.
Einfluß der Naturwissenschaft.
sich als eine Art Elektrisirmaschine, worin die Nerven als Conductores,
die Muskeln als Apparate, ähnlich der Leydener Flasche, wirken. In
dieser neuen „thierischen Elektricität" glaubte man das große Lebens-
geheimniß entdeckt, das man „Nervenagens", „Nervenslüssigkeit" u. s. s.
genannt hatte, an die Stelle der letzteren trat jetzt das elektrische
Fluidum, Galvanis »vis electrica in rnetu rnuLeularie. Wie hätte
diese belebende Krast nicht auch eine heilende und neubelebende sein
sollen? Ein unermeßliches Feld that sich aus. wo die Physik die kühn
sten Träume der Magie zu ersüllen schien.
2. Die Verithrungselektricilät. Volta.
Dagegen erhob sich die Physik in der Person Voltas, des damals
größten und geschultesten Kenners der Elektricität ; der Streit begann
zwischen dem Anatomen von Bologna und dem Physiker von Pavia
und Como. und bevor das Iahrhundert sein Ende erreicht hatte, war
durch die Ersindung und Bekanntmachung der Voltaschen Säule (1800)
der Galvanismus in seiner ursprünglichen Fonn widerlegt. Es wurde
gezeigt, daß die Quelle der Elektricität nicht in der thierischen Substanz
als solcher, sondern in der Berührung ungleichartiger Körper enthalten
war, der Beweis wurde experimentell gesührt an dem Contact ungleich
artiger Metalle, der Paarung von Zink und Kupser; die vertical ge
ordnete Vervielsältigung dieser durch seuchte Scheiben getrennten Paare
oder Elemente gab die Construction der Voltaschen Säule, innerhalb
deren, wenn die Pole durch Drähte geschlossen sind, ein beständiger
elektrischer Strom kreist. In der Einsachheit ihrer Einrichtung, in der
Größe und Mannichsaltigkeit ihrer Wirkungen war diese Säule, wie
Arag° in der Gedächtnißrede aus Volta mit Recht sagt, eines der
wunderbarsten Instrumente, die je ersunden worden, nicht ausgenom
men das Fernrohr und die Dampsmaschine.' Ietzt lag die Elektricität
in der Hand des Physikers, gesesselt und beherbergt gleichsam in einem
Instrument, man hatte sie bis dahin erzeugen, auch vertheilen und
verstärken, aber nicht sesthalten und so darstellen können, daß sie in
einem sich selbst erneuenden Kreislause circulirt. Dieser Strom sührt
> Ebendas. S. 62 ff. - ' Fr. Aragos sämmtl. Werle. Bd. I. Al. Volta, Gl-
dachtnißrede, gehalten in der Alad, d. Wiss. d. 26. Iuli 1831.
^, Physik und Chemie. 33S
den Namen Galvanis, es war die Frucht, die zwar nicht unter Gal-
vanis Hand, nicht aus seinen Einsichten gereist, aber aus dem Antriebe
hervorgegangen war, den er dem Ausschwunge der Elektricitätslehre ge
geben. Mit der Sache selbst verhielt es sich zunächst umgekehrt, als
Galvani meinte: nach ihm sollte im thierischen Körper die Erregung
der Elektricität. in den Metallen die Leitung stattsinden; nach Volta
waren die Metalle (vermöge ihrer Berührung) die Erreger, und der
thierische Körper unter den Leitern. An die Stelle der „thierischen
Elektricität", wie sie Galvani genommen, trat die „Berührungs- oder
Metallelektricität", wie Volta sie nannte.
tricitätslehre
Dies warnahm:
die eine
die Richtung,
elektrochemische,
die der
unter
Fortgang
deren ersinderischen
der neuen Elek-
An
Wir haben
II. Die
in derneue
neuenVerbrennungslehre.
Elektricitätslehre den Factor kennen
Ursprunge trifft. Der zweite kam von der Chemie, die in demselben
Jahr, wo die sranzösische Revolution begann, die Epoche ihrer Umge
staltung erlebte. Noch bevor Galvani seine Entdeckung veröffentlicht
hatte, wodurch er die thierische Lebensthätigkeit erklärt zu haben meinte,
waren von seiten der Chemie die Bedingungen wirklich entdeckt worden,
unter denen die lebendigen Körper athmen. Daß die atmosphärische
Lust zum Athmen gehört, wußte man wohl, aber es war sestzustellen,
welchen Antheil sie an der Respiration nimmt. Da nicht alle Lust
zum Athmen tauglich ist, ging die Frage aus die Beschaffenheit der
respirabeln Lust, und da man ersahren hätte, daß die Verbrennung
der Körper und das thierische Athmen die Lust verdirbt, die Pflanzen
dagegen sie verbessern, so zeigte sich hier zwischen dem Verbrennungs-
proceß und der thierischen Respiration eine Analogie, die einen ent
deckenden Kops aus die erste Spur brachte, das Problem zu lösen.
Der Cardinalpunkt der Frage lag in der Verbrennungslehre.
Mit der richtigen Erklärung dieses Vorganges, der Verbrennung der
Körper mit und ohne Flamme, war die umgestaltende That geschehen,
welche die neue Chemie von der alten scheidet.
1, Phlogistische und antiphlogistische Lehre.
Es lag der sinnlichen Vorstellungsart zu nahe, um nicht den
Ausgangspunkt und die nächste Richtschnur einer Erklärungstheorie zu
bilden: daß in der Verbrennung eine Zerstörung und Auslösung des
Körpers stattsinde, die demselben seinen brennbaren Stoff raubt: diesen
verbrennlichen Bestandtheil des Körpers nannte man „Phlogiston" und
meinte daher, daß die Körper in der Verbrennung, die Metalle in
der Verkalkung von diesem Stoffe besreit oder „dephlogistisirt" werden.
So lehrte die sogenannte phlogistische Theorie, deren Herrschast sich an
den Namen des deutschen Arztes und Chemikers Ernst Stahl knüpste,
der in einer Schrist vom Iahr 173 l diese von ihm schon vorher aus
gebildete Theorie am vollständigsten dargelegt hat. ^ In dem Kamps der
phlogistischen und antiphlogistischen Lehre vollzog sich die Katastrophe
zwischen der alten und neuen Chemie.
Gegen die herrschende phlogistische Theorie stand eine Thatsache.
Hatte sie Recht, so mußte der verbrannte Körper, das verkalkte Metall
um einen Stoff (das Phlogiston) ärmer, also leichter sein als zuvor.
Die Ersahrung zeigte das Gegentheil, nämlich die Gewichtzunahme.
' tzerm. Kopp. Beitr. zur Gesch. der Chemie. III. St. S. 211. Anmerkung,
». Fisch«. ««Ich. d. Philos. VII 22
338 Die Naturphilosophie unter dem Einfluß der Naturwissenschast.
setzung der Lust und des Wassers gewonnen werden. Ein Iahr nach
der Entdeckung des Sauerstoffs erkannte Lavoisier die Zusammensetzung
der atmosphärischen Lust aus Sauerstoff und Stickstoff (1775). Auch
die Einsicht, daß und wie das Wasser zusammengesetzt sei, eine Ent
deckung, um deren Priorität zwei Engländer mit ihm streiten, konnte
in ihrer vollen Bestimmtheit nur dem Begründer der antiphlogistischen
Chemie zu Theil werden. Es war nicht genug, in dem Waffer ein
Verbrennungsproduct aus einer brennbaren Lustart zu erkennen, denn
es war damit noch nicht ansgemacht, ob das Wasser ein zusammen
gesetzter Körper ist, es konnte auch ein ausgeschiedener sein. Die
Erkenntniß, daß es zusammengesetzt sei, sührte einen Schritt weiter,
aber noch nicht an das Ziel, so lange die Ansicht von der Beschaffen
heit der zusammensetzenden Factoren unsicher schwankte. Erst mit der
Einsicht, daß die brennbare Lust, welche den einen Bestandtheil des
Waffers bildet, der Wasserstoff sei. und das Wasser selbst eine Verbin
dung von Sauerstoff und Wasserstoff, war die Sache entschieden. Das
Waffer ist ein Verbrennungsproduct, es ist kein ausgeschiedener, sondern
ein zusammengesetzter und zwar dieser (aus Sauerstoff und Wasser
stoff) zusammengesetzte Körper. Wenn es sich um eine logische Begriffs
bestimmung gehandelt hätte, konnte der Fortschritt nicht regelmäßiger
und solgerichtiger verlausen. Der erste Schritt geschah durch Caven-
dishs Versuche (1781), der zweite durch I. Watt, den Ersinder der
neuern Dampsmaschine (1783), der dritte und vollgültige noch in dem
selben Iahr durch Lavoisier. ^
Ietzt waren die uralten Elemente erkannt und man wußte, was
es sür eine Bewandtniß hat mit Feuer, Lust und Wasser; man hatte
im galvanischen Strom die Macht chemisch zu lösen und zu binden,
das zersetzende Mittel, die Erden zu scheiden. Im Iahr 1789 gab
Lavoisier sein neues System der Chemie, welches Fourcroy „die sran
zösische Chemie" nannte. Unter den ersten deutschen Anhängern der
neuen Lehre war Girtanner, der seine „Ansangsgründe der antiphlo
gistischen Chemie" 1792 erscheinen ließ, und dem wir im nächsten
Abschnitt wieder begegnen werden.
Die neue Elektricitätslehre und die neue Chemie gehen mit einander,
sie treffen sich in H. Davy, der nach Berzelius' Vorgang das Wasser
^Ebenda?. III. St. S. 307 ss.
22»
340 Die Naturphilosophie unter dem Einfluß der Naturwissenschast.
Zehntes Capitel.
L. Die organische Naturlehre.
blos nahe gelegt, sondern durch ihn gesordert. So entsteht ein Schema,
das in der Naturphilosophie sörmlich gewuchert hat. denn es hat hier
nicht blos zum Rahmen gedient, sondern auch zur Füllung.
Zugleich war unter jenem Gesichtspunkt die tiese und umsassende
Idee der Entwicklung an eine Richtschnur gelegt, die der sortschreiten
den Erkenntniß nicht entsprach. Denn es galt der Kanon einer in
derselben Richtung stetig emporsteigenden Entwicklung, man sah die
letztere unter dem Bilde der Stusenleiter oder Skala, wonach der
höhere Typus der organischen Entwicklung zusammensällt mit dem
höheren Grade der Ausbildung. Diese Vorstellungsart ist salsch und
durch gründlichere, sreilich auch spätere Einsichten widerlegt worden.
Nachdem G. Cuvier die Thierwelt in seine vier Hauptgruppen unter
schieden (1816) und K. E. Baer die verschiedene Entwicklungsart inner
halb jedes dieser Typen dargethan hatte, glich die organische Entwick
lung nicht mehr einer Leiter, die in derselben Richtung auswärts steigt,
sondern einem Baume, der sich verzweigt. Seitdem kann die organische
Entwicklungslehre nicht mehr dynamisch, sondern will genealogisch
aussallen. Man srägt nach dem Stammbaum, und die Entwicklungslehre
nimmt die Richtung der von Lamarck (1809) vorgebildeten Descendenz-
lehre. Man geht nicht mehr aus von der Frage nach dem Verhältnis
der organischen Kräste, diese sind die Functionen bestimmter Organe,
daher wird nicht gesragt: wie verhalten sich Sensibilität und Irrita
bilität, sondern wie entstehen Empsindung^- und Bewegungsorgane?
Welches ist die Ursorm, die sich in diese Organe disserenzirt? Wie ent
steht der zusammengesetzte Organismus aus der Zelle? Seit Kielmeyers
Rede und den Ansängen der Naturphilosophie mußten eine Reihe von
Entdeckungen gemacht werden, und Iahrzehnte vergingen, um diese
Fragen zu stellen und zu lösen.
Daß die Naturphilosophie durch ihre zeitweilige Herrschast diesen
Fortschritt gehemmt und ausgehalten habe, ist ein blindes Vorurtheil.
deffen Tadel am stärksten die tressen müßte, welche es im Munde sühren.
Die Entwicklungslehre mußte dasein und als eine neue Weltanschauung
dem Zeitalter imponirt haben, um sortgesührt und berichtigt zu werden,
Diese von der Idee der Entwicklung im Großen, von der Vorstellung
der Natur als der Entwicklungsgeschichte des Geistes ganz er
süllte Weltanschauung war die Naturphilosophie.
Als Schelling in seiner Schrist von der Weltseele aus jene Nedc
Kielmeyers hinwies, sügte er hinzu: „eine Rede, von welcher an das
Philosophie und Naturwissenschast als Factoren der Naturphilosophie. 347
künstige Zeitalter ohne Zweisel die Epoche einer ganz neuen Natur
geschichte rechnen wird".
Elstes Capitel.
Philosophie und Naturwissenschaft als Fartoren der Naturphilosophie.
Es ist wichtig, die Ansänge und den zeitlichen Verlaus der Natur
philosophie wohl zu bemerken. Ihre grundlegenden Schristen sallen
sämmtlich zwischen die Zeitpunkte, in denen Galvanis und Voltas
Entdeckungen öffentlich austreten (1791 und 1800). Als Schelling
seine ersten naturphilosophischen Schristen schrieb (1797-99), kannte er
noch nicht die Voltasche Ersindung; er hatte seine naturphilosophische
Periode vor den Augen der Welt vollendet, als Davy seine Epoche
begann (1806). Vergleichen wir der Zeit nach Schellings Naturphilo
sophie mit den Entdeckungen der Physik aus dem Gebiet der Elektri-
citätslehre, so geht Galvani voraus, Volta ist gleichzeitig, doch sällt
seine Epoche unmittelbar nach Schellings ersten Schristen; Davy.
Philosophie und Naturwissenschast
activ ist und was in ihr erscheint durch ihre eigene Krast und Thätig-
keit bewirkt, nennt Schelling „den dynamischen Proceß", der in seinem
Wesen einer und derselbe ist und nur seine Erscheinungssormen ändert.
Die Art und Weise, wie in allen Formen dieser Proceß stattsindet,
besteht in Gegensätzen, in der polaren Entgegensetzung; darum nennt
Schelling die Wirkungsart der Natur „Polarität". Polare Gegen
sätze entstehen aus der Entzweiung des Einen und suchen ihre Ver
einigung. Daher das Grundgesetz der Polarität: Identisches setzt sich
entgegen (entzweit sich), Entgegengesetztes strebt nach Vereinigung (setzt
sich identisch). In dem Gebiet der magnetischen und elektrischen Natur
erscheinungen, die man im engeren Sinne mit dem Worte Polarität
bezeichnet, heißt die Formel: „Gleichnamige Pole stoßen sich ab, un
gleichnamige ziehen sich an". Schelling hat das Wort Polarität, das
in der Naturphilosophie eine typische Formel bildet und bei anderen
von jeher großes Besremden erregt hat, von der Physik entlehnt, aber
im weitesten Sinne genommen; Polarität bedeutet bei ihm nicht blos
ein Naturgesetz, sondern ein Weltgesetz und ist in seinem Sinn der
physikalische Ausdruck eines Universalprincips. Es ist zum Verständ-
niß der Naturphilosophie wichtig, den Begriss der Polarität auch von
der philosophischen Seite aus zu erleuchten. Wir haben den Punkt
vor uns, in dem Metaphysik und Physik. Wissenschastslehre und Natur
lehre bei der Begründung der Naturphilosophie zusammenstoßen. Unsere
Leser mögen sich vergegenwärtigen, wie die ganze Ausgabe und Methode
der Fichteschen Wissenschastslehre in der Entwicklung des Selbstbewußt
seins und diese Entwicklung darin bestand, daß aus der Selbstsetzung
des Ich die Entgegensetzung (Nicht-Ich im Ich) hervorging, daß die
Entgegengesetzten ihre Synthese sorderten, aus der sich neue Gegensätze
erzeugten, die wieder vereinigt sein wollten, und so sort, bis nichts
mehr entgegenzusetzen und zu vereinigen war. Entgegensetzung in dem
selben Subject ist innerer Widerstreit ; polare Entgegensetzung ist damit
gleichbedeutend. Wo solche Widersprüche hervortreten und sich auslösen,
um in höheren Formen wieder zn erscheinen und neue Lösungen zu
suchen, da ist Entwicklung. Die im Selbstbewußtsein enthaltenen
Widersprüche entdecken und auslösen, hieß das Selbstbewußtsein ent
wickeln oder dessen nothwendige Entwicklung reproduciren. Diese Aus
gabe bildete das durchgängige Thema der Wissenschastslehre. Nun
sorderte das Selbstbewußtsein als nothwendige Bedingung eine Reihe
bewußtloser Handlungen, den Entwicklungsgang der bewußtlosen In
352 Philosophie und Nalurwissenschast als Facloren der Naturphilosophie.
telligenz, die eines ist mit der Natur. Diesen Entwicklungsgang re-
produciren, den inneren Widerstreit, der ihn ersüllt und bewegt, in
allen seinen Formen und Stusen durchschauen, ist die Ausgabe, die
durchgängig das Thema der Naturphilosophie ausmacht. Ihr Princip
und ihre Methode kann keine andere sein als die der Wissenschasts-
lehre: dasselbe Princip und dieselbe Methode der Entwicklung. Wo
nun in den Naturerscheinungen jener innere Widerstreit, die polare
Entgegensetzung, sich am deutlichsten manisestirt, wo sich Identisches
entgegensetzt, Entgegengesetztes nach Identität strebt, da erscheint gleichsam
enthüllt und ossengelegt das Entwicklungs- oder Productions-
princip der Natur. Dies ist der Fall in den Polaritätserscheinungen.
Daher mußten diese vor allen anderen den Blick der Naturphilosophie
aus sich ziehen, und die Polarität im weitesten Sinn galt ihr als das
eigentliche Entwicklungs- und Productionsprincip der Natur, als deren
innerste Wirkungsart, als „die Weltseele" selbst. Die Naturphilo
sophie in ihrer ersten ursprünglichen Anlage ist und will sein die
Wiffenschastslehre als Physik.
Die Sache selbst, um die es sich handelt, das Entwicklungsgesetz
der Welt, läßt sich auch in einer anderen Form ausdrücken, die weniger
besremdlich und mißverständlich ist. die genau daffelbe sagt und unserer
heutigen Betrachtungsart sogleich einleuchtet. Was Schelling „ursprüng
liche Entzweiung", „Dualität", „polare Entgegensetzung" nannte, kann
man ebenso gut „Disserenzirung" nennen. Alle Entwicklung ist
sortschreitende Differenzirung, ob es der kosmische Urstoss ist. der sich
in die Weltkörper disserenzirt. oder die Zelle, die in Zellen zersällt, die
sich in Gebilde verschiedener organischer Functionen disserenziren. Auch
die Naturphilosophie hat diese Anschauung von der Entwicklungsa!!
der Natur als einer sortschreitenden Differenzirung gehabt, sie hat
diesen Ausdruck gebraucht und darum die Ureinheit, aus der die Diffe
renz hervorgeht, mit dem Worte „Indisserenz" bezeichnet. „Es ist',
sagt Schelling in der Schrist von der Weltseele, „erstes Princip einer
philosophischen Naturlehre, in der ganzen Natur aus Polarität
und Dualismus auszugehen."
Ich gebe diese Ausdrücke hier, um sie aus der Grundrichtung der
Naturphilosophie, die aus die Entwicklungslehre angelegt ist. verständ
lich zu machen, und will gleich hinzusügen, daß in demselben Maße,
als die ganze Anschauungsweise der Naturphilosophie in den ersten
Umrissen blieb, auch ihre ganze Ausdrucksweise an einer Unbestimmtheit
Naturphilosophische Schristen. 353
leiden mußte, die den Anhängern das Spielen mit dunkeln Ausdrücken
leicht machte und den Gegnern eine ebenso leicht zu treffende Zielscheibe
der Angriffe bot. Es ist schülerhast, die Mängel eines Systems sür
Tugenden zu nehmen, und die Zeit, wo es der Naturphilosophie so
gut ging (oder soll ich sagen so übett), ist längst vorüber. Wir haben
die Ausgabe, aus dem Grundriß zu erkennen, wie das Gebäude der
Entwicklungslehre in der Naturphilosophie angelegt und stilisirt war.
Zwölstes Capitel.
Naturphilosophische Schriften.
I. Einleitende Schristen.
H, Propädeutische.
1. Einleitung zu den Ideen, Ueber die Probleme, welche eine Philo
sophie der Natur auszulösen hat (1797).
2. Vorrede zu der Schrist „Von der Weltseele" (1798).
3. Einleitung zum Entwurs (1799).
4. Heber den wahren Begriff der Naturphilosophie und die richtige
Art ihre Probleme auszulösen. (Zeitschrist sür spec. Physik. Vd. II.
Heft 1. 1801.)
L. Allgemeine Naturphilosophie.
1, Zusatz zur Einleitung in die Ideen. Darstellung der allgemeinen
Idee der Philosophie überhaupt und der Naturphilosophie insbeson
dere als nothwendigen und integranten Theil der ersten (1803).
2. Abhandlung über das Verhältniß des Realen und Idealen in der
Natur u. s. w. (Zur 2. Ausl. der Schrist „Von der Weltseele". 1806.)
3. Aphorismen zur Einleitung der Naturphilosophie. (Iahrbücher der
Medicin als Wissenschast. Vd. I. Hest 1. 1805.)
4, Aphorismen über Naturphilosophie. (Ebendas. Bd. I. Hest 2. 1806.
Bd. II. Hest 2. 1807.)
Dreizehntes Capitel.
Dynamik. ^. Probleme.
Licht und Wärme, über die Lust und die verschiedenen Lustarten genau
zusammen. Und da die Verbrennung selbst eine Grundsorm des
chemischen Processes ausmacht, so wird es die weitere in den Ideen
vorbereitete Ausgabe der zu systematisirenden Lehre sein : Magnetismus,
Elektricität und chemischen Proceß als die Hauptsormen und Stusen
des dynamischen zu begreisen.
Das Resultat der Betrachtungen des ersten Buches enthält das
Thema sür die des zweiten. Es handelt sich hier um die Kräste der
Anziehung und Abstoßung als Principien eines allgemeinen Natur-
systemS, den Scheingebrauch dieser Principien, den Begriss der Materie,
die ersten Grundsätze der Dynamik, die Philosophie der Chemie, deren
Anwendung und erste Grundsätze.
gelten wollen, zeigen ost genug die Neigung zur voreiligen Combination.
III. Naturphilosophische Fragen.
1. Verbrennung. Licht und Wärme.
Der Hauptproceß der Natur, durch welchen Körper zerstört und
ausgelöst werden, ist die Verbrennung, deren chemischer Vorgang in der
Verbindung des Körpers mit Sauerstoff besteht. Schelling unterscheidet
zwei Arten der Verbrennung: die Fixirung der Lebensluft im Körper
und
dation,diediese
Verwandlung
Verflüchtigung
des ; Körpers
als Beispiel
in eine
der ersten
Lustart,
geltenjenediesei
Metalle
Ory-
hängt; der Kreislaus der Atmosphäre und der des Lebens bedingen
sich gegenseitig. Was aus der Lust in die belebte Natur einströmt,
strömt aus dieser in jene wieder zurück. „Nichts, was ist oder wird,
kann sein oder werden, ohne daß ein anderes zugleich sei oder werde."
„Und", sügt Schellina. hinzu mit einem Wort, das an Anaxinwndros
erinnert, „selbst der Untergang des einen Naturproducts ist nichts als
die Bezahlung einer Schuld, die es gegen die ganze übrige Natur aus
sich genommen hat; daher ist nichts Ursprüngliches. nichts Absolutes,
nichts Selbstbestehendes innerhalb der Natur." „Um diesen beständigen
Wechsel zu unterhalten, mußte die Natur alles aus Gegensätze be
rechnen, mußte Extreme ausstellen, innerhalb welcher allein die un
endliche Mmmichsaltigkeit der Erscheinungen möglich war. Eines dieser
Extreme ist das bewegliche Element, die Lust, durch welche allein allem,
was lebt und vegetirt, Kräste und Stoss, durch welche es sortdauert,
zugesührt werden, und das doch selbst großentheils durch die beständige
Ausbeute der animalischen und vegetabilischen Schöpsung in dem Zu
stande erhalten wird, in welchem es sähig ist, Leben und Vegetation
zu besördern." ^
Die Lust selbst besteht aus entgegengesetzten, heterogenen Luft-
arten: der Lebenslust (Sauerstoff) und der azotischen (Salpeterstossgas
- Stickstoss). Die Art der Zusammensetzung betrachtet Schelling als
chemische Verbindung, als ein Product, deffen Mischung und Zersetzung
durch das Licht bewirkt werde; er bestreitet Girtanners richtige Ansicht,
daß die Lust kein aus Stickst°ft und Sauerstoff entstandener neuer
Körper sei, sondern ein Gemenge aus beiden. ^
Während Schelling die antiphlogistische Lehre kennt und besaht,
mit so großem Nachdrucke, daß er sie sür berusen hält, ein neues
Natursystem zu begründen, sind seine „Ideen" selbst noch halbphlo'
Misch, aus Vorliebe nicht sür den überwundenen Standpunkt, sondern
sür die Einheit, die Vereinsachung des Gegensatzes, die Darstellung
desselben in zwei Principien. Dem Sauerstoff gegenüber, mit dem
alle Körper verbrennen, soll es einen brennbaren Grundstoff lein phlo-
gistisches Princip) geben in verschiedenen Arten oder Modisicationen,
die durch sein quantitatives Verhalten zum Sauerstoff bedingt sind.
Davon soll es abhängen, ob das Verbrennungsproduct Lust od«
Wasser ist, ob die brennbare Lustart als Azot oder Hydrogen erscheint.
„Was den Grundstoff der brennbaren Lust allein zum Hydrogen machen
kann, ist die chemische Wirkung, die er aus den Sauerstoff äußert."
„Das Wasser hat den Charakter einer Säure, deren Basis der Grund
stoff der azotischen Lust, Salpeterstoff, ist." ^ Da die neue Lehre vom
Sauerstoff und der Verbrennung die alte vom Phlogiston ganz aus
hebt und völlig ersetzt, so ist eine solche halbphlogistische Vorstellungs
art unklar und ungereimt. Ietzt erscheint die größere oder geringere
Brennbarkeit des Körpers bedingt durch seine größere oder geringere
Verwandtschast zum Sauerstoff und diese abhängig von dem Grade
der phlogistischen Natur des Körpers.
3. Elektricität und Magnetismus.
Unter dieser Voraussetzung geht Schelling an die Betrachtung der
Elektricität als Reibungsphänomen. Er vermißt an der bisherigen
Lehre die Erkenntniß der Erregungsursache. Wird die Elektricität
hervorgerusen blos durch den Mechanismus des Reibens oder durch
die vermöge der Reibung erregte Wärme? Woher die Erscheinung
entgegengesetzter Elektricitäten, woher deren Anziehung? Wenn nach
einer vorhandenen Hypothese das Gleichgewicht der sogenannten elek
trischen Materie gestört und dadurch die eine Elektricität entzweit wird,
so kann die Ursache der verschiedenen, einander entgegengesetzten Elek
tricitäten wohl nur in der Verschiedenheit der geriebenen Körper ge
sucht werden. Die Reibung zwischen Glas und Harz lsßt in dem
ersten positive Elektricität entstehen, in dem anderen negative. Ebenso
verhalten sich Glas und Metall, Glas und Schwesel, Harz und Metall,
Holz und Schwesel, Haar und Siegellack u. s. s. Nun gehe thatsäch-
lich in diesen Reibungspaaren mit der positiven Elektricität die ge
ringere, mit der negativen die größere Brennbarkeit zusammen, woraus
die Vermuthung solge, daß Elektricität und Brennbarkeit in umge
kehrtem Verhältniß stehen, daß die positive und negative Elektriciät
von der geringeren und größeren Brennbarkeit, d. h. von der gerin
geren und größeren Verwandtschast zum Sauerstoff abhängen, daß von
zwei Körpern immer derjenige negativ elektrisch werde, der die größte
Verwandtschast zum Sauerstoff habe. Wenn es aber der Sauerstoff
sein soll, der die elektrischen Phänomene hervorruse, so können die
letzteren aus der Reibung der Körper nicht mehr unmittelbar, sondern
nur mittelbar abgeleitet werden, sosern durch die Reibung eine mecha-
' Id. I. 5. S. W. I. 2. S. 156- I6l. S. oben Buch II. Cap. XIII. S. 359 ff.
366 Dynamik.
Vierzehntes Capitel.
Dynamik. L. Principien.
Fünszehntes Capitel.
OrganiK. ^. Die erste Nraft der Natur.
kennen wir auss Neue in ihm jenes Wesen, das die älteste Philosophie
als die gemeinschastliche Seele der Natur ahnend begrüßte.'"
Das Verhältniß jener beiden Grundkräste, in deren Antagonismus
das allgemeine Leben der Natur besteht und sortdauert, muß demnach
so gesaßt werden, daß sie identisch und entgegengesetzt sind, daß ihr
Gegensatz einen gemeinsamen Ursprung hat und in einem und dem
selben Subjecte erscheint. Die Natur als Einheit der Kräste nennt
Schelling „Weltseele den Dualismus und Conflict der Kräste nennt
er „Dualismus", die Vereinigung der entgegengesetzten „Polarität".
Diese Ausdrücke bezeichnen dieselbe Sache und dasselbe Thema in ver
schiedener Rücksicht. „Es ist erstes Princip einer philosophischen Natur
lehre, in der ganzen Natur aus Polarität und Dualismus auszugehen."
„Daß in der ganzen Natur entzweite, reell entgegengesetzte Principien
wirksam sind, ist a priori gewiß, diese entgegengesetzten Principien, in
einem Körper vereinigt, ertheilen ihm die Polarität; durch die Er
scheinungen der Polarität lernen wir also nur gleichsam die engen und
bestimmten Sphären kennen, innerhalb welcher der allgemeine Dualis
mus wirkt. "2
Hier ist der Keim zur Identitätslehre, abgesehen von jeder trans-
scendentalen Bestimmung. Die Natureinheit wird gesordert und soll
als Naturkrast, d. h. physikalisch bestimmt werden; dann ist sie eins
mit der ersten positiven Krast. Im Ansange seiner Schrist sagt Schel
ling von dieser ersten Krast: „Um diesen Proteus der Natur, der
unter immer veränderter Gestalt in zahllosen Erscheinungen immer
wiederkehrt, zu sesseln, müssen wir die Netze weiter ausstellen. Unser
Gang sei langsam, aber desto sicherer." Und am Ende dieses Ganges
ist der Proteus nicht gesesselt, sondern es heißt: „Da dieses Princip
als Ursache des Lebens jedem Auge sich entzieht und so in sein eigen
Werk sich verhüllt, so kann es nur in den einzelnen Erscheinungen, in
welchen es hervortritt, erkannt werden, und so steht die Betrachtung
der anorganischen so gut wie der organischen Natur vor jenem Un
bekannten still, in welchem die älteste Philosophie schon die erste Krast
der Natur vermuthet hat". Daher giebt Schelling in der Schrist „Von
der Weltseele" die eigene Ansicht, wonach jener Proteus der Natur im
Aether besteht, als eine „Hypothese". Die gemeinschastliche Seele der
Natur sei jenes Wesen, das einige Physiker der ältesten Zeit „mit
' Von der Weltseele. S. W. I. 2. S. 381, S69. - ' Evendas. V. VI. I. S. W.
1. 2. S. 4S9, 476.
374 Orgaml.
dem sormenden und bildenden Aether (dem Antheil der edelsten Naturen)
sür eines hielten".^
II. Der Aether.
1, Aether und Licht.
Die erste Krast der Natur ist die Repulsion, die ursprüngliche
Expansivkrast. deren Wirksamkeit ins Endlose geht und darum kein
Object möglicher Wahrnehmung, keine Erscheinung bildet; sie kann nur
erscheinen, wenn sie durch die entgegengesetzte Krast der Attraction be»
schränkt wird. Das gemeinsame Product beider ist das Urphänomen:
das Licht, das also eine Duplicität, einen ursprünglichen Gegensatz in
sich schließt und darum die erste und positive Ursache der allgemeinen
Polarität ist. Expansion und Attraction constituiren die allgemeine
Naturkrast, die den Raum ersüllt, die Bewegung verursacht und unter
hält, die Materie erzeugt und als Licht erscheint.' Das Licht ist
Phänomen der Materie, es ist stofflich und phänomenal, das Product
zweier Principien, eines positiven und negativen, einer imponderabeln
und ponderabeln Materie, einer repulsiven, die sich durch den Weltraum
ergießt, und einer attractiven. Iene ist der Aether, das elastische, all
gemein verbreitete Fluidum. Worin besteht das negative Princip?
Die Thatsache lehrt, daß sich aus der Verbrennung Licht ent
wickelt, daß die Verbrennung selbst in der Verbindung eines Körpers
mit dem Sauerstoff der Lebenslust besteht, in welcher letzteren (Sauer-
stoffgas) Sauerstoff und Wärme verbunden sind. ' Schon zum Voran!
lasse sich vermuthen, daß wohl alles Licht, das wir zu erregen im
Stande seien, aus der Lebensluft seinen Ursprung nehme und aus einer
Zersetzung derselben, wobei Wärme srei werde, hervorgehe. Nehmen
wir nun an, daß der Weltäther überall gegenwärtig und der Sauer
stoff in der Natur allgemein verbreitet sei, so solge eine stete Coexistenz
beider, und jene negative, ponderable Materie, die das srei circulirende,
um die Weltkörper ausgegoffene, höchst elastische Fluidum beschränkt,
wäre im Sauerstoss gesunden. Daß das Licht der Sonne bloßes
Phänomen einer steten Decomposition ihrer Atmosphäre sei. habe
Herschel zu einem hohen Grade der Wahrscheinlichkeit gebracht und sich
dabei aus die Analogie der Lichtentwicklungen in unserer Erdatmosphäre
berusen. Ließe sich nun beweisen, was sich wenigstens nicht widerlegen
> Ebendas. S. 382. 568, 569. - ' Ebendas. S. W. I. 2. S. 395-97. -
e Girtanners Ansangsgründe der antiphlogistischen Chemie. (Berlin I792,»
Cap. V. S. 64.
^. Die erste Krast der Natur,
lasse, daß zwischen Sonne und Erde eine Materie ausgegossen sei, die
durch die Wirkung der Sonne decomponirt wird, daß sich diese De-
compositionen bis in unsere Erdatmosphäre sortpflanzen, so würde das
Licht eine Erscheinung sein, die aus einer eigenthümlichen Materie be
ruht und aus der Erschütterung eines zersetzbaren Mediums hervorgeht.
So liehen sich die Theorien Newtons und Eulers, die darüber streiten,
ob das Licht ein Stoss oder blos Phänomen eines bewegten, erschüt
terten Mediums sei, mit einander vereinigen. ^
2. Das Licht und die Körper.
Aus diese Annahme von der Duplicität des Lichts, worin Aether
und Sauerstoff sich als positives und negatives Princip verhalten,
gründet Schelling seine weiteren Folgerungen über die Wirkungsart
des Lichts aus die Körper, über das wechselseitige Verhältniß beider.
Hier wird alles davon abhängen, in welchem Grade die Körper den
Sauerstoff anziehen oder abstoßen, eine Frage, die mit der nach der
Oxydirbarkeit oder Verbrennbarkeit der Körper zusammensällt. Es
handelt sich in diesen Folgerungen um ein Verhältniß entgegengesetzter
Factoren, woraus Schelling seine Sätze ableitet. Das ist der Grund,
warum er seine Ableitung (so viel ich sehe, hier zum ersten mal)
„Construction" nennt.
Der Aether durchdringt alle Körper und stistet zwischen ihnen
jene „dynamische Gemeinschast", welche die Wechselwirkung derselben
bedingt und ermöglicht. Aber er durchdringt sie nicht aus gleiche,
sondern verschiedene Art, je nachdem die Körper vermöge ihrer Natur
den positiven Factor des Lichts (Aether) anziehen und den negativen
(Sauerstoff) abstoßen oder umgekehrt, d. h. je nachdem sie vermöge
ihrer Natur die des Lichts verändern oder nicht. Wenn sie dieselbe
nicht verändern, durchdringt sie der Aether als Licht, im andern Fall
als Wärme. Es ist selbstverständlich, daß. da der Aether alle Körper
durchdringt, hier von Anziehung und Zurückstoßung nicht in absolutem,
sondern nur in relativem oder graduellem Sinn die Rede sein kann.
Die vom Licht durchdrungenen Körper sind durchsichtig; da aber der
Körper kein blos passives, sondern ein wirksames Medium ist, welches
das Licht bei seinem Durchgange modisicirt, so entsteht vermöge der
Brechung und Trübung des Lichts das Farbenphänomen und dessen
prismatische Abstusung, eine Erscheinung, die aus die Grade der
Brechung und weiter aus die graduellen Differenzen der im Licht ent
haltenen Elemente zurückzusühren sei. Naß Schelling die Farbe als „eine
Vermählung des Lichts mit dem Körper' bezeichnet, ist schon ein
Ausdruck seiner Hinneigung zur Goetheschen Farbenlehre. >
Wie der Aether die durchsichtigen Körper als Licht durchdringt,
so durchdringt er die undurchsichtigen als Wärme; diese letzteren müssen
sich daher zum Licht so verhalten, daß sie das positive Princip desselben
(Aether) besitzen und darum zurückstoßen, das negative dagegen (Sauer
stoff) anziehen-, sie verhalten sich zum Sauerstoff ähnlich wie der Aether.
Ihre Anziehung gegen den Sauerstoff ist, was diesen Körpern den
gemeinsamen Charakter der Verbrennlichkeit giebt; ihre Aehnlichkeit
mit dem Aether ist, was in allen vervrennlichen Körpern den gemein
samen „phlogistischen" Charakter ausmacht. Das „phlogistische Prin
cip" soll nicht eine Materie, sondern blos ein Verhältnis bezeichnen.
„Es drückt nichts aus als einen Wechselbegriff." Zur Constitution
des phlogistischen Körpers gehört demnach eine ihm eigene ursprüng
liche Wärme, die dem Grade seiner phlogistischen Natur entspricht und
von Schelling „absolute Wärme" genannt wird, im Unterschiede von
der mitgetheilten Wärme, die der Körper von dem srei verbreiteten
Wärmesluidum empsängt, das alle Körper durchströmt und sich selbst
vermöge seiner höchst elastischen Natur in stetem Gleichgewicht erhält.
Das Gleichgewicht der Wärme in verschiedenen Körpern ist die „Tem
peratur". Nun ist in verschiedenen Körpern die absolute Wärme ver
schieden; je mehr der Körper Wärme hat, um so weniger braucht er.
um so energischer ist seine Zurückstoßungskrast gegen die Wärme von
außen, um so geringer die Wärmemenge, die er ausnimmt, um eine
bestimmte Temperatur zu erreichen, um so geringer seine Empsänglich
keit zu dieser Ausnahme oder die „Wärmecapacität". Daher ist bei
gleicher Temperatur oder bei gleichem Grade der thermometrischen
Wärme die mitgeteilte Wärme in verschiedenen Körpern (von gleichem
Gewicht oder Umsange) verschieden. Diese Verschiedenheit bezeichnet
die „specisische Wärme" der Körper, zu der die Wärmecapacität in
geradem Verhältniß, die absolute Wärme dagegen in umgekehrtem steht.'
Der Grundgedanke, aus dem Schelling seine „Construction der
Wärmelehre" versucht, beruht aus der Annahme von dem durchgängigen
Verhältniß der Körper zu dem elastischen Fluidum, das sie umgiebt
> Weltleele. I. S.W. I, 2. S. 399, 400. - ' Ebendas. II. v. 1-7. E.N.
I. 2. S. 406-430.
.4. Die erste Krast der Natur. 87?
suche
heterogener
der Chemie
Lustarten
unerachtet,
erklärendiekann,
Luft,betrachte
die unsich,umgiebt,
der zahlreichen
als die Ver-
un
Sechszehntes Capitel.
VrganiK. L. Der Lebensproceß.
lichcs Leben hat) Vegetation und Leben. In Rücksicht aus den Sauer
stoff (Oxygen), die elementarste Bedingung aller Lebensthätigkeit. sind
die beiden Hauptsormen des chemischen Processes Desoxydation und
Oxydation oder (phlogistisch zu reden) „Phlogistisirung" und „Dephlo-
gistisirung". Dort wird Sauerstoff abgesondert, hier ausgenommen;
im ersten Fall besteht das Verhältniß zwischen Körper und Sauerstoff
in der Trennung, im zweiten in der Vereinigung; beide Processe sind
einander entgegengesetzt: die Desoxydation hat den Charakter des Posi
tiven, die Oxydation den des Negativen. ^
So verhalten sich Vegetation und Leben. Die Pflanzen hauchen
den Sauerstoss aus, die Thiere athmen ihn ein, jene verbessern, diese
verderben die Lebenslust. Die Vegetation besteht in einer steten Des
oxydation, das Leben in einer steten Oxydation. Die Pflanze zerlegt
das Wasser, das Thier die Lust; jene nimmt den brennbaren Bestand-
theil in sich ans und giebt der Atmosphäre den Sauerstoff, dieses
nimmt den Sauerstoff in sich aus und giebt der Atmosphäre Kohlen
säure wieder. Die Lust enthält die beiden Elemente in sich, deren
eines das thierische Athmen (Leben) ermöglicht, das andere vernichtet,
sie vereinigt die beiden Elemente, deren Conflict das Leben auszumachen
scheint. So enthält das Wasser „den ersten Entwurs aller Vegetation",
die Lust „den ersten Entwurs des Lebens". „Der Mensch, wenn er
nicht aus dem Erdenklos gebildet sein will, muß wenigstens bekennen,
daß er den ätherischen Ursprung, den er seinem Geschlechte zueignen
möchte, mit der ganzen belebten Schöpsung theilt." Daher durste
Lichtenberg sagen: „Alles, das Schönste wenigstens, was die Erde hat.
ist aus Dunst zusammengeronnen".'
Nun ist das Leben kein sertiges Product, sondern in stetem Wer
den begriffen. es ist ein sortdauernder Proces;. nur möglich durch den
sortdauernden Conflict entgegengesetzter Principien, der den Wechsel
der Erscheinungen unterhält und denselben nöthigt. einen beständigen
Kreislaus zu bilden. Eben dasselbe thut die Natur im Großen und
Ganzen, sie lebt und bildet in dem beständigen Kreislaus ihrer Er
scheinungen den allgemeinen Organismus, innerhalb dessen alles Todte
„erloschenes Leben", alles Lebendige „individualisirtes Leben" ist. „Der
Organismus ist nicht die Eigenschast einzelner Naturdinge, sondern
umgekehrt die einzelnen Naturdinge sind eben so viele Beschränkungen
' Von der Weltseele. Untersuchung des allg. Org. I. S. W. I. 2. S. 493-9S.
' Weltseele. Allg. Org. III. 2. Anm. S. W. I. 2. S. SI2 ff.
L. Der Lebensproceß.
Durin eben besteht in der ganzen Schöpsung die Einheit und Mannich-
saltigkeit des Lebens.>
Zur Möglichkeit des Lebens gehören demnach zwei Bedingungen:
die eine, wodurch der Lebensproceß besteht, erhalten und immer von
neuem wieder angesacht wird; die andere, woraus der Lebensproceß
ganismus
besteht, die ausmachen.
Stoffe, welche
DiedasBedingung,
Material und
durchdiewelche
Bestandtheile
etwas ist
des oder
Lr-
und chemischer Art; erregt werden kann nur der lebendige Körper.
Enegbarkeit ist daher nicht blos Empsänglichkeit, sondern die Fähigkeit
der Gegenwirkung aus äußere Reize (Reizbarkeit). Wäre der Orga
nismus nicht erregbar, so würden diese äußeren Einslüsse nicht als
Reize wirken, daher sind diese nicht die Ursache der Erregbarkeit, so
wenig als äußere Assectionen die Ursache der Empsindung. In der
Erregbarkeit liegt die Möglichkeit der Hemmung und Krankheit; daher
halte I. Brown Recht, aus diesen Begriss seine Krankheitslehre zu
gränden, aber er hatte Unrecht, die erregenden Potenzen, wie Wärme,
Lustt, Nahrung u. s. w. sür die positive Ursache der Erregbarkeit zu
holten; er hatte eine richtige Ansicht von der Krankheit, aber eine
salsche vom Lebens
und ihre Theile beständig reproducirt. daß in jedem Theile der orga
nischen Masse der Zusammenhang aller oder das Ganze erkennbar ist.
daß mit einem Worte die Materie sich individualisirt, läßt sich
aus den chemischen Lebensbedingungen nicht begreislich machen, das ist
ein Product, welches in Rücksicht aus die chemischen Ursachen gleichsam
zusällig entsteht, dessen Erklärung daher über den chemischen Lebens-
proceß hinausweist.'
Iedes Organ ist individualisirt, es hat seine bestimmte Eigenschast
und Form, die Eigenschast liegt in der chemischen Mischung, die Form
in der Structur ; warum es so gemischt und so gebildet ist, läßt sich
nur aus dem Lebensproceß erklären, und eben darum kann dieser weder
aus den chemischen Mischungsverhältnissen noch aus der Form der
Organe abgeleitet, weder chemisch noch mechanisch erklärt werden. Er
ist die Ursache sowohl der individuellen Mischung als der individuellen
Form der Organe, die unmittelbare Ursache der ersten, die mittelbare
der zweiten. Im Organismus ist die Figur der Theile abhängig von
deren Eigenschast und Function, in der Maschine verhält es sich um
gekehrt. Dieser Satz enthält „den Schlüssel zur Erklärung der merk
würdigsten Phänomene im organischen Naturreich und unterscheidet erst
eigentlich die Organisation von der Maschine". Daß die thierische
Assimilation und Ernährung aus chemische Art geschieht, ist klar, aber
es ist eben so einleuchtend, „daß die todten chemischen Kräste, die im
Assimilationsproceß wirken, selbst eine höhere Ursache voraussetzen,
von der sie regiert und in Bewegung gesetzt werden"d
Siebzehntes Capitel.
Das neue Natursyftem.
und will aus ihr allein erklärt werden. Daher muß man der Natur
„Autonomie und Autarkie" zuschreiben. Sie ist gleich ihrem Entwick
lungsgange. Um sie zu erkennen, muß man diesen versolgen, d. h. die
Production der Natur verstehen, nicht blos ihre Producte beschreiben.
Das Abbild der Production ist die Reproduction, die Wiedererzeugung
der Natur im Gedanken. Daher jenes Wort Schellings, welches man
so ost nachgesprochen und gewöhnlich mißverstanden hat: „Ueber die
Natur philosophiren heißt die Natur schaffen". Man müsse, sügt er
hinzu, das Werk der Natur in ihre eigene sreie Entwicklung versetzen
und sich selbst von der gemeinen Ansicht losreißen, welche in der Natur
nur was geschieht, höchstens das Handeln als Factum, nicht das
Handeln selbst im Handeln erblickt.'
Vergleicht man mit dieser Idee der schaffenden, in beständiger
Selbstentwicklung begriffenen Natur den Zustand ihrer Producte, so
gewähren diese ein anderes Bild, als man zunächst erwartet. Man
sollte erwarten, daß jene beständige Selbstentwicklung in Objecten er
scheine, die in rastloser Metamorphose wechseln, nie still stehen, immer
im Uebergange in Anderes begriffen sind, also weder einen beharrlichen
noch einen bestimmten Charakter haben, an dessen Beschaffenheit und
Schranke sie gebunden sind. Die Natur müsse so aussallen, wie einst
Herccklit gedacht hat, daß sie wäre. Woher kommt das Gegentheil in
die Naturerscheinungen: die Fixirung? Woher kommt in die Objecte
der Natur, was in dem Subjecte derselben nicht ist: der Charakter der
Permanenz und der Qualität? Die eine Natur in ihrer unend
lichen Selbstentwicklung sollte dargestellt sein in der Evolution eines
Products, dessen vorübergehende Phasen die mannichsaltigen Natur
erscheinungen sind. Aber das Urproduct der Natur ist nicht eines,
sondern besteht, wie es scheint, in einer Vielheit verschiedener Elemente
oder Grundstoffe ; die Entwicklungsstusen der Natur sind nicht vorüber
gehend, sondern permanent, die Natur sixirt ihre Producte und bannt
sie in die Determinationen und Schranken einer bestimmten Entwick
lungssphäre.
2. Ursprüngliche Actionen. Kombination und Decomposition.
Es giebt in der lobjectiven) Natur „ursprüngliche Qualitäten",
Elemente von eigenthümlicher Beschaffenheit und Wirkungsart, die als
jede derselben durch die übrigen verhindert ist, eine bestimmte Gestalt
hervorzubringen, so muß das gemeinsame Product eine Masse sein, in
der kein Theil von den andern sich durch seine Figur unterscheidet: die
absolut slüssige Materie: der Aether, die erste Krast der Natur. In
diesem Product erscheint daher die ursprünglichste Combination. In
diesem Fluidum besteht das vollkommenste Gleichgewicht der Actionen,
und so lange das letztere ungestört bleibt, kann es nicht zu einem be
stimmten Phänomen, zu einem sensibeln Effect kommen. Die Störung
' Ebendas. III. 1-3. S. 33-35. - ' Ebendas. III. 4-7. S. 37-39.
Das neue Natursystem, 391
Wenn III.
ein Die
Leben Einheit
und 1.zwar
Epigenesis.
der
ein Organisation.
gemeinsames durch die ganze
Natur geht, so müssen die Individuen Mittel der Gattung und die
' Ebendas. IV. L. I. 2. S. 49-Sl.
Das neue Natursystem.
derselben Art, sondern auch sür die verschiedenen Gattungen und Arten?
Dies ist die Frage. Entstehen die Arten durch Zeugung, so ist ihr
Zusammenhang genealogisch, und die Entwicklungslehre sällt zusammen
mit der Descendenzlehre. Da der Geschlechtsgegensatz bedingt ist durch
die Art, und die Artverschiedenheit die sruchtbare Zeugung ausschließt,
so könne die Einheit der Organisation nicht gegründet sein in der Ab
stammung. Doch müsse man die letztere so weit als möglich versolgen
und sich wohl hüten, sür Art zu halten, was nur Abartung oder
Modisication der Art sei. "
Bilden die Arten in der Natur einen continuirlichen Zusammen
hang oder verschiedene Stusen einer Entwicklung, so muß ihre Ein
heit, wenn sie nicht in der gemeinsamen Abstammung zu sinden ist,
in dem gemeinsamen Ziel gesucht werden. Daß die Organisationen
Entwicklungssormen sind, ist außer Frage. Es handelt sich nur um
das Entwicklungsprincip: ob es genealogisch ist oder teleologisch?
«Die Behauptung, daß wirklich die verschiedenen Organisationen durch
allmähliche Entwicklung auseinander sich gebildet haben, ist Mißver-
' Ebendas. IV. ^. Anmerkung S. 48. - ' Ebendas. IV. L. Zus. 1. S. SU
bis 61. - ' Ebendas. S. 63.
394 Das neue Natursystem.
ständniß einer Idee, die wirklich in der Vernunst liegt. Nämlich: alle
einzelnen Organisationen zusammen sollen doch nur einem Producte
gleich gelten; dies wäre nur dann denkbar, wenn die Natur bei ihnen
allen ein und dasselbe Urbild gleichsam vor Augen gehabt hätte."
„Daß die Natur ein solches absolutes Original durch alle Organisa
tionen zusammen ausdrückt, ließe sich allein dadurch beweisen. daK
man zeigte, alle Verschiedenheit der Organisationen sei nur eine Ver
schiedenheit der Annäherung zu jenem Absoluten, welches dann sür die
Ersahrung dasselbe sein würde, als ob sie ursprünglich nur verschiedene
Entwicklungen einer und derselben Organisation wären. Da nun jenes
absolute Product nirgends eristirt, sondern selbst immer nur wird,
also nichts Fixirtes ist, so kann die größere oder geringere Entsernung
einer Organisation von demselben (als dem Ideal) auch nicht durch
Vergleichung mit ihm bestimmt werden. Da aber in der Ersahrung
solche Annäherungen zu einem gemeinschastlichen Ideal dasselbe Phä
nomen geben müssen, welches verschiedene Entwicklungen einer und
derselben Organisation geben würden, so ist der Beweis sür die erste
Ansicht gegeben, wenn der Beweis sür die Möglichkeit der letzteren
gegeben ist." ^
3. Die vergleichende Anatomie und Physiologie.
Die Einheit der Organisation, genealogisch gesaßt, erklärt sich
aus der Herkunst von einer gemeinsamen Grundsorm; die Einheit der
Organisation, teleologisch gesaßt, erklärt sich aus der Annäherung an
ein gemeinsames Ziel. Wie verschieden in beiden Fällen das Princip
ist, welches die Einheit der Organisation begründet und ausmacht, das
thatsächliche, in der Ersahrung gegebene Resultat ist dasselbe: in beiden
Fällen müssen die gegebenen organischen Bildungen als Entwicklungs
sormen erscheinen. Das ist der Erkenntnißgrund, aus dem die Ein
heit der Organisationen erhellt. Wenn diese nicht genealogisch begründet
werden kann, so gilt der gesührte Beweis sür die teleologische Ansicht.
Aber der Beweis selbst kann nicht teleologisch gesührt werden.
Es ist nicht möglich, organische Formen, die gegeben sind, mit einem
Ideal zu vergleichen, welches nicht gegeben ist; wohl aber ist es mög
lich, die gegebenen Bildungen unter sich zu vergleichen in Rücksicht
sowohl aus den Bau ihrer Organisation und die Structur ihrer Organe
als aus die organischen Functionen: das erste geschieht durch die
Die dynamischeAchtzehntes
Stufenfolge in der
Capitel.
unorganischen Natur.
^. Die Weltorganisation.
Zwei Grundanschauungen
I. DiesindAusgabe.
sestgestellt: das Alleben der Natur
und das individuelle Leben in der Natur, die Einheit des Gesammt-
lebens (der allgemeine Organismus) und die Einheit insbesondere der
organischen Welt in ihren eigenthümlichen Bildungs- und Entwicklungs
sormen. Unmöglich kann die Einheit des Gesammtlebens zerrissen
' Ebendas. IV. L. Anmerkung S. 68 ff.
896 Dynamische Stusensolge in der unorganischen Natur.
mus Iedes
ein Eigenleben,
organischeein
Individuum
Leben sür sich,
sührtdessen
innerhalb
Entwicklungssphäre
des Weltorganis-
durch
Schelling sagen: „Die Natur des Anorganischen muß durch den Gegen
satz gegen die Natur des Organischen bestimmbar sein." ^
Diese Betrachtung der unorganischen Natur aus dem Gesichts
punkt der organischen kann niemand besremden, der die Grundrichtung
der naturphilosophischen Anschauung kennt. Es ist nichts anderes als
der tieser herabgerückte, transscendentale Standpunkt. Wie ist die
Natur möglich als Object der Erkenntniß, als nothwendige Außenwelt
des Geistes? Dies war die Grundsrage. Wie ist eine unorganische
Natur möglich als die nothwendige Außenwelt des Lebens? Wie muß
die unorganische Natur beschassen sein, wenn sie eben diese Außenwelt
ist? Dies ist die Frage, welche vorliegt. Ich meine, es sei einleuch
tend, daß diese Fragen einander vollkommen entsprechen, daß man die
zweite stellen muß, wenn man die erste gestellt hat. Setze die Natur
als Ding an sich, als etwas allen geistigen Bedingungen völlig Fremdes
und davon Unabhängiges, und der Weg zur Erkenntniß (erkennbaren
Natur) ist unmöglich! Setze eine todte Natur als das Ursprüngliche,
allem Leben Fremde und davon Unabhängige, und der Weg zum Leben
ist ebenso unmöglich!
Neunzehntes Capitel.
L. Kssmogonie.
zeichnet Schelling seine Hypothese von der Weltbildung als „die or»
ganische" im Unterschiede von der mechanischen. ^
Die erste Zusammenziehung der Urmaterie sei der Ansang der
Weltbildung, die dadurch entstandenen Massen das erste Product der
Natur, das Verhältniß der ursprünglichen und ausgestoßenen Massen
die erste Assinitätssphäre und zugleich der Ansatz einer Reihe centraler
Massen,
pansion neue
die durch
und engere
den sortgesetzten
Assinitätssphären
Wechsel bilden.
der Contraction
Wenn demundso Er-
ist.
„müßte dann nicht jene Bildung immer engerer Sphären der Assinität
ins Unendliche gehen, und ist nicht etwa diese ins Unendliche gehende
Organisation der Ursprung des ganzen Weltsystems? Um diese Idee
weiter zu versolgen, betrachte man die erste sich bildende Maffe als das
ursprünglichste Product, als ein Product also, das ins Unendliche
sort in neue Producte zersallen kann, welches ohnehin die Eigenschast
jedes Naturproducts ist." Diese sortgesetzte Theilung und Disserenzi-
rung des Urproducts kann als eine beständige Umwandlung deffelben
betrachtet und „die organische Metamorphose des Universums" genannt
werden.'
Die verschiedenen Bildungszustände der Welt sind die Assinitäts
sphären, die in dem Unterschiede centraler und subalterner Körper be
stehen ; wenn der subalterne Körper in den centralen zurücksällt, ist die
Differenz der Weltzustände ausgehoben und wir sind in den Ansang
der Weltbildung zurückversetzt; wenn dem Centralkörper nur ein sub
alterner gegenübersteht, giebt es kein Gleichgewicht und die Wieder
vereinigung beider zu einer Masse ist durch nichts gehindert. Darum
müssen der subalternen Producte in dem ersten und einsachsten Bil
dungszustande zwei sein, welche die gemeinsame Tendenz gegen den
Centralkorper haben, aber sich durch die Tendenz gegen einander an
der Wiedervereinigung mit jenem wechselseitig hindern. Nur unter
dieser Bedingung können die Assinitätssphären Bestand und dadurch die
verschiedenen Zustände jener organischen Weltmetamorphose Permanenz
haben. „Wir behaupten also. das Universum habe zuerst von einer
in Bildung begriffenen Masse zu einem System von drei ursprüng
lichen Massen und von dieser aus durch eine ins Unendliche gehende
Organisation (oder Bildung immer engerer Assinitätssphären) vermittelst
einer immer sortgehenden Explosion sich selbst hervorgebracht.''
Zwanzigstes Capitel.
I. Die Ausgabe.
Es ist im Vorigen gezeigt worden, wie in der unorganischen
Natur sich der allgemeine Weltorganismus entwickelt, wie das System
der Massen sich ordnet und abstust in specielle Systeme, in immer
engere Assinitätssphären. deren eines unser Sonnengebiet ; wie in diesem
letzteren unter dem Einfluß der Sonne jene specisischen Verhältnisse
irdischer Körper entstehen, welche die Wirkungssphäre der chemischen
und elektrischen Actionen ausmachen. Wir können im Rückblick aus
die Schrist „Von der Weltseele" die magnetische Wirksamkeit hinzu
sägen, die dort als das Urphänomen der Polarität hervorgehoben und
aus dem Einfluß der Sonne aus die Erde erklärt wurde. Wie der
Centralkorper aus den subalternen wirke und den Theilen deffelben
durch die gemeinsame Unterordnung einen wechselseitigen Zusammen
hang ertheile, könne man sich an der Erscheinung des Magnetismus
in der einsachsten und bekanntesten Form deutlich machen. Wie der
Magnet die Theilchen der Eisenseile anziehe und ihnen zugleich eine
regelmäßige Stellung gegeneinander gebe, in ähnlicher Weise könne die
Sonne aus die Theile der Erde wirken. So bemerkt Schelling an
einer Stelle seines „Entwurss". Doch solle das magnetische Phänomen
hier nur als „Beispiel" und das magnetische Verhältniß zwischen
Sonne und Erde nur als „Hypothese" gelten. ^
Wenn aus der unorganischen Natur die organische hervorgeht,
so müffen deren Erklärungsgründe sämmtlich in jener enthalten und
der Organismus aus Naturursachen erklärbar sein, dann muß zwischen
beiden ein nothwendiger Zusammenhang oder eine Continuität statt
sinden, krast deren beide sich wechselseitig bestimmen. Ist das indivi
duelle Leben nichts anderes als die engste Concentration des allgemeinen
Organismus (ein Satz, den Schelling nicht ost genug wiederholen kann),
so muß auch zwischen den organischen und allgemeinen Naturkrästen
eine wesentliche Uebereinstimmung und Analogie bestehen, die aus eine
die Reize wirken, so beständig ist die Störung, ebenso beständig die
Wiederherstellung, der Wechsel entgegengesetzter Bewegungen, die sich
als Contraction und Expansion darstellen: dies ist die Function
der Irritabilität als der organischen Reactionskrast. deren Werk
zeuge die Nerven und Muskeln sind. Das irritable System ist die
Bewassnung der Sensibilität, jenes Mittelglied, wodurch diese allein
mit der Außenwelt zusammenhängt. Weil der Organismus sensibel
ist, darum ist er irritabel, darum sind die Eingriffe in den organischen
Zustand Erregungen oder Reize, darum sind die Reize Sensationen,
„Sensation", sagt Schelling, „bedeutet mir von nun an nichts anderes
als eben Störung des homogenen Zustandes des Organismus." Weil
sie Störungen des homogenen Zustandes sind, darum machen im Tr„
ganismus alle Erregungen von außen Sensation, darum werden die
Sensationen als entgegengesetzte Zustände empsunden, daher ist in jedem
Sinn eine nothwendige Dualität, sür den Gesichtssinn die Polarität
der Farben, sür das Gehör die Höhe und Tiese der Töne, ftr den
Geschmack der Gegensatz von sauer und alkalisch u. s. s. >
3. Die Reproduction.
in diesen drei Krästen das System der organischen Kräste und deren
Kreislaus beschlossen ist.
In den Functionen der Reproduction lassen sich drei Formen
oder Stusen unterscheiden; sie ist an eine bestimmte Organisations
oder Bildungssphäre gebunden, die sie nicht überschreitet, innerhalb
deren sie ins Endlose sortwirkt. Was producirt und reproducirt wird,
ist entweder das organische Individuum selbst oder ein Product außer
ihm. welches letztere entweder ein todtes Werk (das sogenannte thie
rische Kunstproduct) oder ein organisches Product derselben Art, ein
Individuum derselben Organisation ist. So erscheint die Reproduction
als Lebenstrieb, als Kunsttrieb, als Gattungstrieb.
Der Lebenstrieb bethätigt sich in der beständigen Selbstreproduc-
tion
tabilität
des immer
Organismus.
von neuemUm das
anzusachen,
Leben selbst
daszuorganische
unterhalten,
Gleichgewicht
die Irri-
zukomme, und wir opsern ihr individuelles Leben nur dem allge
meinen Leben der Natur aus.'"
In der Bildung ihrer sogenannten Kunstwerke steht die thierische
Reproduction aus der Grenze zwischen Organismus und Mechanismus,
sie handelt als Organ der allgemeinen Naturkrast, nach Gesetzen der
unorganischen Natur und erzeugt demgemäß einen todten regelmäßigen
Körper. Aber der Organismus soll sich produciren; er muß, wenn
er sich vollendet hat, (über sein Product hinausstreben und) ein neues
Product seiner Art hervorbringen, d. h. seine Organisation reprodu-
ciren. Da nun alle organische Thätigkeit und Production durch jene
Selbstentgegensetzung bedingt ist, die Schelling „Duplicität" nannte, so
sind zur Vollendung der organischen Reproduction zwei Factoren noth-
wendig, beide organische, aber einander entgegengesetzte Producte, die
den allgemeinen Charakter ihrer Entwicklungsstuse einzeln unvoll
ständig, beide zusammen aber vollständig ausdrücken. Ihre Einheit
ist die Art der Organisation, ihr Gegensatz das Geschlecht. Ietzt
erscheint das organische Bildungsvermögen als Gattungstrieb, bedingt
durch die Geschlechtsdifferenz, die nothwendigen und entgegengesetzten
Factoren der zu vollendenden Reproduction. Diese Begründung der
Geschlechtsdifferenz nennt Schelling deren „Deduction". Der Kunst
trieb verhält sich zum Gattungstrieb, wie die unorganisch bildende
Natur zur organischen: er ist die Vorstuse und in der thierischen Ent
wicklung der Vorbote desselben. ^
Durch den Gattungsproceß werden die Bedingungen des Lebens
sortwährend reproducirt und dadurch das Leben selbst, die organische
Thätigkeit und Natur erhalten, während die einzelnen Organismen
entstehen und vergehen. Daher sind diese in Rücksicht aus den Lebens-
proceß selbst, nämlich die Gattung und deren Erhaltung, blos Mittel,
die letztere ist Zweck; und da das innerste Wesen des Organismus in
der Sensibilität besteht, so ist die Einheit und Erhaltung dieser orga
nischen Krast das eigentliche Grundthema alles Lebens: die Erhaltung
der Sensibilität, die in Irritabilität übergeht, durch diese in Production
und Reproduction, welche letztere, indem sie als Gattungsproceß die
Bedingungen des Lebens beständig erneuert, in die Sensibilität wieder
zurückgeht. In dem Leben der Gattung sind die Individuen Mittel,
in dem Kreislaus der Sensibilität sind sie Leiter.
Thätigkeit, ein solcher Erregungsproceß, daher mehr als der blos elek
trische oder chemische Proceß, die erleschen, sobald das gestörte Gleich
gewicht ihrer (beiden entgegengesetzten) Factoren wiederhergestellt ist.
Daher ist auch zur Darstellung der galvanischen Thätigkeit mehr als
blos der Gegensatz zweier Elemente (Duplicität) nöthig, es muß ein
dritter Factor eintreten, durch dessen Wirksamkeit das hergestellte
Gleichgewicht von neuem gestört und der Proceß wieder angesacht wird:
das ist, was Schelling die „Triplicität" im Galvanismus nennt
und als die Bedingung derjenigen organischen, nach außen gerichteten
Thätigkeit sordert, in welcher die Irritabilität besteht. ^
Gerade in den Iahren, als Schelling über die Weltseele schrieb
und sein System entwars, hatten zwei deutsche Natursorscher eingehende
und höchst einflußreiche Untersuchungen über das Westn des Galva
nismus angestellt und in den hier schwebenden Fragen die Richtungen
vorgezeichnet, welche die Naturphilosophie nahm: der eine war
I. W. Ritter mit seiner Beweissührung, „daß ein beständiger Galva
nismus den Lebensproceß begleite" (1798), der andere A. von Hum
boldt mit seinem berühmten Werke „Ueber die gereizte Muskel- und
Nervensaser" (1797 und 1799). Iener hatte gezeigt, daß zur Er
zeugung der galvanischen Erscheinungen drei Factoren nöthig seien,
daß im thierischen Organismus Nerv, Muskel und Fluidum eine
galvanische Kette bilden; dieser wollte nachgewiesen haben, daß durch
das Fluidum, welches die Nerven leiten, in den Elementen der Muskel
saser eine chemische Veränderung bewirkt werde, aus der die Muskel-
contraction resultire; die gegenseitige Berührung von Nerv und Muskel
sei die Ursache der galvanischen Erscheinung. Daher sagte Schelling,
der Zusammenhang des Galvanismus und der Irritabilität scheine
durch die Humboldtschen Versuche entschieden und Galvanis große Ent
deckung wieder in die Dignität eingesetzt, die ihr Voltas Scharssinn
zu rauben drohte. *
Es wurde sestgestellt, daß der Galvanismus erregend wirke, daß
er Reize verursache, aus die der Muskel durch Zuckungen, die Sinnes
nerven durch ihre specisischen Empsindungen reagiren, daß diese sensibeln
Reize als Schall und Licht (der Huntersche Blitz), als Erschütterung
und Wärme, als saurer und bittrer Geschmack empsunden werden;
daß daher die galvanischen Wirkungen elektrischer und chemischer Art
' Entwurs. Dritter Hauptabschn. II. 4. S. W. I. 3. S. 163-165. - ' Welt,
seele. S. W. I. 2. S. 555 Anmerkung.
«. Fischer, «esch. d. Philos. Vli 27
41« Dynamische Stusensolge
seien, daß demnach in den Gliedern der galvanischen Kette sowohl eine
elektrische als chemische Disserenz stattsinde. Da nun die polare Ent
gegensetzung in den Theilen eines Körpers das Wesen des Magne
tismus ausmacht, so ergab sich sür Schelling der Satz, welcher in die
Grundanschauung der Naturphilosophie eingeht: daß der galvanische
Proceß den magnetischen, elektrischen und chemischen in sich vereinige,
daß in ihm die Einheit sowohl der magnetischen und elektrischen, als
der elektrischen und chemischen Wirksamkeit enthalten sei, er selbst
daher die Totalität des dynamischen Processcs ausmache. Nimmt man
dazu, daß der Körper, in welchem der galvanische Erregungsproceß
allein zu Stande kommen soll, der thierische Organismus ist, daß er
die materielle Erscheinung der Irritabilität darstellt, welche das Band
der Sensibilität und Reproduction, „den Mittelpunkt der organischen
Kräste" bildet, so ist einleuchtend genug, warum Schelling in dem
Galvanismus das Centralphänomen der Natur sah. In ihm ist der
dynamische Proceß vollendet und organisch geworden, in ihm sind die
organischen Kräste verknüpst. ^
ducte seien gleich einem Product. „Es ist nicht ein Product Mr,
aber doch eine Krast, die wir nur aus verschiedenen Stusen der Er
scheinung gehemmt erblicken." Wir haben nicht ein Product, aber
„eine Einheit der Kraft der Hervorbringung durch die ganze organische
Natur". „Es wird in der Natur so viele Stusen der Organisation
geben, als es verschiedene Stusen der Erscheinung jener einen Krast
giebt." „Es ist eine Organisation, die durch alle diese Stusen herab
allmählich bis in die Pflanze sich verliert, und eine ununterbrochen
wirkende Ursache, die von der Sensibilität des ersten Thiers an biz
in die Reproductionskraft der letzten Pslanze sich verliert." Versolgen
wir diese Stusenreihe auswärts, so steigt die Sensibilität, bis sie ihr
Maximum erreicht und „nur aus dem Gipsel aller Organisation tritt
sie in absoluter Unabhängigkeit von 'den untergeordneten Kräften alz
Beherrscherin des ganzen Organismus hervor".>
Wie Schelling die Stusenleiter der Organisation aus der Pro
portion oder „Wechselbestimmung der Sensibilität und Irritabilität,
der Sensibilität und Reproduction, der Irritabilität und Productions-
krast" zu deduciren sucht, geschieht in allen wesentlichen Zügen nach
dem Vorbilde Kielmeyers, dessen Ideen wir ebendeshalb vor dem Ein
tritt in die Naturphilosophie erörtert haben. Es genügt jetzt, daraus
zurückzuweisen. ^
3. Die Analogie der unorganischen und organischen Kräste.
Die organischen Kräfte sind Zweige einer Krast. Daffelbe gilt
von den allgemeinen Naturkrästen. Wenn nun das individuelle Leben
die Concentration (Contraction) des allgemeinen Organismus ist. w
müssen die organischen und unorganischen Kräfte Zweige oder Erschei
nungssormen einer Krast sein. Eben darin besteht die dynamiscke
Stusensolge in der gesammten Natur, in dieser Einsicht das Theim
der ganzen Naturphilosophie.'
Die allgemeinen Kräste und die organischen müffen daher einander
verwandt oder analog sein: jene sind Magnetismus, Elektricität, che
mischer Proceß, diese sind Sensibilität, Irritabilität, Reproduction. Tem
allgemeinen Magnetismus entspricht die Sensibilität, dem elektrischen
Proceß die Irritabilität, dem chemischen die Reproduction (bildende
Thätigkeit).
> Entwurs. Dritter Hauptabschn. III. S. 205 ff., 203. - ' T. oben Buch U
Cap. X. S. 342-47. - ' Entwurs. S. W. I. 3. S. 207.
Gesummtresultat und neue Ausgabe.
Einundzwanzigstes Capitel.
Gesammtresultat nnd neue Ausgabe.
gehoben würde. Wie kann sie beides zugleich sein? Eben dies bedeutet
die Frage: „wie ist Naur möglich?"
Setzen wir, die Natur wäre Productivität ohne Stillstand, reines
Produciren (bloßes Werden), so wäre sie nicht erkennbar; sie ist es
nur, wenn ihre Thätigkeit in einem Producte erscheint und objectiv
wird. Setzen wir, daß ihre Thätigkeit dergestalt in ein Product über
ginge, daß sie ganz darin ausginge und sich erschöpste, so wäre ihre
Productivität und damit sie selbst ausgehoben. Daher kann die Natur
weder blos productiv sein noch jemals völlig Product werden, sie muß
beides in Einem sein. Die Frage heißt: wie ist diese Einheit möglich?
So viel ist einleuchtend, daß in jedem Naturproduct die Thätig
keit der Natur gehemmt erscheint, daß der Grund dieser Hemmung
nur in der Natur selbst liegen kann, daher in der schassenden Natur
zwei entgegengesetzte Tendenzen enthalten sein müssen: „eine productive
und antiproductive" oder „eine positive und negative Tendenz". Die
Möglichkeit der Natur gründet sich daher aus diese Entzweiung inner
halb der einen mit sich identischen schassenden Natur, aus diesen Gegen
satz in der Einheit. „Allgemeine Dualität als Princip aller Natur
erklärung ist so nothwendig als der Begriss der Natur selbst." „Diese
Duplicität läßt sich nicht weiter physikalisch ableiten, denn als Be
dingung aller Natur überhaupt ist sie ein Princip aller physikalischen
Erklärung, und alle physikalische Erklärung kann nur daraus gehen,
alle Gegensätze, die in der Natur erscheinen, aus jenen ursprünglichen
Gegensatz im Innern der Natur, der selbst nicht erscheint, zurückzusühren."'
3. Die Natur als Entwicklungsreihe oder Metamorphose.
Setzen wir, daß jene entgegengesetzten Tätigkeiten, woraus allein
ein Product hervorgehen kann, in dem letzteren sich gegenseitig völlig
ausheben, so ist das Product gleich Zero und der Moment seiner Ent
stehung unmittelbar auch seine Vernichtung, so käme es zu keinem
bestehenden Product. zu keiner Natur als Object, zu keiner wirklichen
Natur. Die letztere ist erst dann möglich, wenn das Product nicht im
Entstehen aushört, sondern immer wieder entsteht, d. h. sich beständig
reproducirt oder selbst ins Unendliche productiv ist. Das Product
muß productiv oder, was dasselbe heißt, die Productivität muß in
ihm concentrirt sein, dann erst ist jene gesorderte Einheit (der Pro
ductivität und des Products) wirklich vorhanden. Nun kann das
' Ebendas. 8 4. s 6. IV. il. e. m.
und neue Ausgabe. 4 '.',,>
Zweiundzwanzigstes Capitel.
Die Kategorien der Physik. Magnetismus, EleKtricitöt,
chemischer Proceß.
darstellt, oder als Producte, so daß jeder beide Factoren enthält, aber
in ^. der eine, in L der entgegengesetzte Factor das absolute Ueber-
gewicht hat. Im ersten Fall besteht die Indifferenz, in welche der
Uebergang stattsindet, in der Aushebung des Gegensatzes, d. h. im
Indisserenzpunkt, im zweiten im relativen Gleichgewicht der Körper,
d. h. in der Ausgleichung des Gegensatzes, im dritten in der gegen
seitigen Durchdringung der Körper, d. h. in der Bildung eines neuen
Products: die erste Form ist der Magnetismus, die zweite die
Elektricität, die dritte der chemische Proceß. Im Magnetismus
herrscht die Differenz blos der Kräste (Factoren), „die reine Differenz',
„die Differenz in der ersten Potenz", im elektrischen und chemischen
Proces herrscht die Differenz der Körper, aber dort kommt es nur
zum relativen Gleichgewicht, die Körper bleiben different; hier kommt
es zum absoluten Gleichgewicht, zur gegenseitigen Durchdringung, zur
wirklichen Indifferenz. Im chemischen Proceß verhalten sich die Körper,
wie im Magnetismus die Kräste (Factoren). So bewegt sich der
dynamische Proceß vom Indifferenzpunkt, den er im Magnetismus
erreicht, durch das relative Gleichgewicht (vorübergehende Indifferenz)
der Körper im elektrischen Proceß zu der indifferenten Materie, die
der chemische Proceß producirt.' Wir sehen die Raumersüllung ent
stehen vom Punkt bis zum Körper.'
' Ebendas. K 6.
«. Fisch«. Gesch. d. Philos. VII
434 Die Kategorien ber Physik.
> Ebendas. §§ 8-13. - e Ebendas. §Z 14. 15, 21». - ' Ebendas. 8 15,
Magnetismus, Elektricität, chemischer Proceß. 435
Ietzt wirkt jede der beiden Kräste nicht mehr in einer bestimmten
Richtung, da die Bedingung derselben ausgehoben ist, sondern nach
allen. Die negative Krast wirkt nach allen Richtungen der positiven
entgegen. Die expansive Krast wirkt in verschiedenen Richtungen
(Linien), die von demselben Punkt aus divergiren, die attractive wirkt
in verschiedenen (jenen entgegengesetzten) Richtungen, die in demselben
Punkt convergiren, beide Kräste beschreiben Winkel, sie wirken daher
in der Breite oder als Flächenkräste. „Dieser Moment in der Con-
struction der Materie, durch welchen zu der ersten Dimension die zweite
hinzukommt, ist in der Natur durch die Elektricität bezeichnet."
Der ganze Unterschied zwischen Magnetismus und Elektricität beruht
daraus, daß der Gegensatz, der im ersten Moment noch als vereinigt
in einem und demselben identischen Subject erscheint, in diesem als an
zwei verschiedene Individuen vertheilt erscheint.'
Als Flächenkrast ist die Elektricität, wie der Magnetismus, eine
allgemeine Function der Materie, es giebt daher keine besondere
elektrische Materie. Daß aber die Elektricität nicht blos in der Länge,
sondern in Länge und Breite, aber auch blos in diesen beiden Dimen
sionen wirke, daß sie die ganze Oberfläche des Körpers assicire, aber
nicht in das Innere desselben eindringe, sei durch Coulombs Unter
suchungen bewiesen/
Aus der Trennung der Kräste als der Bedingung des elektrischen
Processes solgt der Gegensatz der elektrischen Zustände und Wirkungs
arten (positive und negative Elektricität). Da die Elektricität allge
meine Function der Materie ist, so ist sie in jedem Körper enthalten,
aber sie tritt nicht hervor, so lange die beiden Kräste gebunden oder
im Gleichgewicht sind. Daher wird die Elektricität nicht erzeugt, son
dern geweckt oder erregt, sie wird dem Körper im unelektrischen Zu
stande nicht mitgetheilt, sondern durch Störung des elektrischen Gleich
gewichts in ihm vertheilt. Setzen wir zwei Körper ^ und L, der
erste sei im positiv elektrischen Zustande und repräsentire ausschließend
den positiven Factor, der andere sei im elektrischen Gleichgewicht, also
im unelektrischen Zustande, so besteht zwischen beiden der Gegensatz von
Uebergewicht und Gleichgewicht, also eine Differenz, die nach Aus
gleichung (wechselseitiger Indisserenzirung) strebt. Wenn beide Körper
sich berühren, so solgt die wechselseitige Herstellung des Gleichgewichts;
wenn sie sich nicht berühren, so solgt die Tendenz zur Berührung, die
wechselseitige Anziehung. In dem Körper L wird das Gleichgewicht
gestört, die gebundenen Kräste werden getrennt und sliehen einander,
die negative bewegt sich in der Richtung des positiven Körpers, die
positive in der entgegengesetzten. So vertheilen sich im Körper K
die elektrischen Kräste nach entgegengesetzten Richtungen. Ietzt verhält
sich dieser Körper wie der Magnet; die Elektricität sucht, wie der
Magnetismus, die Länge; die Form des Körpers übt daher einen
Einsluß aus die elektrische Wirkung: so erkläre sich die Wirkung der
Spitzen aus Elektricität, die Ausstrahlung jener kegelsörmigen Feuer
pinsel aus der Gestalt des zugespitzten Körpers, worin „die reinen
Wirkungslinien der Elektricität" erscheinen. Schon Coulomb hatte ge
sagt, daß die Erklärung dieser Erscheinung gewissermaßen als Probe
einer Theorie der Elektricität angesehen werden könne.'
Da die elektrische Anziehung nur begründet ist in der Tendenz
aus das herzustellende Gleichgewicht, so solgt aus dem hergestellten
Gleichgewicht nothwendig die Zurückstoßung, daher ist die letztere nicht
Wirkung der zurückstoßenden (positiven) Krast, sonst würden negative
Elektricitäten einander nicht abstoßend
3. Die Schwere und der chemische Proces;. (Die wirkliche Raumersüllung.)
Es handelt sich noch darum, das dritte Moment der Raumersül
lung in der Construction der Materie zu begründen, den wirklichen
raumersüllenden Körper: geometrisch ausgedrückt (nicht, wie Schelling
sagt, die Fläche in der zweiten, sondern) die Linie in der dritten Po
tenz, das Product der Linie und Fläche; dynamisch ausgedrückt, die
Synthese des Magnetismus und der Elektricität, die Vereinigung
dieser beiden Momente in einem dritten, worin die beiden entgegen
gesetzten Factoren zugleich getrennt sind, wie in der Elektricität. und
vereinigt, wie im Magnetismus. °
Der geometrische Körper begrenzt, der wirkliche Körper ersüllt den
Raum und macht denselben undurchdringlich. Eine solche bestimmte
Ranmersüllung kann nur dadurch zu Stande kommen, daß die repul-
sive Kraft eingeschränkt wird durch einen gewissen Grad der attractiven.
Ein solcher Grad enthält selbst eine Einschränkung der attractiven Kraft,
und da der Grund dieser Einschränkung, von dem die reale Raum-
' Ebendas. §§ 24-27. - ' Ebendas. §I 28, 2g. - « Ebendas. §§ 33, 44.
Magnetismus, Elektricität, chemischer Procesz. 437
' Ebendas. §§ 3l, 32. 35. - ' Ebendas. § 35. - » Ebendas. §K 86, 37.
§ 39 Anmerkung. Vgl. Fr. v. Baader über das pythagoreische Quadrat. S. W.
Hauptabth. I. Bd. 3. S. 258.
438 Die Kategorien der Physil.
Dreiundzwanzigstes Capitel.
Das Licht und die (Qualitätsunterschiede der Materie.
der letzteren nicht als solche, sondern nur aus ihrer Reproduction.
d. h. aus dem dynamischen Proceß erkannt werden. Die Entstehung
der Materie, die ursprüngliche Genesis der Raumersüllung nennt Schel
ling „den Proceß erster Ordnung" oder „die productive Natur in der
ersten Potenz", die Reproduction der Materie (den dynamischen Proceßj
dagegen „den Proceß zweiter Ordnung" oder „die productive Natur
in der zweiten Potenz". Was dort Bedingung zur Materie oder
Moment in deren Construction war, erscheint hier als Function der
Materie oder als Moment in deren Reconstruction. Die Momente
der ersten Ordnung liegen außerhalb der Ersahrung oder der sichtbaren
Natur, ausgenommen das dritte, worin sich die Materie vollendet:
der Proceß der Schwere, der sich durch sein Phänomen bis in die
Sphäre der Ersahrung erstreckt. Die Momente der zweiten Ordnung
durchläust die Natur vor unseren Augen. ^
Da die specissischen Attractivkräste der Körper durch die Schwere
bestimmt sind, welche selbst in den Proceß erster Ordnung gehört, so
gelten Dichtigkeit und specissisches Gewicht als „Eigenschaften erster
Potenz". Es giebt andere davon unabhängige Qualitäten der Ma
terie, die von dem Proceß zweiter Ordnung abhängen und deshalb
„Eigenschasten der zweiten Potenz" heißen: sie solgen sämmtlich aus
den Functionen der Materie oder aus den verschiedenen Verhältnissen
der Körper zum Magnetismus, zur Elektricität und zum chemischen
Proceß; daher können sie auch magnetische, elektrische, chemische Eigen
schasten genannt werden. Das sind die Qualitätsunterschiede der
Materie, um deren Ableitung es sich handelt. Eben diese Ausgabe
hatte Kant aus den Principien seiner Dynamik weder gelöst noch zu
lösen vermocht. 2
> Ebendos. § 4l. - ' Ebendas. § 47.
Das Licht und die Qualitätsunterschiede der Materie. 441
2. Das Licht.
Gesordert wird die Ableitung der besonderen Bestimmungen der
Materie aus dem dynamischen Proceß. In dieser Stellung der Aus
gabe ist schon „das allgemeine Princip einer Construction der Qualitäts
unterschiede" bezeichnet. Indessen ist zur Lösung dieser Ausgabe erst
eine Grundbedingung sestzustellen, die bis jetzt noch den Charakter
einer Voraussetzung trägt. Es ist dargethan, daß die productive
Natur nur aus der Materie erkennbar sei; es ist vorausgesetzt, daß
die Materie von sich aus einleuchte. Die Bedingungen zur Materie
haben diesen einleuchtenden Charakter nicht, die Functionen der Materie
setzen ihn voraus. Daher entsteht hier die Frage: Was macht die
Materie einleuchtend oder phänomenal? Wäre die Materie kein
Product, sondern etwas ursprünglich Gegebenes, darum Unauslösliches
und Unerkennbares, so bliebe sie dunkel, und die obige Frage wäre
nicht zu stellen, geschweige zu lösen.
Nur weil die Materie Product ist, kann sie überhaupt einleuch
tend sein; nur wenn sie aus einer Construction beruht oder aus einer
construirenden Thätigkeit hervorgeht, ist sie Product; sie ist daher ein
leuchtendes Product nur dann, wenn diese „construirende Thätigkeit"
selbst einleuchtet. Nun wird alle ursprüngliche Production der Natur
nur erkannt aus der Reproduction, aus einem Proceß zweiter Ord
nung. Daher heißt die Frage: in welcher Erscheinung reproducirt
die Natur ihre construirende Thätigkeit? Und da diese in der Raum
ersüllung besteht, so wird gesragt: wie erscheint die Natur als raum-
ersüllende Thätigkeit? Wie macht sie als solche sich einleuchtend?
Diese Erscheinung muß in der Construction der Materie dem
dritten (raumersüllenden) Moment entsprechen, welches alle drei Dimen
sionen umsaßt. Dieses dritte Moment war die Schwere, die zwar
erscheint, aber nur als Masse, als raumersnllendes Product erscheint,
nicht als raumersüllende Thätigkeit. In dem Product ist die Thätig
keit gesesselt und verschlossen, daher kann in der Schwere selbst die
raumersüllende Thätigkeit als solche nicht erscheinen, vielmehr wird sich
die Erscheinung derselben zu der Schwere so verhalten müssen, wie die
reine Thätigkeit zu dem sixirten Product: sie wird der Schwere ent
gegengesetzt sein, also als das Gegentheil der Schwere erscheinen; sie
wird wie diese den Raum durchdringen, ohne ihn wie diese undurch
dringlich zu machen oder als Masse zu ersüllen; sie wird daher den
Raum nach allen drei Dimensionen nur „beschreiben" und als
442 Das Licht und die Qualitätsunterschiede der Materie.
scheiden (dem flüssigen Leiter und den beiden sesten von höherer und
geringerer Cohäsion). getrennt darstellt. Das Schema des Magnetismus
sei die Linie, das der Elektricität der Winkel, das des Galvanismus
der Triangel. Diese drei Kräste seien gleichsam „die Primzahlen der
Natur", ihre Schemata „deren allgemeine Hieroglyphen".'
So enthält der Galvanismus den dynamischen Proceß in allen
seinen Momenten und bedingt zugleich den organischen: „er ist das
eigentliche Grenzphänomen beider Naturen". Die Functionen der
organischen Natur, Sensibilität, Irritabilität und Bildungstrieb, sind
die höheren Potenzen des Magnetismus, der Elektricität und der
chemischen Production. ^
In demselben Iahr, wo Schelling diese seine Deduction des dy
namischen Processes verössentlichte, war die Voltasche Säule ersunden
worden. Noch in demselben Hest der Zeitschrist sür speculative Physik
brachte Schelling die Nachricht, daß die Darstellung der Elektricität
und des chemischen Processes im Galvanismus in zwei Versuchen von
Volta aus das Vollkommenste erreicht sei: der eine Versuch sei die
Zusammensetzung einer Leydener Flasche, die sich selbst lade, der andere
die Wasserzersetzung durch den galvanischen Strom, wobei Sauerstoff
und Wasserstoff sich ganz wie entgegengesetzte Elektricitäten verhalten:
der erste sei völlig neu, der zweite nnr die neue und glückliche Modi
sication einer Entdeckung, deren Priorität dem I. W. Ritter gebühret
Vierundzwanzigstes Capitel.
Naturphilosophie und JdentitätsphUosophie.
' Ebendas. § 59. Vgl. oben Cap. XX. S. 416-418. - ' Allg. Ded. § öl.
Vgl. oben Cap. Xl. S. 347-350. - ' Zeitschrist sür specul. Physik. I, 2. (1800.)
Miscellen. L. 4. S. W. I. 4. S. 544-546, - « Vgl. Cap. XXVII. Nr. II.
11^ Naturphilosophie und Identitätsphilosophie.
der Physiker kommt hinter jene Täuschung. Man möchte daher allen
Menschen, die in der Philosophie jetzt zweiselhast sind und nicht aus
den Grund sehen, zurusen: „Kommt her zur Physik und erkennt das
Wahre". So lange der Mensch in der Betrachtung der Dinge nicht
von sich loskommen kann und daher nicht das Object als solches,
sondern immer sich mitsieht, so lange besteht jene Täuschung, so lange
kann er nicht „rein theoretisch oder blos objectiv denken", d. h. er kann
nicht Natur denken, nicht seine eigene Vorgeschichte erkennen, jene Ent
wicklung, in der er selbst noch nicht war, sondern nur angelegt war,
woraus er hervorgeht. „Wenn die Menschen erst lernen werden, rein
theoretisch, blos objectiv. ohne alle Einmischung von Subjectivem zu
denken, so werden sie dies verstehen lernen.'"
Die Vorgeschichte des Bewußtseins enthält die Vorstusen der Ver
nunst, in dieser ausbewahrt, um erinnert, wiedervergegenwärtigt, re»
producirt zu werden. Diese Ausbewahrung nennt Schelling „das
transscendentale Gedächtniß der Vernunst". Die Vernunst reproducirt
ihre Vorstusen, d. h. sie erlennt die Natur. Wie wir ein erlebtes
Object wiedererkennen, sobald es gegenwärtig vor uns hintritt, so er
kennt die Vernunst ihre erlebten Zustände wieder, wenn sie in dauernder
Gegenwart existiren. als sichtbare Objecte ihr Gedächtniß wecken und
beleben. „Die Platonische Idee, daß alle Philosophie Erinnerung sei,
ist in diesem Sinne wahr; alles Philosophien besteht in einem Er
innern des Zustandes, in welchem wir eines waren mit der Natur."
Gewiß, eines der tiessinnigsten Worte Schellings!
Wenn aber das bewußte Erkennen die Reproduction der Natur
und deren höchste Potenz ist, so muß die Natur die Vorstusen der
Erkenntniß enthalten und selbst Erkenntnißproceß in niederer Potenz
sein, selbst empsindend und anschauend. „Nach unserer Weise zu reden,
können wir also sagen: alle Qualitäten seien Empsindungen, alle Körper
Anschauungen der Natur, die Natur selbst eine mit allen ihren Em
psindungen und Anschauungen gleichsam erstarrte Intelligenz. " ^
sophirens, das in der höchsten Potenz - Ich ist, depotenzirt und mit
diesem aus die erste Potenz redueirtem Object von vorn an construirt." ^
2. Die Natur als Subject-Object.
Das Object hat demnach, bevor es sich in das Bewußtsein erhebt,
eine selbständige Realität, es bringt sich und aus sich das Bewußtsein
hervor. Diese bewußtlose Selbstentwicklung (als Prius des Bewußt
seins) ist die Natur. Um dasselbe in der kürzesten Formel auszusprechen,
die Schelling typisch gemacht hat: „die Natur ist Subject-Object".
Als Selbstproduction oder Selbstentwicklung macht sie sich objectiv. eben
darum ist sie Subject-Object, und zwar ist sie es ohne alle Einmischung
des Bewußtseins, daher ist sie „reines Subject Object". Demgemäß
heißt die Frage der Naturphilosophie nicht mehr: „wie entsteht aus
dem Objectiven das Subjective?" sondern: „wie entsteht aus dem reinen
Subject-Object das Subject-Object des Bewußtseins?"
Setzen wir das Subjective gleich dem Idealen, das Objective gleich
dem Realen, so kann statt Subject-Object in der obigen Formel auch
gesagt werden: „das Ideal-Reale". „Mir ist", erklärt Schelling.
„das Objective selbst ein zugleich Ideelles und Reelles, beides ist nie
getrennt, sondern ursprünglich (auch in der Natur) beisammen, dieses
Ideal-Reale wird zum Objectiven nur durch das entstehende Bewußt
sein, in welchem das Subjective sich zur höchsten Potenz erhebt." EK
ist einleuchtend, daß diese höchste Potenz nichts anderes sein kann als
Bewußtsein. Wenn das reine Subject-Object sich objectiv ist, so mutz
es allmählich ganz objectiv werden, d. h. die Natur muß i m Bewußt
sein und darum als Bewußtsein hervortreten. Die Natur in diesem
Sinn, aber auch nur in diesem, ist die nothwendige Bedingung des
Bewußtseins. So muß sie sein, wenn sie reales Erkenntnißobject ist.
oder, was dasselbe heißt, wenn es ein wirkliches Wissen giebt. Darum
konnte Schelling gewissen Einwürsen mit Recht erwiedern. daß er die
Natur als Object nicht voraussetze, vielmehr ableite, daß er überhaupt
nichts voraussetze, als was sich unmittelbar aus den Bedingungen des
Wissens als erstes Princip einsehen laffe, ein ursprünglich zugleich
Sub» und Objectives, durch dessen Handeln zugleich mit der objectiven
Welt als solcher auch schon ein Bewußtes, dem sie Object wird, und
umgekehrt gesetzt werde. Diese Erklärung gilt gegen alle Einwürse,
die in der Naturphilosophie Rücksall in Dogmatismus sehend
Fünsundzwanzigstes Capitel.
Die Naturphilosophie als Ideenlehre.
ich
Ordnung
meine
Wer durchläust,
nach
Schellings
demI. tran«s«noentale
1. Das Iahre
wird
Der
naturphilosophische
nach
neue
1801,
demPrincip
Standpunkt.
eine
Zeitpunkt,
aussallende
Schristen
den wir
in
Veränderung
erreicht
ol« WeKprincip.chronologischer
haben.
be»
das Objective mit „Form" bezeichnet, erklärt er die erste jener Ein
heiten als „die Einbildung des Wesens in die Form (Geburt des Un
endlichen in das Endliche, der Einheit in die Differenz)", die zweite
als „die Auslösung der Form in das Wesen (Wiedereinbildung des
Endlichen ins Unendliche)", die dritte als die untrennbare Vereinigung
beider. Die erste Einheit bildet den innersten Grund der realen Welt
oder der Natur, die zweite den der idealen Welt, die dritte den der
Zusammengehörigkeit beider. Der Inbegriff dieser drei Einheiten ist
die Allheit oder das Universum.
4. Die Ideen.
Das Universum ist demnach die Selbstossenbarung des Ab
soluten, worin von Ewigkeit Natur und Geist eines sind. Die ewige
Welt oder Natur ist wohl zu unterscheiden von der bedingten, sinn
lichen Welt: diese ist das Object des subjectiven Bewußtseins, jene das
des Absoluten, sie ist dessen Gegenbild, die von demselben durchschaute
und erkannte Welt. Sie ist als unabhängig von allem subjectiven
Bewußtsein absolut real; sie ist als Object des Absoluten zugleich
absolut ideal (phänomenal). Hier entsteht in der Schellingschen
Philosophie ein Begriff, der erst jetzt in dieselbe eintreten kann und
völlig dunkel und unverstanden bleibt, wenn er nicht an dieser Stelle
erleuchtet wird. Object sein heißt durch das Wissen bedingt sein. Ver
neint man diese Bedingung überhaupt und nimmt die Dinge unab»
hängig von allem Wissen als Dinge an sich, so ist alle Transscen-
dentalphilosophie ausgehoben und aller Dogmatismus wiederhergestellt;
dann ist das Wissen in jeder Form unmöglich, und es giebt überhaupt
Die Naturphilosophie als Ideenlehre. 4L«
' Vgl. oben Buch II. Cap. XIV. - ' Ideen. Einl. Zusatz. S.W. I. 2. S. 69.
462 Die Naturphilosophie als Ideenlehre.
mittelbar die drei Einheiten aus ihm als besondere hervortreten. Die
erste, welche als Einbildung des Unendlichen in das Endliche in der
Absulutheit sich unmittelbar wieder in die andere, so wie diese sich in
sie verwandelt, ist, als diese unterschieden, die Natur, wie die andere
die ideale Welt, und die dritte wird als solche da unterschieden, wo
in jenen beiden die besondere Einheit einer jeden, indem sie sür sich
absolut wird, sich zugleich in die andere auslöst und verwandelt. Aber
eben deswegen muß auch jede in sich wieder, wenn nämlich jede als
die besondere Einheit unterschieden werden soll, die drei Einheiten
unterscheidbar enthalten, die wir in dieser Unterscheidbarkeit und Unter
ordnung unter eine Einheit Potenzen nennen, so daß dieser allge
meine Typus der Erscheinung sich nothwendig auch im Besonderen und
als derselbe und gleiche in der realen und idealen Welt wiederholt."
„Die reale Seite jenes ewigen Handelns wird offenbar in der Natur:
die Natur an sich oder die ewige Natur ist eben der in das Objective
geborene Geist, das in die Form eingesührte Wesen Gottes, nur daß
in ihm diese Einsührung unmittelbar die andere Einheit begreift. Die
erscheinende Natur dagegen ist die als solche oder in der Besonderheit
erscheinende Einbildung des Wesens in die Form, also die ewige Natur,
sosern sie sich selbst zum Leib nimmt und so sich selbst durch sich selbst
als besondere Form darstellt. Die Natur, sosern sie als Natur,
d. h. als diese besondere Einheit erscheint, ist demnach als solche schon
außer dem Absoluten, nicht die Natur als der absolute Erkenntnißact
selbst (natura nsturans), sondern die Natur als der bloße Leib oder
Symbol desselben (natura naturata). Im Absoluten ist sie mit der
entgegengesetzten Einheit, welche die der idealen Welt ist, als eine
Einheit, aber eben deswegen ist in jenem weder die Natur als
Natur, noch die ideelle Welt als ideelle Welt, sondern beide sind als
eine Welt."
3. Plato und Spinoza. Bruno und Leibniz.
Zwei einander völlig entgegengesetzte Weltanschauungen begegnen
und durchdringen sich hier in der Lehre Schellings, die ihren eigen-
thümlichen Charakter als Entwicklungs- oder Potenzenlehre nicht andert,
nur tieser anlegt und begründet. Daß er die eigene Lehre durch die
Begriffe der natura naturans und natura nsturata so nachdrücklich
charakterissirt, zeigt schon, daß er in einem Grundzuge derselben sich
eines sühlt mit Spinoza: es ist die Betrachtung der Dinge >sud
speoie sererrn«. Alles soll nothwendig solgen aus dem Absoluten,
aus dem ewigen Erkennen. „In der Naturphilosophie sinden Erklä
rungen so wenig statt als in der Mathematik, sie geht von den an
sich gewissen Principien aus, ohne alle ihr etwa durch Erscheinungen
vorgeschriebene Richtung, ihre Richtung liegt in ihr selbst, und je ge
treuer sie dieser bleibt, desto sicherer treten die Erscheinungen von selbst
an diejenige Stelle, an welcher sie allein als nothwendig eingesehen
werden können, und diese Stelle im System ist die einzige Er
klärung, die es von ihnen giebt."'
Der geistesverwandte Zug mit Spinozas Grundanschauung lag
in Schellings Natur, er wurde sich srüh desselben bewußt und blickte
zu Spinoza empor als zu seinem Vorbild. Aber erst jetzt sühlte er sich
gerüstet, aus seinem eigenen Wege, die Methode Spinozas vor Augen,
der Welt ein ähnliches Vorbild zu bieten. Er gab es oder hatte es
schon unter dem eben ausgesprochenen Gesichtspunkt gegeben in jener
Abhandlung, die erst später in den Kreis unserer Darstellung sällt:
„Darstellung meines Systems der Philosophie".
Daß er die Naturphilosophie gleichsetzt der Ideenlehre, zeigt,
daß er in einem Grundzuge seiner Lehre sich eines sühlt mit Plato.
Er wollte beides in einem sein: der deutsche Spinoza und der deutsche
Plato. Selbst seine Darstellungsart wird von jetzt an häusig und ge
flissentlich platonisirend, ost bis zum Feierlichen, was der Erhabenheit
mehr als der Klarheit zu Gute kommt. Auch lag es in der ästhetischen
Zeitstimmung, mit dem größten Künstler-Philosophen zu wetteisern.
Der Gegensatz der Platonischen und Spinozistischen Weltvorstellung
ist in seiner ganzen Stärke von Spinoza empsunden worden. Indessen
gab es vor und nach ihm ausgleichende Anschauungsweisen sehr her
vorragender Natur: als am Ende des sechszehnten Iahrhunderts die
Platonisirende Renaissance sich in Naturalismus verwandelte, und als
am Ende des siebzehnten der Naturalismus der neuern Philosophie
sich mit der Ideenlehre der alten in Uebereinstimmung brachte: das
erste geschah in Giordano Bruno, das zweite in Leibniz.
Wir kennen Schellings ties begründete Sympathie mit der Leib-
nizischen Lehre. „Die Zeit sei gekommen, Leibniz wiederherzustellen",
so lautete eines seiner letzten Worte, bevor er die erste Hand an die
' Ebendas. S. 70. 7l. Vgl. Meine Geschichte der neuern Philosophie. (3. Ausl.)
Bd. I. Theil II. Buch I. Cap. VI. S. 202; Buch III. Cap. I.
4 «4 Allgemeine Naturphilosophie.
Sechsundzwanzigstes Capitel.
Allgemeine Naturphilosophic.
I.Daß
Diewirletzten
Schellings
naturphilosophischen
letzte Abhandlungen naturphilosophischen
Schristen.
' S. W. I. 7. S. 1-126. Vgl. unten Cap. XXVII. Nr. II. — ' Ideen zu
einer Philos. der Natur. Buch I. Cap. VI. Zusatz. S. W. I. 2. S. 177. - 'Apho»
rismen über Naturphilosophie. 0OXI.V.
Allgemeine Naturphilosophie, 4U7
Die Frage geht aus das Verhältniß der Materie zum Absoluten.
Hier sind zwei Aussassungen sogleich abzuweisen: die dualistische und
die emanatistische. Weder ist die Materie der sormlose Stoff, außer
halb des Absoluten, ursprünglich wie dieses - das hieße Gott zum
Architekten machen, das Absolute einschränken und darum verneinen. ^
noch ist sie ein mittelbarer und entsernter Aussluß des letzteren, dann
müßte das Urwesen sich durch eine Reihe successiver Generationen pro-
pagiren und dadurch selbst ausheben. Was daher das Verhältniß des
> Fr. Hildebrandt, Ansangsgründe der dynamischen Naturlehre. (Erlangln
1807.) § 1174. S. 977. Vgl. § 51l. S. 403. - ' Schelling: Ueber das Verhaltm,
de« Realen und Idealen in der Natur u. s. s. S. W. I. 2. S. 359. - ' Ideen einer
Philos. d. Natur. Vuch II, <5ap. IV, Zusatz. S. W. I. 2. S. 223.
Allgemeine Naturphilosophie. 4«S
Absoluten und der Materie betrifft, so giebt es eine salsche Art der
Trennung und in Absicht aus die Stetigkeit des Zusammenhangs eine
salsche Art der Verknüpsung: jene ist der Dualismus, diese die Ema
nationslehre. Es giebt eine wahre Ansicht der Materie, die mißver
ständlich sür Dualismus gilt: die platonische, und es giebt eine dua
listische Vorstellung von Gott und Materie, der die wahre Idee zu
Grunde liegt: die persische Religionslehre.'
Da das Absolute gleich ist dem wahrhast Seienden, und die
Materie zu unterscheiden ist von dem Absoluten, so leuchtet ein, daß
sie begriffen sein will als das nicht wahrhast Seiende, das pla
tonische uH öv. Sie ist darum nicht gleich Nichts, noch weniger etwas
von dem Absoluten Unabhängiges, Substantielles. „Ich nehme", sagt
Schelling, „die Materie weder als etwas unabhängig von der absoluten
Einheit Vorhandenes an, das man derselben als einen Stoff unter
legen könnte, noch auch betrachte ich sie als das bloße Nichts."'
2. Das absolute und relative Sein.
Da das Absolute gleich ist dem wahrhast Seienden, so ist das
nicht wahrhast Seiende gleich dem Relativen, dem in Relationen
stehenden und besangenen Sein. Das Absolute hat durchgängig den
Charakter „lauterer Selbstbejahung", es ist „Selbstassirmation", „Po
sition von sich selbst"; das Relative hat durchgängig den entgegen
gesetzten Charakter der Abhängigkeit von anderem und der Beziehung
aus anderes. Was aus sich begriffen wird, ist absolut; was aus an
derem begriffen wird, ist relativ. Das Außer- und Nacheinander, das
Dasein in Raum und Zeit, das Zeitleben, das Entstehen und Vergehen,
Wechsel und Dauer, Vielheit und Allgemeinbegriffe, Zusammensetzung
und Mischung, äußere Verursachung oder mechanische Causalität sind
sämmtlich Arten der Relation, Bestimmungen der Materie. Was
diesen Bestimmungen unterliegt, ist vergänglich und flüchtig, eben darum
nicht wahrhast seiend: das stellt sein Wesen nicht rein dar, sondern
vermischt mit anderem und dadurch getrübt, es ist Scheinbild, nicht
,i«Zes«, sondern »sirlluIaoi,um«. Nichts anderes wollte Plato mit
seinem Begriffe der Materie als des ^ Sv. Und was die persische
Religionslehre dualistisch ausdrückte, war eben dieser Gegensatz des
' Aphorismen zur Einleitung in die Naturphilosophie. Allg. Anmerkung.
S. W. I. 7. S. 189-194. - ' Ueber das Verhältnis; des Realen und Idealen.
S. W. I. 2. S. 359.
470 Allgemeine Naturphilosophie.
wahrhast Seienden und des nicht wahrhast Seienden, der Fülle und
des Mangels, des Lichts und der Finsterniß u. s. s. Materiell sein
heißt relativ sein.'
3. Das Unendliche und Endliche.
Relativ sein heißt endlich sein. Das Verhältniß des Absoluten
und der Materie ist gleichzusetzen dem Verhältniß des Unendlichen und
Endlichen. In diese Frage legt daher Schelling den Schwerpunkt
seines Problems. „Wichtiger kann wohl keine Untersuchung gedacht
werden, als die über das Verhältniß der endlichen Existenz zum Un
endlichen und zu Gott. Giebt es aus diese Frage keine durchaus klare
und bestimmte Antwort in der Vernunst, so ist die Philosophie selbst
eitel und die Vernunsterkenntniß durchaus unbesriedigend und unbe
sriedigt." „Die Frucht dieser Betrachtung ist die Einsicht, daß das
Endliche ewig nicht wahrhast zu sein vermag, daß nur Unendliches ist,
absolute, ewige Position von sich selbst, welche Gott ist und als Gott All." *
Der Begriss des Absoluten schließt die Erkenntniß desselben, also
die Selbsterkenntniß des Absoluten in sich. In diesem Selbsterkennen
besteht, was die Selbstbejahung. Selbstossenbarung, Subject-Objectivität
des Absoluten genannt wird. Aber Erkennendes und Erkanntes sind
im Absoluten nicht zweierlei, es sind nicht zwei Theile oder Factoren.
in welche das Absolute auszulösen oder woraus es zusammengesetzt
wäre; beide sind von einander so wenig zu trennen als im Kreise
Centrum und Peripherie. Eine solche Trennung wäre die Aushebung
des Kreises. Es kann der Punkt betrachtet werden als eine Kreislinie
von unendlich kleinem Durchmesser, als ein Kreis, in dem Centrum
und Peripherie ungeschieden und ununterscheidbar in Eines zusammen
sallen. So verhält es sich mit der Subjectivität und Objectivität des
Absoluten: sie sind gänzlich eines, absolut identisch/ Diese Identität
ist keine Synthese trennbarer Elemente. Daher kann das Absolute
weder durch Analyse (Abstraction), noch durch Synthese (Deduction)
erkannt werden: die Erkenntniß desselben ist der einsache, ungetheilte
Act der Selbstanschauung, „Speculation" oder „Contemplation
Gottes". „Es läßt sich von Gott nichts absondern, denn eben darum
ist er absolut, weil sich von ihm nicht abstrahiren läßt; es läßt sich
nichts herleiten aus Gott, als werdend oder entstehend, denn eben
' Aphor. z, Einl. in die Naturphilos. §§ 104, 107, 108 (Schluß), 110-114.
119-124, 133-135. 142-147. 152. Aphor. über Naturphilos. XXI. - ' Aphor.
z. Einl. § 161. Allg. Anm. S. W, I. 7. S. 174. 189. - ' Aphor. z. Einl. § 71.
Allgemeine Naturphilosophie. 471
identisch sind Gottes Erkennen und sein Erkanntsein. Ienes ist die
Vernunst, dieses die Idee Gottes; daher gilt die Gleichung: Ver
nunst ^ Idee Gottes. „Die Vernunst hat nicht die Idee Gottes,
sondern sie ist diese Idee, nichts außerdem." ^ In dieser Idee ist
alles von Ewigkeit begriffen, sie ist das Alleine. Was von Ewigkeit
solgt, das ist ewig; daher ist aus dem göttlichen Sein alles Entstehen
und Vergehen, alle Genesis in zeitlichem Sinn ausgeschlossen. Gott
wird nicht, er ist.^
Die Idee Gottes ist gleich dem All. Hier ist der Punkt des
Problems: All ist Totalität, in sich vereinigend unendliche Mannich-
saltigkeit, die Idee Gottes ist eine; woher in dieser Idee die unend
liche Mannichsaltigkeit? Dies erhellt aus dem Begriff des Absoluten.
Das göttliche Sein ist völlig identisch mit dem Act der Selbstoffen-
barung, des sich selber Wollens. „Das Wesen des Absoluten", sagt
Schelling, „dars nicht von dieser Lust (sich selbst zu offenbaren) ver
schieden gedacht werden, sondern als eben dieses sich selber Wollen."
„Das Absolute ist aber nicht allein ein Wollen seiner selbst, sondern
ein Wollen aus unendliche Weise, also in allen Formen, Graden und
Potenzen der Realität. Der Abdruck dieses ewigen und unendlichen
sich selber Wollens ist die Welt."
Ieder Grad des sich selber Wollens ist eine Selbstbejahung oder
Position seiner selbst. Daher muß die Idee Gottes eine unendliche
Mannichsaltigkeit solcher Selbstbejahungen oder Positionen in sich
schließen. „Gott ist die unendliche Position von sich selbst heißt: Gott
ist unendliche Position von unendlichen Positionen ihrer selbst. "° Iede
dieser Positionen ist ein Wesen sür sich, eine göttliche Idee. Daher
ist das Absolute krast seiner Selbstbejahung oder Selbstoffenbarung
unendliche Fülle, begriffen in absoluter Einheit, d. h. All. Die Idee
Gottes ---- Ideenwelt.
' Ebendas. 67, 80. - ' Ebendas. 47, 48. - ° Ebendas. §§ 76. 77. -
' Ueber das Verhaltniß des Realen und Idealen u. s. s. S. W. I. 2. S. 362. -
° Aphor. z. Einl. in die Naturphilos. § 83.
472 Allgemeine Naturphilosophie,
scheinung noch Ideen sind, sind sie Körper, die zugleich Welten sind,
d. h. Weltkörper. Das System der Weltkörper ist demnach
nichts anderes als das sichtbare, in der Endlichkeit erkenn
bare Ideenreich." „Das Verhältniß der Ideen zueinander ist, daß
sie in einander sind und doch jede sür sich absolut ist. daß sie also
abhängig und unabhängig zugleich sind, ein Verhältniß, das wir nur
durch das Symbol der Zeugung ausdrücken können. Unter den Welt-
lorpern wird demnach eine Unterordnung stattsinden, wie unter den
Ideen selbst, nämlich eine solche, welche ihre Absolutheit in sich nicht
aushebt. Für jede Idee ist diejenige, in der sie ist, das Centrum ;
das Centrum aller Ideen ist das Absolute. Dasselbe Verhältniß drückt
sich in der Erscheinung aus. Das ganze materielle Universum ver
zweigt sich von den obersten Einheiten aus in besondere Universa, weil
jede mögliche Einheit wieder in andere Einheiten zersällt, von denen
jede als die besondere nur durch sortgesetzte Disserenzirung erscheinen
kann." ^ An einer srüheren, mit dieser zu vergleichenden Stelle heißt
es: „Die Weltkörper gehen aus ihren Centris hervor und sind ebenso
in ihnen, wie Ideen aus Ideen hervorgehen und in ihnen sind, ab
hängig zugleich und doch selbständig. In dieser Unterordnung
eben zeigt sich das materielle Universum als die ausgeschlos
sene Ideenwelt." »
6. Das göttliche Band der Dinge.
Ist die Naturphilosophie, wie Schelling in seinem ersten Zusatz
dargethan, gleich der Ideenlehre, so muß das Object der Naturphilo
sophie, das materielle Universum, gleich sein der erkennbaren Ideen
welt. ^ Daß diese erkennbare Ideenwelt auch in Wahrheit erkannt
wird oder sich erkennt, ist das der Welt eingeborene Thema und
Problem, nur lösbar in dem Proceß der Entwicklung, der von der
tiessten Stuse der Bewußtlosigkeit emporsteigt zur höchsten und voll
kommensten Erkenntniß. Die Selbsterkenntniß als ewige Selbstoffen
barung ist das Absolute; die Selbsterkenntniß als Entwicklungsproceß
ist die Welt, ist die Materie, „das Samenkorn des Universums".
Und daß die Selbstoffenbarung wieder offenbar wird, darin liegt der
Grund, der die ewige Natur (Ideenwelt) einsührt in die zeitliche und
' Ideen. Buch II, Cap. I. Zusatz. S. W. I. 2. S. 187-139. - ' Ebendas. II.
Eap. II. Zusatz. S. W. I. 2. S. 110 ff. Vgl. Aphor. z. Eml. 8 202. - « Ideen.
Zusatz zur Einleitung. S. W. I. 2. S. 69. S. oben Cap. XXV. Nr. II. S. 460-464.
474 Allgemeine Naturphilosophie.
sammen den schönen Schein des Lebens hervor und vollenden das
Ding zu dem eigentlich Realen, das wir so nennen. Das Licht
wesen ist der Lebensblick im allgegenwärtigen Centro der Natur; wie
durch die Schwere die Dinge äußerlich eins sind, ebenso sind sie in
dem Lichtwesen als in einem innern Mittelpunkt vereinigt." „Der
beiden Principien ewiger Gegensatz und ewige Einheit erzeugt erst als
Drittes und als vollständigen Abdruck des ganzen Wesens jenes sinn
liche und sichtbare Kind der Natur: die Materie."'
Siebenundzwanzig st es Capitel.
Die beiden Entwicklungsformen der Naturphilosophie.
wir nicht, daß dieser Unterschied auch in der Darstellungsart, der Sti-
lisirung der tieser gegründeten Weltanschauung, der Gemüthsstimmung
des Philosophen, die den Ideengang begleitet, aus sehr bemerkenswerthe
Weise sich ausprägt. In beiden Phasen ist der Charakterzug und die
Grundstimmung der Naturphilosophie pantheistisch, aber in der ersten
Entwicklung erscheint dieser Grundzug naturalistisch, in der späteren
religiös. Dieser unverkennbare Unterschied erklärt sich aus der Art
der Begründung: dort sällt die Natur mit dem göttlichen Leben zu
sammen, hier ist sie die Offenbarung der göttlichen Ideenwelt; dort ist
Gott gleich der «stura naturalis, hier ist er als das Absolute, als
der Wille sich selbst zu offenbaren, deren geistiger Urgrund. Ienes
„epikurische Glaubensbekenntniß Heinz Widerporstens," das Fr. Schlegel
„einen neuen Ansall von Schellings altem Enthusiasmus sür die Ir-
religion" nannte, war ein charakteristischer Ausdruck des naturalistisch
angelegten und empsundenen Pantheismusd Das Gedicht steht hart
' Ueber das Verhältniß des Realen und Idealen. S. W. I. 2. S. 367- 3K9.
Vgl. Aphor. über Naturphilos. I.lX. «XXXVIII. <ZI.XXIl-«1.XXX. - « S.
oben Buch I. Cap. IV. Vgl. Zeitschr. sür spec. Physik. Bd. I. Hest «. (1800.) Misc.
L. S. Sch. selbst bezieht das hier veröffentlichte Bruchstück aus den Schlus;para»
der Naturphilosophie. 477
durch Honig oder Zucker auszuhelsen suchen. Wohl erkenne ich etwas
Höheres denn Wissenschast, aber was ihr davon saget, redet ihr nicht
von euch selbst: aber hat man darum das Höhere erreicht, weil man
in der Wissenschast stümpert? So gewiß, als jemand ein trefflicher
Dichter ist, weil er schlechte Prosa schreibt. Die ihr Bewußtsein am
meisten verurtheilt, Schüler zu sein, schreien am lautesten über den
Zwang der Schule, und Vortheil suchende Bewerber aller Art pflanzen
sich in die Naturphilosophie nicht anders, wie die übermüthigen Prasser
in das Haus des Odysseus: kein Wunder, wenn zuletzt selbst sreche
Bettler, die ärmer an Geist sind, wie Irus an Habe, den, von dessen
Tische sie noch immer den Absall verzehren, zum Faustkamps heraus
sordern." „Lange habe ich vor Gegnern und andern Eisen und Bogen
hingestellt, ob sie durchschießen: das Folgende wird zeigen, ob sie den
Bogen zu spannen vermocht haben."' „Ich habe nichts gethan als
das Element hergegeben zu einer endlos möglichen Bildung. Nie wird,
es müßte denn die ganze Zeit sich wandeln, Philosophie wieder die
ewige Beziehung aus die Natur von sich ausschließen können und mit
dem einseitigen Abstractum der intelligenten Welt das Ganze umsassen
wollen. Ob ich eine Schule will? Ia. aber wie es Dichterschulen
gab. So mögen gemeinschastlich Begeisterte in gleichem Sinn sort
dichten an diesem ewigen Gedicht. Gebt mir einige der Art, wie ich
sie gesunden habe, und sorgt, daß auch in der Zukunst Begeisterte nicht
sehlen, und ich verspreche euch einst noch den "ll^po? (das einigende
Princip) auch sür die Wissenschast."'
In der letzten Schrist dieser Zeit, den „Kritischen Fragmenten",
redet er von der Naturphilosophie wie von dem Worte des Lebens,
kurz und verkündend: „Gottes Dasein ist eine empirische Wahrheit, ja
der Grund aller Ersahrung. Wer dies gesaßt hat und innig erkannt,
dem ist der Sinn ausgegangen sür Naturphilosophie. Sie ist keine
Theorie, sondern ein reales Leben des Geistes in und mit der Natur,
das sich aus eine ebenso unendliche Weise äußern und darstellen kann
als die Natur selbst. Darum so jemand zu dir sagen wird: hier ist
sie oder da, so glaube es ihm nicht; wenn sie zu dir sagen: siehe,
sie ist in der Wüste, so gehe nicht hinaus; siehe, sie ist im Buchstaben
oder Wort, so glaube es ihm nicht." „Die Natur weiß nicht durch
Wissenschast, sondern durch ihr Wesen oder aus magische Weise. Die
daselbst
' Aphor.
§§27,z.28.
Einl. in die Naturphilos. §§ 4-19, 20. 23-26, 29. - ' Eben»
480 Die beiden Entwicklung«sormen
II. Anti-Fichte.
I. Das Thema der Streitschrist,
In der Schrist gegen Fichte* ist alles schars und bestimmt, die
religiös erhabene Stimmung, welche die letzten Aussätze der Natur
philosophie beherrscht, weicht hier dem Harnisch; der sachliche und
persönliche Gegensatz ist bis zu einem Grade gestiegen, der von Schel
lings Seite einen polemischen Abschluß verlangt und denselben um so
rücksichtsloser aussallen läßt, als Fichte in einer Reihe von Angriffen
Schelling herausgesordert und schwer gereizt hatte. In seinen popu
lären Vorlesungen über die Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters,
das Wesen des Gelehrten, die Anweisungen zum seligen Leben (1804
bis 1806). welche Schelling die „Fichtesche Trilogie" und spöttisch „die
Hölle, das Fegeseuer und das Paradies der Fichteschen Philosophie"
nennt/ war die Naturphilosophie (ohne den Namen des Urhebers zu
nennen) als die ohnmächtige Schwärmerei eines versallenden Zeitalters,
als das verzerrte Gegenbild einer schlechten Ausklärung, als eine un
echte, der Ersahrung widerstreitende Speculation, als eine religionsver
derbliche Vergötterung der Natur wiederholt vorgesührt und gegeißelt
worden. Dem Lichte der Wissenschastslehre gegenüber ist sie das aus
dem Sumpse des Dogmatismus wieder ausgestiegene Irrlicht, welches
Fichte mit dem Hauch seiner Rede auszulöschen denkt/
Mit der sortschreitenden Naturphilosophie, in dem Iahrzehnt von
1797-1807. wächst der Abstand beider Philosophen und erweitert sich
zur Klust. Im Ansang steht Schelling dicht neben Fichte, am Ende
neigt er sich zu Baader; im Wendepunkt seiner Entwicklung, als er
seine neue Lehre vom All ausstellt (1801), glaubt er nicht mehr an
ein vorhandenes, wohl aber an ein künstiges Einverständniß mit Fichte;
jetzt hält er jede Gemeinschast mit ihm sür unmöglich.
' Vgl. oben Buch I. Cap. XI. S. 140 ff. - ' Vgl. oben Buch II. Cap. XXVI.
E. 465 ff. - « Ueber das Verh. der Naturphilosophie zur verbesserten Fichteschen
Lehre. S. W. I. 7. S. 4 u. 87. - « Vgl. dieses Werk Bd. V. < 2. Ausl.) Buch I V.
Kap. IV. S. 693-94 Anmerkg. Vgl. oben Buch I. Cap. XI. S. 142-I4S.
«. Fischer. Gesch. d. Philos. VI> »>
482 Die beiden Entwicklungssormen
und Princip, sie erscheint auch als religiöser Pantheismus, als eine
neue Religionslehre. Was die vertieste Naturphilosophie allein leisten
zu können behauptet, will die vertiefte Wissenschastslehre ebensalls ge
leistet haben. Und zwar, um den Wettstreit vollkommen zu machen,
treten diese gleichen, einander entgegengesetzten Ansprüche gleichzeitig
aus. Daher ist das Thema der Schellingschen Polemik „das Verhältniß
der Naturphilosophie zur verbesserten Fichteschen Lehre". '
Diese „Verbesserung" ist Schellings polemisches Ziel, sie solge
nicht aus der Wissenschastslehre, sondern aus der Naturphilosophie, sie
sei neuer Wein in alten Schläuchen, ein srischer Lappen aus altem
Kleide, daher nichts Besseres, sondern das Schlimmste: zugleich eine
Inconsequenz und ein Plagiat oder wenigstens eine Nachbildung. Was
Schelling seit 1801 lehre, habe Fichte einzeln an sich gebracht und
mache daraus im Iahr 1806 Anweisungen zum seligen Leben, er wolle
säen, wo er nicht gepflanzt, er habe in die eigene Lehre ein völlig
heterogenes, ihr widerstreitendes Element ausgenommen, „wie wenn
jemand dem altdorischen Säulenstamm das Haupt mit Akanthusblättern
korinthischer Ordnung umlauben wollte". ^
2. Die Geltung der Natur bei Fichte.
Diese verbesserte Fichtesche Lehre sei „Synkretismus", unkritische
Mischung alter und neuer Ideen, „Christus und Belial", „Iohannes
und Fichte" (eine Anspielung aus das Iohanneische Christenthum in
den Anweisungen zum seligen Leben). Die neuen Ideen seien nur die
Larve, um die ursprüngliche Mißgestalt des eigenen Systems zu ver
bergen. ^ Hinter diesem Ausputz bleibe alles beim Alten. Es giebt ein
Kriterium, eine Probe, durch welche sich aus das Deutlichste erkennen
lasse, ob eine Philosophie echter oder unechter, wahrer und absoluter
oder blos subjectiver und relativer Idealismus, ob sie Wissenschasts
lehre oder Identitätslehre sei. Diese Probe ist der Begriss einer selb
ständigen, lebendigen Natur: ob dieser Begriff sehlt oder nicht, ob
die Philosophie diese lebendige Naturanschauung hat oder nicht? In
der Fichteschen Philosophie sehlt diese Anschauung völlig, nach wie vor.
Dieses Unvermögen, Natur zu erkennen, beweist, daß sich im Innern
' Ueber das Identitätsprincip in der Wissenschastslehre und die beiden Ent
wicklungssormen der letzteren vgl. Bd. V. <2. Ausl,) Buch IV. Cap. I. S. 639-643.
Cap. X. S. 779-789. - > Verhältnis der Naturphilosophie zur verbesserten Fichte,
schen Lehre. Vorbericht. S. W. I. 7. S. 15. - ' Ebendas. S. 3 u. S. 28.
4^4 Die beiden Entwicklungssormen
dieser Lehre gar nichts geändert hat und andern kann. Nach wie vor
gilt die Natur als das, was nicht ist, aber sein muß : als die Schrank,
die Hemmung, ohne welche kein Fortschritt, keine Entwicklung statt
sinden kann. Die Natur muß sein, um gebraucht und vertilgt zu
werden; sie wird lediglich aus den gemeinen äußeren Zweck angesehen
und beurtheilt. Die Würmer haben keine Augen, damit sie blind sind.
Das ist Fichtesche Naturphilosophie! Die Natur ist ihm kein wirkliches
Object, aus diese Natur kann man so wenig wirken, als man sich den
Kops einstoßen kann an den Winkeln einer geometrischen Figur. Diese
Natur ist todt und vernunstlos, bloßes Mittel sür die persönliche
Freiheit, welche nach wie vor die Basis aller Realität ist und bleibt;
daher das rohe Anpreisen der Sittlichkeit und Sittenlehre, darum roh.
weil maßlos. Nach wie vor bleibe der gemeine Nutzen, das ökonomisch
teleologische Princip der einzige Maßstab, nach dem Fichte die Natur
schätze. Der Mangel der Naturanschauung ist der Grund des Natur-
hasses, „der Grund der geistigen Gemeinheit aller Art", der unvertilg-
bar gemeine Grundton in Fichtes Natur, der ihn gleich mache den
Malvolios des Lebens und der Schönheit der Welt. ' Dieses Ich und
diese Natur passen zusammen. Für dieses Ich kann die Natur nichts
weiter sein als ein todtes Mittel oder ein zu ertödtendes Leben, als
ein Object des mechanischen Nutzens oder der moralischen Askese. Die
hölzerne Welt und der gekreuzigte Leib! „Ist das Kreuz von Holz
erst tüchtig gezimmert, paßt ein lebendiger Leib sreilich zur Strase
daran." „Die Naturkräste und die Natur sind das eigentlich und
immer Abscheuliche, ein Geist, versteht sich, ein reiner Geist kann doch
noch, wie in der Bestimmung des Menschen. Kinderlehre mit einem
halten." „In allem verräth sich kein höheres Gesühl der Natur als
das der rohsten und verrücktesten Asketen." Und außer der Askese
wird die Natur angesehen nur aus das Mechanische und Nützliche.
Echte Bereitung des Berliner Blau - wenn die Naturphilosophie so
etwas noch a priori deducirte! Fichte sei in der Physik und Philo
sophie ein bloßer Mechaniker, dessen Geist nie eine Ahnung von dem
dynamischen Leben erleuchtet habe. Er verhalte sich zur Natur, wie
sich zur Musik verhalten nicht die Musiker, sondern die Musikanten,
die über dem Mittel den Zweck vergessen. In diesem Sinn solle man
auch, hatte Lichtenberg gesagt, Physiker und Physikanten unterscheiden.*
sophie erhebt, läßt Schelling in seiner ganzen Stärke aus den Gegner
zurücksallen. Sowohl der Charakter seiner Lehre als auch die Art, wie er
sie verbreiten und zur Geltung bringen möchte, zeigen den Schwärmer.
Die Widersacher des Wirklichen und Positiven, die das Leben veröden,
weil sie es nicht erkennen, seien die blindesten Schwärmer. Dahin ge
hören die Naturstürmer, wie die Bilderstürmer. Und dieses Be
streben, alle Natur auszurotten, die eigene unbiegsame Subjectivität
als allgemein gültig auszudrängen, diese bauernstolze Unempsindlichkeit
sür alles, was seinen Horizont übersteige, sei die Sache Fichtes und
seiner Lehre. Er sei nur darin kein Schwärmer, daß ihm das Posi
tive schwärmerischer Naturen sehle: die Naturkrast! ^
' Ebendas. S. I0S. - ' Ebendas. S. 97. Vgl. dieses Werk Bd. V, (2. Ausl.)
Buch II. Cap. III. S. 275-76. - » Ueber das Verh. der Naturphilos. zur ver»
besserten Fichteschen Lehre. S. W. I. 7. S. 44-48, 51.
4": Tic beiden Entwicklungssormen
nannter Schwärmer nicht, sondern will ihn noch laut bekennen und
mich rühmen, von ihnen gelernt zu haben, wie auch Leibniz gerühmt
hat, sobald ich mich dessen rühmen kann. Meine Begrisse und An
sichten sind mit ihren Namen gescholten worden, schon als ich selbst
nur ihren Namen kannte. Dieses Schelten will ich nun suchen wahr
zu machen: habe ich bisher ihre Schristen nicht ernstlich studirt, so ist
es keineswegs aus Gründen der Verachtung geschehen, sondern aus
tadelnswert her Nachlässigkeit, die ich mir serner nicht will zu Schulden
kommen lassen. Der alte Vertrag unter den Gelehrten ist erloschen
und bindet uns nicht mehr, denn sie haben ihn selbst durch ihr Thun
an uns gebrochen, und es ist in allewege ein neuer Bund."> „Iene
einsache Zeit der Kantischen Scholastik ist vorüber." „Die Vorzeit hat
sich wieder ausgethan, die ewigen Urquellen der Wahrheit und des
Lebens sind wieder zugänglich." „Es regt sich in allem Ernst eine in
Bezug aus die zunächst vorhergegangene völlig neue Zeit, und die alte
kann sie nicht saffen und ahndet nicht von sern, wie schars und lauter
der Gegensatz sei." „Fichte ist die philosophische Blüthe der alten
Zeit und insosern allerdings ihre Grenze; sie liegt wissenschastlich aus
gesprochen in seinem System, welches in dieser Hinsicht ein ewiges und
dauernderes Denkmal bleiben wird, als was er jetzt, absallend von
jener, weiter zu produciren versuchen mag. Hat ihn die Zeit gehaßt,
so ist es. weil sie die Krast nicht hatte, ihr eigen Bild, das er, kräftig
und srei, ohne Arg dabei zu haben, entwars, im Reslex seiner Lehre
zu sehen."'
Wir lassen die 4.Aussälle
Die Bedeutung
der persönlichen
der Streitschrist.
Polemik unerörtert. Daß
an diesen Ausspruch und konnte aus dem Ersolge seststellen, daß diese
Gnade Fichten nicht verliehen worden.^ Aber auch Schelling gehörte
sür den ähnlichen Fall nicht unter die Begnadigten.
Indessen hat seine Streitschrist gegen Fichte eine von aller per
sönlichen Erbitterung unabhängige, geschichtlich denkwürdige Bedeutung.
Es ist wahr, daß Fichte und seiner Lehre ein Organ sehlt: der Sinn
sür Natur, sür das Naturgemäße und Naturmächtige auch in der
sittlichen Entwicklung. Dieses Organ besitzt die Naturphilosophie und
weckt es aus allen Gebieten. Sie beginnt deshalb in Beziehung aus
die nächst vorhergegangene wirklich eine neue Zeit. In dieser Rücksicht
dars die Schrist gegen Fichte wie ein Denkmal gelten, welches die
Grenze bezeichnet. In keiner Schrist ist jener im Grunde der Fichte
schen Philosophie enthaltene Mangel s° klar und grell erleuchtet wor
den, wie in dieser. Ein solches Urtheil an Fichte und seiner Lehre zu
vollziehen, hatte niemand ein so ausgemachtes und herausgesordertes
Recht als Schelling. Es handelt sich um eben den Punkt, in welchem
die Antithese beider Männer und ihrer Anschauungsweisen sich voll
kommen darstellt. Hier tressen Fichtes Mangel und Schellings Stärke
unmittelbar gegen einander. Und Schelling empsand sein Werk als
eine siegreiche That. „Ich halte diese Schrist", schrieb er an Windisch-
maim, „sür eine meiner besten und tüchtigsten." ^
Alle Fragen, welche die Differenz beider Standpunkte betreffen,
kommen hier wieder zur Sprache, in der kürzesten und deutlichsten Form:
das Verhältniß des Erkennens zum Sein, des Unendlichen zum End
lichen, der Begriff der Materie und der Welt, des göttlichen Bandes
der Dinge, das vom Bewußtsein unabhängige Reale, die Realität der
Natur und das Dasein der Dinge an sich.^
In dieser Beziehung dars die Schrist gegen Fichte nicht blos als
ein Abschluß, sondern zugleich als ein Commentar zu den Abhandlungen
gelten, die wir unter dem Namen »allgemeine Naturphilosophie' zu
sammengesaßt haben.
Die beiden Entwicklungssormen der Naturphilosophie sind ge
schieden durch das Identitätssy stem. das aus der ersten hervorgeht
und selbst die zweite sowohl begründet als auch umsaßt.
> Ebenbas. S. 48. 117 ff.. 124. - ' Vgl. oben Buch I. Cap. XI. s. 143. -
' Ueber das Verhältniß der Naturphilosophie zur verbesserten Fichteschen Lehre,
S. W. I. 7. S. 52-63, 89 u. 90 Anmerlung. S. 96 u. 97.
Dritter Abschnitt.
Die Identitätsphilosophie.
491
Achtundzwanzigstes Capitel.
Das System des transscendentalen Idealismus.
sophie, sondern nur die eine Grundwissenschast desselben soll hier aus
gestellt werden." i
3. Die Probleme des transscendentalen Idealismus.
Aus der Gesammtausgabe der Transscendentalphilosophie im
Unterschiede von der Naturphilosophie lassen sich die Hauptprobleme
der ersten erschöpsend vorausbestimmen. Es soll gezeigt werden, wie
die Intelligenz (das Subjective) zu dem Objectiven kommt, das mit
ihr übereinstimmt. Diese Uebereinstimmung ist eine doppelte: die Vor
stellungen verhalten sich zu den Objecten (Dingen) entweder als deren
Abbilder oder als deren Vorbilder. Im ersten Falle richten sich die
Vorstellungen nach den Dingen, im zweiten verhält es sich umgekehrt;
dort erscheinen die Vorstellungen als bestimmt durch die Natur der
Objecte, hier die Objecte als bestimmt durch den Gedanken; die Vor
stellungen der ersten Art entstehen nothwendig und unwillkürlich, die
der zweiten willkürlich und srei; „aus jenen beruht die Möglichkeit
alles Wissens, aus diesen die alles sreien Handelns; das Wissen solgt
aus der nachbildenden, das sreie Handeln aus der vorbildenden (zweck
setzenden) Intelligenz: die Uebereinstimmung des Subjectiven und Ob
jectiven vermöge der nachbildenden Intelligenz ist theoretisch, die ver
möge der vorbildenden praktisch. Die Transscendentalphilosophie soll
diese beiden Arten der Uebereinstimmung erklären: daher theilt sie sich
in „das System der theoretischen und das der praktischen Philosophie".^
Aus diesen beiden Ausgaben solgt eine neue. Die zu erklärende
Uebereinstimmung ist nicht blos eine doppelte, sondern ihre beiden
Arten sind einander entgegengesetzt. Die vorbildende Intelligenz ist
das Gegentheil der nachbildenden. Hier sind die Vorstellungen ab
hängig und nothwendig, dort unabhängig und willkürlich; die theore
tische Intelligenz richtet sich nach den Dingen, die praktische richtet die
Dinge nach sich, die Vorstellungen der ersten sind gesesselt, die der
anderen srei. Es ist demnach in der Intelligenz selbst, die sich ebenso
sehr theoretisch als praktisch verhalten muß, ein innerer Widerstreit,
der gelöst sein will und zwar innerhalb der Intelligenz. Daher wird
gesragt: wie kann die Intelligenz beides zugleich sein, sowohl nach
bildend als vorbildend? Wenn sie das erste nicht ist, nicht ihre Vor
stellungen nach den Dingen richtet, so giebt es keine Wahrheit im
' Ebendas. Einleitung § l. S. 341 ff. § 2. Folgesätze. S. 342 ff. - ' Ebendas.
Einleitg. § 3. .V. «. S. 346 ff.
494 Das System des transscendentalen Idealismus.
Erkennen; wenn sie das zweite nicht ist, nicht die Dinge durch ihre
Vorstellungen determinirt, so giebt es keine Realität im Wollen.
Wie ist beides zugleich möglich: Wahrheit im Erkennen und Realität
im Wollen?
Iene Uebereinstimmung der Dinge und Vorstellungen (der Natur
und Intelligenz, des Objectiven und Subjectiven) durch eine vorher
bestimmte Harmonie erklären, heißt die Frage nicht lösen, sondern aus
eine letzte Formel zurücksühren, welche die einzig mögliche Lösung be
zeichnet. Es muß ein und dieselbe productive Thätigkeit sein, welche
Objecte bildet, nachbildet, vorbildet, ein und dieselbe Thätigkeit im
bewußtlosen Bilden und im bewußten Wollen. Diese Identität des
bewußtlosen und bewußten Handelns, der Natur und Intelligenz, des
Erkennens und Wollens ist der Grund, woraus jene vorherbestimmte
Harmonie solgt. Eben diese Identität waltet in der Natur, in der
Production der Dinge, wie in der subjectiven Intelligenz, in der Pro
duction der Vorstellungen.
Die bewußtlose Thätigkeit ist blind und handelt mechanisch, die
Intelligenz (Wille) ist bewußt und handelt nach Zwecken. Die Iden
tität beider ist die blinde Intelligenz, der bewußtlose Wille, dessen
Producte zugleich Werke des blindesten Mechanismus sind und zweck
mäßig aussallen: sie sind zweckmäßig bestimmt, aber nicht zweckmäßig
erklärbar. So handelt die organische Natur nach blinden Zwecken,
in Einem vorbildend und darstellend. Die Einsicht in diese productive
Thätigkeit der Natur ist die „Philosophie der Naturzwecke oder
Teleologie".
Dieselbe Production als Identität des theoretischen und praktischen
Verhaltens ist nachzuweisen in der subjectiven Intelligenz, im Bewußt
sein. Hier ist es allein die ästhetische oder künstlerische Thätig
keit, die aus der Höhe des Bewußtseins sich ossenbart und in ihrer
Wurzel identisch ist mit der schaffenden Natur. Die idealische Welt der
Kunst und die reale Welt der Objecte sind Producte »einer und der
selben Thätigkeit, die bewußtlos schaffend die wirkliche Welt der Natur
hervorbringt, bewußt schaffend die ästhetische Welt der Kunst. Die
ganze Welt ist ein lebendiges Kunstwerk. „Die objective Welt ist nur
die ursprüngliche, noch bewußtlose Poesie des Geistes." Es muß ge
zeigt werden, wie durch die künstlerische Thätigkeit der Widerstreit der
theoretischen und praktischen Intelligenz gelöst und das Object erzeugt
wird, das vollkommen eines ist mit der Intelligenz. Die Lösung
Das System des transscendentalen Idealismus. 495
dieser Ausgabe ist die Philosophie der Kunst. In der Kunst ent
hüllt sich die Identität des Idealen und Realen, das Geheimniß der
Welt; hier sehen wir, wie das Ideale sich verkörpert, wie die Intelligenz
die Natur hervorbringt. Darum nennt Schelling die Philosophie der
Kunst „das allgemeine Organon der Philosophie, den Schlußstein ihres
ganzen Gewölbes". ^
Das System des transscendentalen Idealismus theilt sich demnach
in das System der theoretischen Philosophie, das der praktischen und
die Philosophie der Kunst: die theoretische Intelligenz ist welterken
nend, die praktische weltordnend, die künstlerische weltschaffend.
2. Das Selbstbewußtsein.
Hieraus erhellt das Princip der Transscendentalphilosophie , das
kein anderes sein kann als die Bedingung, durch welche allein intel-
lectuelle Anschauung stattsindet: nämlich eine Intelligenz, die nicht blos
in Wirklichkeit ist und handelt, sondern zugleich sich selbst in ihrem
Handeln anschaut, zugleich ihr Sein und Wirken weiß, zugleich, was
sie setzt, auch erkennt. Weil es ein und dieselbe Intelligenz ist. die
wirkt und anschaut, real und ideal ist: darum ist die Einheit dieser
beiden Factoren Identität; weil hier die Einheit nicht blos im
Wissen, sondern zwischen Sein und Wissen, zwischen Realität und
Idealität besteht, darum ist diese Identität zugleich Synthese. Diese
zugleich identische und synthetische Einheit ist Selbstanschauung,
Selbstbewußtsein oder Ich. Hier sind wir im Princip und Ele
ment der Wissenschastslehre und werden in den umständlichen Aus
sührungen an Fichtes Deductionen erinnert und Schellings erste
Schriften „Ueber die Möglichkeit einer Form der Philosophie über
haupt" und „Vom Ich als Princip der Philosophie oder über das
Unbedingte im menschlichen Wissen". ^
3. Die Geschichte des Selbstbewußtseins.
Aus dem Princip solgt die Methode. Was das Ich ist, muß
es sür sich sein: erst dadurch wird, was es ist, zum Ich. Was die
Intelligenz thut, muß sie intelligiren : erst dadurch wird, was sie thut,
Intelligenz. Dadurch bestimmt sich ihr Wesen und zugleich das
durchgängige Gesetz ihrer Entwicklung. In dem Princip der Selbst
anschauung liegt eine nothwendige Reihe von Handlungen. Weil das
Ich lautere Thätigkeit ist, muß es handeln; weil es anschauend ist,
muß es seine Thätigkeit reslectiren und dadurch begrenzen. Von dieser
Reflexion (Begrenzung) abgesehen, ist die ursprüngliche (reale) Thätig
keit unbegrenzt und geht ins Unendliche. Mithin sind im Ich zwei
entgegengesetzte Thätigkeiten, die unbegrenzte und begrenzende, die
productive und anschauende, die reale und ideale. Iede nothwendige
Reihe wird srei begonnen und sortgesührt, aber die Willkür dars nur
sormell sein nnd nicht den Inhalt der Handlung bestimmen. Die
Philosophie, weil sie das ursprüngliche Entstehen des Bewußtseins zum
Object hat, ist die einzige Wissenschast, in welcher jene doppelte Reihe
ist. In jeder anderen Wissenschast ist nur eine Reihe. Das philo
sophische Talent besteht nun eben nicht allein darin, die Reihe der ur
sprünglichen Handlungen srei wiederholen zu können, sondern haupt
sächlich darin, sich in dieser sreien Wiederholung wieder der ursprüng
lichen Nothwendigkeit jener Handlungen bewußt zu werden." Alle
transscendentale Erkenntniß ist Wiederbewußtsein, Anamnesis.'
Die Ausgabe des transscendentalen Idealismus ist einleuchtend.
Die nothwendige Entwicklung des Ich soll reproducirt oder dargestellt
werden in einer successiven Reihe von Handlungen, d. h. als „Ge
schichte des Selbstbewußtseins". So hatte auch Fichte eben diese
Ausgabe bestimmt. Nun ist jene Entwicklung selbst nur in ihren
Hauptstusen und Wendungspunkten, d. h. in denjenigen Handlungen
erkennbar, welche in der Geschichte des Selbstbewußtseins gleichsam
Epoche machen. Diese Handlungen sind hervorzuheben und in ihrem
Zusammenhange darzustellen. '
Neunundzwanzig st es Capitel.
Vas System der theoretischen Philosophie.
' Ebendas. III. Hauptabschn. Nr. II. l. S. 397 ff. - Vgl. oben Cap.XXI V.
S. 632 ff. - ' Tr. Ideal. III. Hauptabschn. Nr. II. 4. S. 398 ff.
500 D»s System ber theo«tischen Philosophie.
sür eine von außen gegebene, was nothwendig dadurch geschieht, dasz
die Intelligenz im Setzen der Schranke ihrer eigenen Thätigkeit sich
nicht bewußt ist, daß sie unbewußt handelt. Iene zu erklärende „Idea
lität der Schranke" ist daher vollkommen identisch mit den zu erklären
den unbewußten Handlungen der subjectiven Intelligenz.
Der Erklärungsgrund ist sehr einsach. Weil der Erdbewohner
die Erdbewegung nicht sieht, darum sieht er die Bewegung des Him
mels und der Sonne; der Astronom, der sich den Standpunkt des
Erdbewohners gegenständlich macht, erkennt das wahre Verhältniß und
erklärt jene scheinbare Bewegung der Himmelskörper aus der wirklichen
Bewegung der Erde. Wie sich der astronomische Standpunkt zu der
irdischen Wahrnehmung verhält, so verhält sich der Standpunkt des
Transscendentalphilosophen zu dem der theoretischen Intelligenz. Was
dieser, weil sie ihre eigene Thätigkeit nicht erkennt, als Vorgang außer
ihr erscheint, das erscheint jenem, der die theoretische Intelligenz bis aus den
Grund durchschaut, als Resultat unbewußter intellectueller Thätigkeit.
Es ist schlechterdings nothwendig, daß die Intelligenz ihre eigene
Thätigkeit sich objectiv macht oder anschaut, nur dadurch ist sie In
telligenz; aber es ist schlechterdings unmöglich, daß sie, in diese An
schauung versenkt, zugleich diese ihre anschauende Thätigkeit sich objectiv
macht, daß sie zugleich als anschauend sich anschaut; aus diesem Wege
käme es zu gar keiner Anschauung, sondern die anschauende Thätigkeit
verliese resultatlos in den endlosen Regreß der Anschauung des An
schauens. Keine Anschauung würde fixirt, es käme kein Product. kein
Object der Intelligenz, also diese selbst nicht zu Stande. Es ist dem
nach klar, daß die theoretische Intelligenz ausgemacht wird durch drei
Bedingungen: die productive Thätigkeit, die Anschauung dieser
Thätigkeit, die bewußtlose Anschauung derselben. Ohne die erste
Bedingung ist die Intelligenz überhaupt unmöglich, ohne die zweite
ist ihre Thätigkeit nicht einleuchtend (intellectuell), ohne die dritte ist
diese einleuchtende Thätigkeit nicht objectiv. d. h. sie hat kein Product.
Die Intelligenz muß producirt haben, das Product muß gegeben sein,
damit die Intelligenz sich darüber erhebt und zu einer höheren An
schauung sortschreitet. In einer solchen erhöhten Anschauung, die
einen vorhandenen
gründet, besteht die Entwicklungszustand
epochemachende Handlung.'
auslöst und
Erst einen
nach vollendeter
neuen de»
Ich". Daher erscheint sich die Intelligenz in diesem Zustand als leidend
oder assicirt, ihr Zustand ist nicht mehr blos begrenzt, sondern zugleich
empsunden, aber zunächst ist die Intelligenz auch nichts weiter als
empsundener Zustand.'
2. Die productive Anschauung.
Was die Intelligenz ist, muß ihr einleuchten; sie muß daher
ihren Empsindungszustand sich objectiv machen, d. h. diesen Zustand
in Gegenstand verwandeln, von dem in demselben Acte die Intelligenz
zugleich sich unterscheidet. Hier erscheint zum ersten mal der Gegensatz
von Subject und Object, er besteht im objectivirten Empsindungszu
stande und erscheint daher als der Gegensatz des Empsindungssubjectes
und Empsindungsobjectes oder des empsindenden Subjects und des
empsundenen Objects. Ietzt ist die Intelligenz nicht blos empsindend,
sondern sie ist es sür sich. Der Act, durch welchen die Intelligenz
ihren Zustand zum Gegenstande erhebt, ist „Anschauung", das Wort
im engeren Sinn genommen. In dieser Anschauung ist der Gegen»
stand unmittelbar gegenwärtig. Es ist daher keineswegs eine Wirkung
von außen, die angeschaut und aus der aus das Dasein eines äußeren
(von der Anschauung unabhängigen) Gegenstandes geschlossen wird;
eine solche Erklärung versehlt die Thatsache der Anschauung gänzlich
und läßt dieselbe unmöglich erscheinen, sie macht unerklärlich, was sie
erklärt haben möchte. Daher ist das Object, das der Anschauung
unmittelbar als solches einleuchtet, das Product der Anschauung selbst:
diese letztere muß demnach näher bestimmt werden als „productive
Anschauung". ^
Das Resultat der ersten Anschauung war begrenzte Intelligenz,
das der zweiten empsundene, das der dritten angeschaute. Der erste
Act der Begrenzung geschieht völlig bewußtlos und bleibt sür die In-
telligenz. weil er dieselbe überhaupt erst ermöglicht und begründet,
undurchdringlich und unerklärbar; er setzt jene „ursprüngliche und erste
Begrenztheit", aus der die Intelligenz als solche beruht. Im zweiten
Act geht die Anschauung ohne Rest aus in die Empsindung, sie ist
hier erst zuständlich, noch nicht gegenständlich; das letztere wird sie
vermöge des dritten Acts, den Schelling deshalb auch als „Anschauen
des Anschauens" (des Empsindens) oder als „Anschauen in der zweiten
Potenz" bezeichnet. Das Anschauungsobject ist Product der Intelli-
' Ebendaselbst. III. Hauptabschn. I. Epoche, ä.. S. 399-409. - ' Ebenda>'.
I. Epoche. L. S. 411 ff. O. S. 427-429.
Das System ber theoretischea Philosophie. 505
> Ebendas. I. Epoche, ä. Zus. 3. S. 409 -411. L. S. 426. 0. S. 429. II. Ep.
C.454. - e Ebendas. I. Ep. L. 2. 411-426. II. Ep. S. 455.
500 Das System der theoretischen Philosophie.
scheiden. Was die Intelligenz ist, muß sür sie sein oder gegenständlich
werden. Es muß daher jener Gegensatz, in welchem die Intelligenz
jetzt begrissen ist, zwischen subjectiver Empsindung (Ich) und objectiver
Vorstellung (Ding an sich), zwischen Innen- und Außenwelt in die
Anschauung selbst eingehen und als der Gegensatz „innerer und äußerer
Anschauung" austreten. Die Intelligenz ist »innerer und äußerer
Sinn". Was vor aller Intelligenz der Gegensatz der unbegrenzten
und begrenzenden Thätigkeit war, ist jetzt innerhalb der Intelligenz der
Gegensatz innerer und äußerer Anschauung; was dort der ursprüngliche
Begrenzungszustand hieß, das gemeinschastliche Product jener beiden
Tätigkeiten, ist jetzt die gemeinschastliche Grenze zwischen Ich und
Ding an sich, die durch die Außenwelt eingeschränkte Innenwelt oder,
was dasselbe heißt, die in ihrer Weltvorstellung begrenzte Intelligenz.
Im Unterschiede von jener „ersten Begrenztheit", welche die Intelligenz
überhaupt erst ermöglicht, nennt Schelling diese letztere, welche die In
telligenz zu einer besonderen macht und aus eine begrenzte Weltsphäre
anweist, „die zweite Begrenztheit". ^
Iede Begrenztheit der Intelligenz ist in Wahrheit Selbstbegren-
zung, concentrirte Selbstthätigkeit. Daß es sich so verhält, ist jetzt
sür die Intelligenz selbst geworden. Ihre Begrenztheit ist nicht mehr
ein Zustand, den sie vorsindet, sondern eigene, innere Energie, die
in der Entgegensetzung gegen die Außenwelt besteht und als solche
einleuchtet. Es ist ein großer Unterschied, ob die Intelligenz sich von
außen begrenzt sindet, oder ihre eigene Thätigkeit der Schranke von
außen entgegengesetzt und diesen Gegensatz einsieht: im ersten Fall
sindet die Intelligenz in sich etwas Fremdes, im zweiten Fall sühlt
sie nur sich; der Zustand der .ersten Begrenztheit ist Empsindung, der
der zweiten ist „Selbstgesühl". Das Selbstgesühl setzt den Gegensatz
der Innen- und Außenwelt (des inneren und äußeren Sinns) voraus,
der selbst aus der Empsindung hervorgeht. Was die Intelligenz al5
innerer Sinn ist, das ist als Selbstgesühl ihr einleuchtend. „Mit diesem
Gesühl", sagt Schelling, „sängt alles Bewußtsein an und durch dasselbe,
setzt sich das Ich zuerst dem Object entgegen. Im Selbstgesühl wird
der innere Sinn, d. h. die mit Bewußtsein verbundene Empsindung
sich selbst zum Object. Es ist eben deswegen von der Empsindung,
völlig verschieden, in welcher nothwendig etwas vom Ich verschiedenes
' Ebendaselbst. III. Hauptabschn. II. Epoche. 0. I. S. W. I. 3. S. 456-461^
v. III. S. 483-485.
Das System der theoretischen Philosophie. 5N?
> Ebendas. II. Ep. O. II. S. 462-466. - ' Ebendas. I). IV. S. 489 ff.
S08 Das System der theoretischen Philosophie.
schauend,
Vergegenwärtigen
ihres eigenen wir
Anschauens
uns diesichIntelligenz,
nicht bewußt,
ihre daher
Thätigkeit
Producte
an»
vermöge deren die Objecte entstehen; und zwar unterscheiden sich diese
Änschauungsacte selbst wieder als Stusen oder Entwicklungssormen.
Wechselwirkung ist angeschaute (sixirte) Causalität, denn der Causal-
> Tanssc. Ideal. III. Epoche I. 0. II. Deduction der Materie. T. 440-444.
- ' Ebendas. Folgesätze, S. 444-450. Epoche II. I). IV. 3. S. 491-495. -
' Lbtndas. S. 497 ff.
Das System der theoretischen Philosophie.
' Ebendas. III. Ep. II. v. III. S. 469-476. I). IV. 4. S. 49S ff. Vgl. Sp.III.
S. S20 ff.
Das System der theoretischen Philosophie. 511
nicht bewußt, daher noch nicht sreie Vorstellung der Objecte. Sie
muß sich aus einen Standpunkt erheben, der beides zugleich ist, theo
retisch und srei: dieser Standpunkt des sreien theoretischen Verhaltens
vollendet die theoretische Intelligenz und bildet den Uebergang zur
praktischen.
Die Intelligenz ist srei, weil sie sich über die Anschauung erhebt,
sie ist theoretisch, weil sie von hier aus die Anschauungsobjecte be
trachtet: diese sreie Betrachtung der Objecte ist die Reslexion. Da
die Objecte durch die Anschauung vollständig gegeben sind, so läßt sich
ihrer Bildung nichts weiter hinzusügen, daher kann die Reflexion nicht
synthetisch, sondern nur analytisch versahren. Ihre Thätigkeit besteht
in der analysirenden Reproduction. ^ Die Handlungsweisen der An
schauung und Reflexion sind demnach einander entgegengesetzt: jene
unterscheidet ihre Thätigkeit nicht von dem Product und geht daher
aus in die Betrachtung des Objects; diese unterscheidet zwischen Hand
lung nnd Product, zwischen der intellectuellen Thätigkeit und dem
Object. Diese Absonderung, vermöge deren die Thätigkeit als solche
in das Bewußtsein der Intelligenz eintritt, heißt Abstraction; von
dem gegebenen Object wird die Handlung, durch welche dasselbe ent
standen ist, abgesondert: so entsteht der Begriss; die Reflexion bildet
nicht Objecte, sondern Begriffe, sie vergleicht Begriffe und Anschau
ungen (Objecte): so entsteht das Urtheil. Innerhalb der Anschauung
bestand der Gegensatz zwischen innerer und äußerer Anschauung, die
Reflexion entscheidet den Gegensatz zwischen Begriff und Anschauung,
zwischen Intelligenz und Object, zwischen dem, was die Intelligenz mit
Bewußtsein thut, und dem, was ihr ohne bewußtes Zuthun gegeben
ist. Erst dadurch kommt der Gegensatz zwischen Subjectivem und Ob
jectivem, zwischen Ich und Welt zu seiner vollen und sesten Geltung;
erst jetzt, im Gegensatz zu der subjectiven Intelligenz mit ihren Ab
stractionen, Begriffen, Urtheilen u. s. s. gilt die objective, angeschaute
Welt als reale und wirkliche. In ihre Anschauung versenkt, ihrer'
eigenen Thätigkeit unbewußt, besindet sich die Intelligenz in einem dem
Traum analogen Zustande. Nichts verbürgt ihr die Realität der an
geschauten Objecte, nichts als die Unterscheidung ihrer eigenen bewußten
Thätigkeit von dem Gegebenen. So weit die eigene bewußte Thätigkeit
reicht, so weit erstreckt sich sür die Reflexion das Gebiet der Intelligenz:
und vermöge derselben sällt die Handlung mit ihrem Product, der
Begriff mit dem Object zusammen, hier sind beide nicht getrennt,
sondern identisch. Diese Identität löst die Reflexion aus. Jetzt erst
entsteht die Frage nach der Uebereinstimmung beider, nach dem Grunde
derselben. Die Frage erklärt und löst sich aus ihrem Ursprunge. Nie
Reflexion abstrahirt die Handlung von dem Object, sie stellt jene sur
sich vor und erhebt sie dadurch ins Bewußtsein. Der Begriff ist die
abstracte Vorstellung der Handlung, wodurch ein Anschauungsobject
entsteht : er ist diese ins Bewußtsein erhobene Handlung und verhält
sich daher zum Object, wie die Reflexion zur Anschauung, er setzt das
Object voraus und geht vermöge der Abstraction aus demselben hervor:
er ist demnach a priori. Nun aber ist das Object selbst aus einer
nothwendigen Handlung der Intelligenz entstanden, diese Handlung
verhält sich zum Object, wie die productive Thätigkeit zum Product,
sie geht dem Object voraus und ist dem Begriff nach srüher. Iden-
tissicirt man den Begriff mit der nothwendigen Handlung der Intelli
genz, so ist er a priori, er ist ebenso „a priori", wie nach Schelling
die Natur selbst. Da aber die anschauende Intelligenz sich ihrer pro-
ductiven Thätigkeit nicht bewußt ist, so sällt aus ihrem Standpunkt
die Handlung mit dem Product zusammen oder, was daffelbe heißt,
die Begriffe entstehen mit den Objecten zugleich. ^
Es kommt daher bei der Lösung unserer Frage alles daraus an,
daß man den Unterschied der bewußtlosen und bewußten Production
der Intelligenz mit völliger Klarheit einsieht. Weil die Begrifft
nothwendige Handlungen der Intelligenz sind, darum sind sie
durchgängig a priori; weil sie bewußtlose Handlungen sind, erschli»
nen sie als gegeben durch die Objecte, aus denen die Abstraction sie
ins Bewußtsein erhebt: sie sind daher als bewußte Handlungen
durchgängig a posteriori, und da es ohne bewußtloses Handeln kein
bewußtes giebt, so ist durch jenes der empirische Charakter der Be
griffe bedingt.
Damit löst sich auch die Streitsrage über die Natur unserer Er
kenntniß. Als Product der thätigen Intelligenz ist sie ganz und
durchaus a priori, als Product bewußtloser Thätigkeit ist sie ganz uni
durchaus empirisch, nicht etwa theilweise das eine, theilweise das andere.
„Eben deswegen, weil unsere ganze Erkenntniß ursprünglich ganz und
durchaus empirisch ist, ist sie ganz und durchaus a priori." „Insosern
nämlich das Ich alles aus sich producirt, insosern ist alles, nicht etwa
nur dieser oder jener Begriff oder wohl gar nur die Formen des Denkens,
sondern das ganze eine und untheilbare Wissen a priori. Aber insosern
wir uns dieses Producirens nicht bewußt sind, insosern ist in uns
nichts a priori, sondern alles a posteriori/"
Die Begriffe sind als nothwendige Handlungen a priori, aber
nicht angeboren, weder als sertige Formen noch als Anlagen. Sonst
müßte die Intelligenz ein besonderes von ihrem Handeln verschiedenes
Substrat, ein Ding mit gewissen Eigenschasten sein. Die Seele ist
keine Tasel, weder eine beschriebene noch eine unbeschriebene. „Nicht
Begriffe, sondern unsere eigene Natur und ihr ganzer Mechanismus
ist das uns Angeborene. Diese Natur ist eine bestimmte und handelt
aus bestimmte Art, aber völlig bewußtlos, denn sie ist selbst nichts
anderes als dieses Handeln; der Begriff dieses Handelns ist nicht in
ihr, denn sonst müßte sie ursprünglich etwas von diesem Handeln
Verschiedenes sein, und wenn er in sie kommt, so kommt er in sie erst
durch ein neues Handeln, das jenes erste sich zum Object macht."
Erst vermöge der sreien und willkürlichen Reflexion treten die Begriffe
ins Bewußtsein ; daraus erhellt, warum sie weder in jedem Bewußtsein
noch immer gegenwärtig sindd
Das Gebiet der Reflexion umsaßt Object und Intelligenz, sie kann
daher ihren Standpunkt richten aus das Object, aus die Intelligenz,
aus das Verhalten der Intelligenz zum Object. Aus der Reflexion
aus das Object entspringt das Bewußtsein der Kategorien der Relation,
aus der Reflexion aus die (anschauende und empsindende) Intelligenz
entspringt das Bewußtsein der Kategorien der Quantität und Qualität
(der mathematischen Kategorien), aus der Reflexion aus das Verhalten
der Intelligenz zum Object entspringt das Bewußtsein der Kategorien
der Modalität. So vertheilt Schelling die Kantische Kategorientasel
in die verschiedenen Richtungen und Gegenden der Reflexion. Auch
seine Lehre vom „Schematismus", wodurch Begriff und Anschauung
vermittelt und das Urtheil ermöglicht wird, insbesondere die Lehre
vom „transscendentalen Schema der Zeit", wodurch die Kategorien
anschaulich und objectiv gemacht werden, stimmt im Wesentlichen mit der
Kantischen Theorie überein/
' Ebendas. S. S28 u. S29. - ' Ebendas. S. 529, - » Ebendas. Dritte Epoche.
Von der Reflexion bis zum absoluten Willensact. Nr. II u. III. S. 511-523.
516 Das System der praktischen Philosophie.
Dreißigstes Capitel.
Das System der praktischen Philosophie.
ganzen Inbegriff nach („das ganze Ich") sür sich sein: jetzt durch
schaut es seine Thätigkeit und deren Product, es sieht sich handeln,
es ist sich gegenwärtig als Subject und Object; daher ist „die abso
lute Abstraction der Ansang des Bewußtseins". Wir stehen in dem
epochemachenden Moment, wo das Ich Selbstanschauung nicht blos ist,
sondern als solche sich einleuchtet. Nun ist die Frage: woraus ent
springt jene absolute Abstraction selbst, krast deren dieser Wendepunkt
eintritt?'
Nicht weil wir von diesem oder jenem Object abstrahiren können,
vermögen wir von allen zu abstrahiren, sondern umgekehrt: die absolute
Abstraction ist der Grund der empirischen, die höhere der Grund der
niederen. Das Vermögen zur absoluten Abstraction ist daher in keiner
vorhergehenden Handlung der Intelligenz, also überhaupt nicht theo
retisch, sondern tieser begründet; es entspringt nicht aus der gebun
denen, durch ein Object bestimmten, sondern aus der sreien, sich selbst
bestimmenden Intelligenz, nicht aus dem Anschauen, sondern aus dem
> Ebendos. IV. S. 524 ff. - ' Ebendas. Viert« Hauptabschn. Erster 2°h.
S. 532 ff.
Das System ber praktischen Philosophie. 517
tung aus ein bestimmtes, äußeres Object tritt das Wollen in die Er»
scheinung. Das Object steht ihm gegenüber als durch die Anschauung
gegeben, von ihm selbst unabhängig, daher kann dasselbe von dem
Willen nicht producirt. nur verändert, nicht gebildet, nur umgebildet
werden. Die Umbildung geht nur aus die veränderlichen Bestimmun
gen des Objects und ist daher nothwendig verbunden mit der Vor
stellung des unveränderlichen Objects oder der Substanz, die jenen Be
stimmungen als Träger zu Grunde liegt. Dem Ich erscheint sein
Wollen zuerst als ein das Object umbildendes Handeln.
Dieses Umbilden ist durch das Object bestimmt und dem Zwange
der Anschauung unterworsen, zugleich durch den Willen srei und von
der gegebenen Anschauung unabhängig, es ist kein blindes, sondern ein
zweckthätiges Handeln, ein sreies Umbilden; das Bild, demgemäß das
Object verändert und umgestaltet werden soll, ist ein sreier Entwurs
der Einbildungskrast oder eine „Idee". Die Idee in Rücksicht aus
das Object ist „das ideale Object oder das Ideal". Mithin erscheint
das Umbilden näher als ein Idealisiren des Objects. Das letztere
soll nicht so bleiben, wie es ist, es ist ein Widerstreit zwischen dem
idealen und dem gegebenen Object. zwischen dem idealisirenden und
anschauenden Ich. das Gesühl dieses Widerstreits im Ich ist der Wil
lensimpuls und treibt das Ich, das Object zu verändern, sich praktisch
aus daffelbe zu richten oder, was daffelbe heißt, das Object aus der
Sphäre der Anschauung in die des Wollens zu erheben. Daher wird
das Wollen dem Ich zunächst einleuchtend als ein idealissirender Um-
bildungstrieb.^
Aus diesem Triebe,5. der dem Bewußtsein
Anschauen und Handeln.der Freiheit zu Grunde
liegt und darum reslexionslos entsteht, geht die sreie Handlung hervor,
wodurch etwas in der objetiven Welt bestimmt wird. Wie ist eine
solche Handlung, ein solcher Uebergang aus dem Subjectiven ins Ob-
jective, aus der Sphäre der Freiheit in die der Nothwendigkeit, aus
dem Ich in die Welt möglich? Wäre die Welt unabhängig vom Ich.
so wäre die Frage unauslöslich und, sosern „der Uebergang" einen
solchen Gegensatz beider Sphären voraussetzt, überhaupt unmöglich.
Nun aber ist die Welt nichts anderes als das anschauende Ich, das
bewußtlos producirende; das handelnde Ich ist das srei thätige; beide
sind ihrem Wesen nach Eines: diese Identität erklärt die Möglichkeit
des Handelns, sie allein, ohne daß dabei ein „Uebergang" in Frage
kommt. Das Anschauen ist ja auch Thätigkeit, nur eine bewußtlose,
eine solche, welcher der Begriff nicht vorangeht, sondern nachsolgt.
Setze eine Thätigkeit, die nicht nach einem srei entworsenen Begriffe
stattsindet, und du hast Anschauung; setze ein Anschauen, dem der
Begriff vorhergeht, das durch diesen Begriff bestimmt wird, und du
haft Handeln. Was also ist das Handeln (idealistisch angeschaut)
anders als „ein sortgesetztes Anschauen"? Hier ist kein Ueber
gang, sondern ein Fortgang, keine pl,eräß«?l? ei? «XX« ,sevo?, sondern
Entwicklung. Im Wollen und Handeln ist offen und enthüllt, was
im Anschauen verborgen und bewußtlos stattsand. „Indem ich anzu
schauen glaubte, war ich eigentlich handelnd; hier, indem ich aus die
Außenwelt zu handeln glaube, bin ich eigentlich anschauend." „Das
Anschauen kann nicht erscheinen, ohne daß der Anschauung selbst der
Begriss der Anschauung vorangeht. Aber geht der Begriff der An
schauung der Anschauung selbst voran, so daß diese durch jenen be
stimmt ist, so ist das Anschauen ein Produciren gemäß einem Begriff,
d. h. ein sreies Handeln." ^
und sich völlig deckte, so wäre sie verneint, mit ihr das Ich und die
Möglichkeit des Bewußtseins. In dem naturgemäßen Handeln erscheint
nicht der ganze Wille, sondern der Wille nur, sosern derselbe aus ein
äußeres Object gerichtet ist. Was dieser Willenserscheinung zu Grunde
liegt, ist das Ich selbst, dessen Wesen in der Selbstsetzung, in der
Selbstbestimmung besteht, der Wille zum Ich. der aus das reine Sich
bestimmen gerichtete Wille. Die Frage heißt: Wie wird dieses Wollen
objectiv?'"
Es ist nicht nach außen gerichtet, sondern nach innen, es hat keinen
anderen Inhalt, kein anderes Object als sich selbst. Das reine Wollen
ist nicht bedingt, sondern unbedingt, es ist nicht, wie ein Object der
Anschauung, sondern es soll sein, es kann daher nur dargestellt wer
den in einer unbedingten Forderung, in einem kategorischen Imperativ,
mit einem Wort als das Sit t engesetz im Kantischen Sinn. In
diesem Wollen besteht das Ich, aus ihm beruht alles Handeln, alle
Intelligenz, „es ist das einzige An sich, was alle Intelligenzen mit
einander gemein haben", die reine Gesetzmäßigkeit selbst. Daher hat
Kant das Sittengesetz so ausgedrückt: „Du sollst nur wollen, was alle
Intelligenzen wollen können". ^
2. Die Willkür.
Nun kann das Sittengesetz als Forderung, als „du sollst!" nur
im Widerstreit mit einer Willensrichtung einleuchten, die nicht ist. wie
sie sein soll, die nach außen geht, als Naturtrieb wirkt, darum eigen
nützig handelt und nichts anderes erstrebt als das individuelle Wohl
oder die Glückseligkeit. Daher ist das Bewußtsein des Sittengesetzes
und damit das volle und wahre Selbstbewußtsein unmöglich, wenn
nicht in demselben Ich die beiden einander entgegengesetzten Richtungen
des eigennützigen Triebes und des reinen Willens wirksam und beide
einander entgegengesetzte Handlungsweisen gleich möglich sind. Ist der
reine Wille allein wirksam, so wird er ersüllt wie ein Naturgesetz und
kann nie in der Form eines Gebots, einer Forderung austreten. Das
Bewußtsein, daß etwas geschehen soll, ist nothwendig bedingt durch
das Bewußtsein, daß auch anders gehandelt werden kann, daß die
Wahl zwischen den beiden entgegengesetzten Handlungsweisen sreisteht.
Hier ist die Freiheit in der Form der Willkür, „die Willkür alz
Erscheinung des absoluten Willens", als die Bedingung, unter der
> Ebendas. S. 570-573. — ' Ebendas. S. 573 ff.
Das System der praktischen Philosophie. 523
Diese Macht erscheint als ein höheres Naturgesetz, das aus dem
Grunde der natürlichen Freiheit den gemeinsamen Charakter alles
Wollens darstellt, zur Geltung bringt und dadurch eine Ordnung der
Dinge stistet, die wiederum eine organisirte Außenwelt, gleichsam eine
„zweite Natur" bildet. „Unerbittlich und mit der eisernen Nothwendig-
keit, mit welcher in der sinnlichen Natur aus die Ursache ihre Wirkung
solgt, muß in dieser zweiten Natur aus den Eingriff in die sremoe
Freiheit der augenblickliche Widerspruch gegen den eigennützigen Trieb
ersolgen." Ein solches Naturgesetz ist „das Rechtsgesetz", eine solche
zweite Natur „die Rechtsversassung". In ihr objectivirt sich der ge
meinsame Wille; aus sie und ihre Fortdauer gründet sich die be
ständige Anschauung der gemeinsamen Willensnatur.- daher gehör!
sie unter die Bedingungen des sortwährenden Bewußtseins und ist als
solche deducirt.
Die bürgerliche und politische Freiheit ist nicht die moralische,
sondern nur eine höhere Entwicklungsstuse der natürlichen, die durch
das Rechtsgesetz eingeschränkt und gesichert wird; sie besteht in der
Freiheit des Dürsens, das selbst nichts anderes ist. als das gesetz
mäßig eingeschränkte und regulirte Können. Die Rechtsversassung ist
die von der menschlichen Natur hervorgebrachte Ordnung der Menschen
welt und darum, wie Schelling vortrefflich sagt, „die beste Theodic«.
welche der Mensch sühren kann". Sie ist kein Product der Willkür
und duldet keine Einmischung der Willkür in ihren Bestand, darum
ist sie keine moralische Ordnung, sondern das Supplement der sichtbaren
und selbst „eine bloße Naturordnung". Iede Willkür unterbricht und
stört diese Ordnung, jeder Versuch, sie in eine moralische umzuwandeln,
ist eine Verkehrtheit, die keine andere Folge haben kann als den Des
potismus in der surchtbarsten Gestalt. Daher richtet sich die Rechls-
oersassung gegen den Einbruch der Willkür und ist um so vollkommener,
je weniger sie den Störungen derselben ausgesetzt ist, je mächtiger das
Rechtsgesetz herrscht, gleich dem unwiderstehlichen Naturgesetz. ,Die
Rechtslehre", sagt Schelling, „ist kein Theil der Moral, überhaupt
keine praktische, sondern eine rein theoretische Wissenschaft, welche sür
die Freiheit eben das ist, was die Mechanik sür die Bewegung, indem
sie nur den Naturmechanismus deducirt, unter welchem sreie Wesen
als solche in Wechselwirkung gedacht werden können."
Naturgemäß, wie ihr Charakter, sind auch die Veränderungen der
Rechtsordnung, die dem Gesetz der Entwicklung gehorchen; eben darin
Das System der praktischen Philosophie.
eine Nothwendigkeit, die nicht aus die Freiheit gegründet werden kann,
und ohne welche diese selbst nichtig und thatenlos ist. Nicht blos die
tragische Kunst, sondern alles echte Wirken und Handeln gründet sich
aus diesen Glauben an die nothwendige Macht über der Freiheit. Wie
wäre es möglich, etwas Rechtes zu wollen, etwas Großes zu unter
nehmen, wenn man nicht sicher wäre, der Ersolg sei nothwendig, durch
keine menschliche Willkür zu vernichten und ungültig zu machen, selbst
nicht durch den eigenen Mißersolg? Ein solcher Glaube, der allein
den unbekümmerten Thatenmuth, das begeisterte Handeln erzeugt, kann
sich nicht blos aus die Freiheit gründen, sonst würde der Anblick der
Individuen mit ihren entgegengesetzten Interessen, deren jedes seine
Willkür dagegen spielen läßt, diesen Glauben sosort zu Boden schlagen
und entkrästen. Seine Krast wurzelt in der Ueberzeugung von der
Nichtigkeit und Ohnmacht aller individuellen Interessen und aller mensch
lichen Willkür, wenn es sich um die großen Zwecke der Gattung und
des Ganzen handelt; sie wurzelt in dem unerschütterlichen Glauben an
den Fortschritt der Menschenwelt, an eine von aller Willkür unab
hängige Ordnung der Dinge. Das ist nicht die moralische Weltord
nung, die keineswegs unabhängig ist von der Willkür, die nur dann
objectiv existiren würde, wenn sie von jedem gewollt und als bewußter
Zweck in ihm gegenwärtig wäre. Ein solcher Bestand, eine solche
Objectivität sehlt der moralischen Weltordnung, sie ist nicht die höhere
Macht über der Freiheit, daher nicht der Gegenstand des Glaubens,
der den Willen in seiner Tiese bewegt und unerschütterlich macht in
seinem Handeln. „Ich verlange etwas schlechthin Objectives, was schlecht
hin unabhängig von der Freiheit den Ersolg der Handlungen sür
den höchsten Zweck sichere und gleichsam garantire; und weil das einzig
Objective im Wollen das Bewußtlose ist, so sehe ich mich aus ein Be
wußtloses getrieben, durch welches der äußere Ersolg aller Hand
lungen gesichert sein muß."
3. Gott in der Geschichte.
Nun ist eine solche Sicherheit nur möglich, wenn es eine Macht
giebt, worin die gesammte Weltentwicklung nach Anlage und Ziel be
gründet und umsaßt ist, in der alle Handlungen dergestalt verknüpst
sind, daß auch die scheinbaren Abweichungen und Störungen dem Plane
des Ganzen dienen, in diesen Plan gehören und darum in Wahrheit
Einunddreißigstes Capitel.
Die Philosophie der Kunst.
Noch bleibt
I. Teleologie
dem System desund
transscendentalen
Organismus. Idealismus eim
Ausgabe zu lösen, die letzte: wie vollendet das Ich seine Selbstanschau-
ung? Worin besteht diejenige Selbstanschauung, in welcher das Ich
sich selbst, seinem ganzen Wesen nach einleuchtet als die Einheit des
theoretischen und praktischen Handelns, der gesetzmäßigen und sreien,
der bewußtlosen und bewußten Thätigkeit? Es ist nicht genug, daß
das Ich diese Identität ist, es muß dieselbe auch anschauen; es ist nicht
> Ebendas. N. III. 0. S. 597-604.
Die Philosophie der Kunst, ',81
genug, daß es dieselbe als Object anschaut, dieses Object muß ihm
auch einleuchten als gesetzt durch das Ich, d. h. als sein Product. Erst
dann ist die dem transscendentalen Idealismus gestellte Ausgabe voll
ständig gelöst. „Es ist zu erklären, wie das Ich selbst der ursprüng
lichen Harmonie zwischen Subjectivem und Objectivem bewußt werden
könne."'
Alle bewußte und sreie Thätigkeit geschieht nach Zwecken, d. h.
nach einer Absicht oder einem Begriff, der dem Objecte vorausgeht und
die Thätigkeit bestimmt. Die Erscheinung, worin das Ich die Einheit
der Nothwendigkeit und Freiheit, der bewußtlosen und bewußten Thä
tigkeit anschauen soll, wird daher beides sein muffen: vollkommen na
türlich und vollkommen zweckmäßig.
Setzen wir: diese Erscheinung sei ein bloßes Anschauungsobject,
worin das Ich nicht sein Product erkennt, sondern ein sremdes, das
Object erscheine ihm als von außen gegeben, als Naturproduct, ent
standen durch bewußtlose Thätigkeit. Wenn nun ein solches Product
zugleich den Charakter einer durchgängigen Zweckmäßigkeit ausdrückt,
so wird es dem Ich jene gesorderte Identität der bewußtlosen und be
wußten Thätigkeit darstellen und erscheinen, als ob es mit Bewußtsein
erzeugt und aus einer wirklichen Absicht hervorgegangen wäre. In
seiner Production ist nur das Naturgesetz des blinden Mechanismus
wirksam, aber das entstandene Product zeigt in seiner Versassung und
in seinen Aeußerungen den Charakter der Zweckmäßigkeit. Es kann
nicht durch Teleologie erklärt, aber eben so wenig ohne dieselbe ange
schaut werden ; wir haben ein Object vor uns, dem gegenüber die teleo
logische Erklärung unmöglich, aber die teleologische Anschauung noth-
wendig ist. Diese Vereinigung der Nothwendigkeit und Freiheit ersüllt
sich in dem Object, das selbst aus bewußtloser Thätigkeit hervorgeht
und aus welchem das zweckthätige und bewußte Handeln resultirt : das
ist das lebendige Naturproduct , die organische Natur. Der Orga
nismus ist diejenige Naturanschauung, aus welcher die gesorderte
Identität der bewußtlosen (mechanischen) und bewußten (zweckmäßigen)
Thätigkeit .hervor- und dem Ich einleuchtet. Denn das organische Leben
ist die Entwicklungsstuse, krast deren die bewußtlose Production über
geht in die bewußte.
Wird der Charakter der Zweckthätigkeit in die Production oder
Entstehung des Organismus gelegt, so wird die bewußtlose Entwicklung
' Ebendas. I V. ?. S. 606 ff.
Die Philosophie der Kunst.
ausgehoben und an deren Stelle eine Materie gesetzt, die entweder aus
eigener Intelligenz zweckthätig handelt oder, an sich todt und unthätig.
von einer sremden, äußeren Intelligenz zweckmäßig gesormt wird: die
erste Annahme sührt zu einem dogmatischen und widersinnigen Hylo-
zoismns, die zweite verwandelt das Leben in Kunflproduct und wider
streitet jeder Möglichkeit des Organismus. Der Hylozoismus ist darum
vernunstwidrig, weil er die Materie als Ding an sich betrachtet. Gilt
dagegen die Materie als bewußtloses Product der Anschauung, d. h. als
selbst gegründet in den Bedingungen des Ich und der Intelligenz, so
solgt die Nothwendigkeit einer (bewußtlosen) Entwicklung, aus welcher
Leben, Zweckthätigkeit, Intelligenz hervorgeht. Dieser Begriff der Ma
terie ist nicht dogmatisch, sondern kritisch und in keinem andern Systeme
möglich, als in dem des transscendentalen Idealismus. „Daß ein und
dasselbe Product zugleich blindes Product und doch zweckmäßig sei, ist
schlechthin in keinem System außer dem des transscendentalen Idealis
mus zu erklären, indem jedes andere entweder die Zweckmäßigkeit der
Producte oder den Mechanismus im Hervorbringen desselben leugnen,
also eben jene Coexistenz ausheben muß."'
Thätigkeit ist eine schöpserische, sie ist zugleich srei und getrieben, bewußt
und bewußtlos, besonnen und ergriffen, bewußtlos schaffend, mit Be-
Ich. mit der Philosophie der Kunst endet das System des transscen-
dentalen Idealismus; jenes Fichtesche Wort: „die Kunst macht den
transscendentalen Gesichtspunkt zum gemeinen" hat seine volle Be
stätigung gesunden. ^
Vergleichen wir die Kunst mit dem Ich. Dieses ist nur dann
sich selbst gleich, wenn es sein eigenes Sein oder Thun anschaut. 3lnn
ist das Ich bewußtlose und bewußte Production, es ist die Identität
beider: eben diese Identität liegt in der Kunst offen zu Tage. Das
Ich ist productiveAu schauung. bewußtlose und bewußte, es ist ein
und dasselbe Grundvermögen aus verschiedenen Stusen, „es sind als»
> Ebendas. VI. § 2. S. 6l9-624. - ' Vgl. dieses Werl. Bd. V. (2. »usl.>
Buch III. C°p. XVI. S. 621-624.
Die Philosophie der Kunst. 535
auch Producte einer und derselben Thätigkeit, was uns jenseits des
Bewußtseins als wirkliche, diesseits des Bewußtseins als idealische
oder als Kunstwelt erscheint." Wir erinnern uns, wie die Vereini
gung entgegengesetzter Thätigkeiten, deren eine unbegrenzt, die andere
begrenzend (begrenzt) war, wie die Auslösung dieses unendlichen Gegen
satzes das ursprüngliche Problem bildet, das mit dem Wesen des Ich
selbst zusammensällt. So ist das Ich in seinen bewußtlosen Produc-
tionen in der Lösnng derselben Ausgabe begrissen, welche die Kunst
vollkommen auslöst; es ist in jenen Productionen selbst ein bewußtloser
Künstler, und wir können seine ganze Ausgabe vereinsachen und in
die Formel concentriren, die gleichsam den Punkt aus das I setzt: es
soll seiner eigenen Kunst sich bewußt werden. Dies geschieht in der
Anschauung der poetischen Kunst. Darum vollendet sich hier die Selbst
anschauung des Ich. „Die allgemein anerkannte und aus keine Weise
hinwegzuleugnende Objectivität der intellectuellen Anschauung ist die
Kunst selbst." „Wir haben", sagt Schelling von den nothwendigen
Productionen des Ich, „diesen Mechanismus nicht vollständig begreis
lich machen können, weil es nur das Kunstvermögen ist, das ihn ganz
enthüllen kann/ „Es ist das Dichtungsvermögen, was in der ersten
Potenz die ursprüngliche Anschauung ist, und umgekehrt, es ist nur
die in der höchsten Potenz sich wiederholende productive Anschauung,
was wir Dichtungsvermögen nennen." '
In der genialen Production sieht das Ich sich selbst produciren
in der Einheit bewußtlosen Schaffens und bewußten Gestaltens. Die
transscendentale Anschauung sucht von Stuse zu Stuse die Einheit,
welche die ästhetische Anschauung giebt. „Darum ist die Kunst das
wahre und ewige Organon zugleich und Document der Phi
losophie, welches immer und sortwährend auss neue beurkundet, was
die Philosophie äußerlich nicht darstellen kann, nämlich das Bewußtlose
im Handeln und Produciren und seine ursprüngliche Identität mit dem
Bewußten. Die Kunst ist eben deswegen dem Philosophen das Höchste,
weil sie ihm das Allerheiligste gleichsam öffnet, wo in ewiger und ur
sprünglicher Vereinigung in einer Flamme brennt, was in der Natur
und Geschichte gesondert ist und was im Leben und Handeln ebenso
wie im Denken ewig sich sliehen muß. Die Ansicht, welche der Philo
soph von der Natur künstlich sich macht, ist sür die Kunst die ur-
sprüngliche und natürliche. Was wir Natur nennen, ist ein Gedicht,
das in geheimer wunderbarer Schrist verschlossen liegt. Doch könnte
das Räthsel sich enthüllen, würden wir die Odyssee des Geistes
darin erkennen, der wunderbar getäuscht, sich selber suchend, sich selber
flieht; denn durch die Sinnenwelt blickt nur wie durch Worte der
Sinn, nur wie durch halbdurchsichtigen Nebel das Land der Phantasie,
nach dem wir trachten." „Die Natur ist dem Künstler nicht mehr
schränkungen
als sie dem Philosophen
erscheinende ist,
idealische
nämlichWelt
nuroder
die nur
unterderbeständigen
unvollkommene
Ein»
Widerschein
Das System
einer Welt,
ist vollendet,
die nichtdenn
außer
es ihm,
ist zurückgekehrt
sondern in ihm
in seinen
existirt.''
An
» Vgl. Meine Schrist: Schill« als Philosoph. (Zweite neubearbeitcte und «er»
mehrte Ausl. Heidelberg 1891.) Buch II. Cap. VII u. VIII.
Die Philosophie der Kunst,
war, geht bei Schelling Hand in Hand mit der mythologischen Aus
sassung der christlichen Glaubensobjecte; die ausklärerische Art, Kirche
und Cultus anzusehen, sindet er „blödsinnig". Wenn man diese Aus
klärer alle vereinte und hundert Iahre machen ließe, würden sie doch
nichts als Sandhausen zusammenbringend
Die Kunst entwickelt ihre Formen in einer realen und idealen
Neihe, jene wird dargestellt durch die bildenden Künste, diese durch die
Poesie; die bildenden Künste sind Musik. Malerei, Plastik, welche letz
tere die Architektur, das Basrelies und die Sculptur umsaßt; die poe
tische Kunst unterscheidet sich in lyrische, epische und dramatische Poesie,
welche letztere sich als Tragödie und Komödie entwickelt. Die Musik
gilt als bildende Kunst in plastischem Sinn, wie Schlegel die Archi
tektur eine erstarrte Musik nannte; sie stellt die reine Bewegung dar,
die, von keiner Körpersorm geseffelt, gleichsam aus unsichtbaren Flügeln
getragen, das harmonische und lebendige Weltall gestaltet. Diese der
Welt eingeborene ewige Musik habe Pythngoras im Sinne gehabt, als
er von einer Sphärensymphonie geredet. Nicht weil sie dieselbe immer
hören, wie die Bewohner einer Mühle das Klappern, sondern weil sie
nur das Klappern der Dinge, das verworrene Weltgeräusch hören,
vernehmen die gewöhnlichen Sterblichen nichts von der himmlischen
Harmonie.
In der Weltentwicklung ist und
3. Die Natur die die
reale ReiheKunst.
bildende der Productionen dar
gestellt durch die Natur, in der Kunst durch die bildenden Künste.
Daraus ergiebt sich jenes eigenthümliche „Verhältniß der bildenden
Künste zur Natur", das Schelling zum Thema seiner Rede nahm.'
Es ist von jeher geahnt worden, daß die Kunst in einem nothwendigen
Zusammenhange mit der Natur stehe, daß diese sich zu jener verhalte
als Bedingung und Vorbild, aber der Punkt, der das Verhältniß
entscheidet, ist nie richtig erkannt, vielmehr aus zwei Arten versehlt
worden. Man hat der Kunst die Ausgabe gestellt, das Werk der
Natur entweder mit knechtischer Treue wiederzugeben, das Leben und
die Formen der Natur bis zur vollendeten Täuschung nachzuahmen
oder durch höhere Formen zu übertressen und die Natur, wie man sich
ausdrückt, zu idealisiren. Beides ist salsch, beides ist Nachahmung im
unrichtigen Sinn, niedere oder höhere, unterwürsige oder gesteigerte.
' Ebendas. S. 293 ff., 299 ff. - ' Ebendas. S. 301-303. - ' Vgl. dieses
Werk, Bd, VIII, Buch II. Cap. X u. XI.
544 Die Philosophie der Kunst.
Zweiunddreißigstes Capitel.
Das System der absoluten Identität.
I. Ausgabe.
I. Schristen. »Darstellung meines Systems ber Philosophie'.
Jetzt, nachdem wir die beiden Hälften des Lehrgebäudes kennen
gelernt, stehen wir, wie Schelling selbst von dieser vor ihm liegenden
Ausgabe sagt, im Mittelpunkte des Ganzen, das nun aus einem
Princip entworsen, in einem Gusse dargestellt werden soll. Die erste
Fassung und Periode der Naturphilosophie enthielt noch keine prin-
cipielle Trennung von Fichtes Standpunkt, noch kein neues, von den
Grundsätzen der Wissenschastslehre verschiedenes System. Der trans-
scendentale Idealismus sordert ein solches neues Fundament und stellt
sorm
es in der
Aussicht,
Naturphilosophie
die Identitätslehre
ruht ausgiebt
diesem
es,Grunde.
die zweiteWir
Entwicklungs-
haben des
' In Betreff der drei ersten Schristen vgl. oben Buch I. Cap. III. S. 33- 34.
S. W. Abth. I. Bd. IV: Darstillung meines Systems S. 105-212, Bruno
S. 213-332. Fernere Darstillungen S. 333-510. Bd. V. Vorlesungen über
die Methode des akad. Stud. S. 207-352. Ueber das absolute Identitäts,
system u. s. s. (aus dem kritischen Iournal der Philos. I. Stück 1). S. 18-77.
Bd. IV. System der ges. Philos. u. s. s. S. 131-576 (Würzburger Manuscript
mit Einsügung eines Ienaschen). Die Vorlesungen sür das akad. Stud, wurden
im Sommer 1802 gehalten und sind 1813 und 1830 unverändert wieder erschienen.
Das System der absoluten Identität. 547
absolut Unmögliche; es ist unmöglich, daß sie nicht ist, es ist noth-
wendig, daß sie ist und in allem, was ist, sie allein. Nun besteht
sie in der absoluten Einheit (Indifferenz) des Subjectiven und Objec
tiven. Könnte einer dieser beiden Factoren je ausgehoben oder ver
nichtet werden, so wäre die Identität selbst ausgehoben und ihr Nicht
sein gesetzt; es ist daher vollkommen unmöglich, daß es Dinge giebt.
die entweder blos subjectiv oder blos objectiv wären; sein kann überall
nur
rührtdienicht
Einheit
das Wesen,
beider, das
ändert
Subject-Object.
nichts an der Die
Sache,
Differenzirung
an der Idenbe-
tität selbst, betrifft nur die Art oder Größe ihres Seins. Innerhalb
der Differenzirung verhalten sich die beiden Factoren wie negative
Größen, sie sind an einander gebunden, keiner kann den anderen
loslassen und sür sich sein, das Steigen des einen ist das Fallen des
anderen und umgekehrt.
Nun war die quantitative Differenz der Grund aller Endlichkeit,
des einzelnen Seins oder der Dinge; kein einzelnes Ding hat den
Grund seines Daseins in sich, jedes ist bestimmt durch ein anderes und
darum begrenzt, das andere ist wieder bestimmt durch ein anderes und
s« sort ins Unendliche. Die Dinge bilden daher eine endlose Reihe,
worin jedes einzelne ein bestimmtes und begrenztes Glied ausmacht,
und da alle Disserenzirung in dem quantitativen Uebergewicht eines
der beiden Factoren besteht, so bildet dieses Uebergewicht den Grund
und Charakter aller Endlichkeit.> Das Uebergewicht begreist unendlich
viele Gradunterschiede in sich, daher solgt aus der Disserenzirung noth-
wendig die endlose Reihe der Dinge, deren keines sür sich sein kann,
sondern nur ist als Glied des Ganzen.
Nun bildet den ewigen Grund und die Basis aller quantitativen
Disserenzen des Subjectiven und Objectiven deren totale Indifferenz,
welche die Form der absoluten Identität ist, die Form ihres unend
lichen Seins. Demnach müssen jene quantitativen Differenzen, wodurch
die endlose Reihe der Dinge gesetzt ist, als „bestimmte Formen der
Arten des Seins der absoluten Identität" gelten, als deren Erschei
nungen. Die absolute Identität selbst kann nicht ausgehoben, auch
nicht an sich oder ihrem Wesen nach verändert, sondern nur in der
Art, wie sie erscheint, modisicirt werden. Iede Erscheinung ist ein
Modus oder eine Art des Seins der absoluten Identität. Da nun
diese Art nichts anderes ist als ein bestimmter Größenzustand oder
G«d, in welchem die absolute Einheit des Subjectiven und Objectiven,
d. h. das Erkennen (Selbsterkennen) gesetzt ist oder erscheint, so bezeichnet
Lchelling dieselbe mit dem Worte „Potenz". Die Dinge bilden dem
nach eine Reihe von Potenzen, deren ewige, unverrückbare und unver
änderliche Basis die absolute Identität ist. Iede Potenz ist und besteht
nur als Glied der Reihe, sie sührt kein selbständiges Dasein sür sich,
entweder sind alle Potenzen oder keine. Daher sind alle Potenzen zu
gleich und nur in ihrer Gesammtheit ein Ausdruck der absoluten Identi
tät. „Alles, was ist, ist nur, insosern es die absolute Identität unter
einer bestimmten Form des Seins ausdrückt." „Die absolute Identität
ist nur unter der Form aller Potenzen." „Alle Potenzen sind absolut
gleichzeitig."'
Iede Potenz ist in der Reihe aller ein nothwendiges Glied, ohne
welches auch die Totalität nicht sein kann; daher ist jedes Ding ver
möge seiner Potenz oder „in seiner Art unendlich" und stellt als
solches die Totalität dar. Diese im Einzelnen dargestellte Totalität
> Ebendas. §8 35, 36 Zus. 8 37 Erlauterung. - ' Ebendas, §z 38, 40, 41
Zus. W 43. 44.
5,5,4 Das System der absoluten Identität.
sondern das Ursprüngliche, und sie wird nur producirt, weil sie
ist. Sie ist schon in allem, was ist. Die Krast, die sich in die Masse
der Natur ergießt, ist dem Wesen nach dieselbe mit der, die sich in der
geistigen Welt darstellt, nur daß sie dort mit dem Uebergewicht des.
Reellen, wie hier mit dem des Ideellen zu kämpsen hat, aber auch
dieser Gegensatz, welcher nicht ein Gegensatz dem Wesen, sondern der
bloßen Potenz nach ist, erscheint als Gegensatz nur dem, welcher sich
außer der Indifferenz besindet und die absolute Identität nicht selbst
als dos Ursprüngliche erblickt. Sie erscheint nur dem. welcher sich
selbst von der Totalität abgesondert hat und inwiesern er sich ab
sondert, als ein Producirtes: dem, welcher nicht aus dem absoluten
Lchwerpunkt gewichen ist, ist sie das erste Sein und das Sein,
dos nie producirt worden ist, sondern ist, so wie nur überhaupt etwas
ist, dergestalt, daß auch das einzelne Sein nur innerhalb derselben
möglich, außerhalb derselben, auch wirklich und wahrhaft, nicht blo5
in Gedanken abgesondert, nichts ist. Wie es aber möglich sei, daß von
dieser absoluten Totalität irgend etwas sich absondere oder in Gedanken
abgesondert werde, dies ist eine Frage, welche hier noch nicht beantwortet
werden kann, da wir vielmehr beweisen, daß eine solche Absonderung
nicht an sich möglich und vom Standpunkt der Vernunst aus salsch
ist, jaDiese
(wie Erläuterung
sich wohl einsehen
ist sürläßt)
den dieStandpunkt
Quelle allerderIrrthümer
Identitätslehre
sei.'"
Potenzen des ErkennenS. Daher sagt Schelling: „Die Form der Sub-
ject-Objectivität ist nicht actu, wenn nicht eine quantitative Differenz
beider gesetzt ist". Was der Welt zu Grunde liegt und deren inner
stes Wesen ausmacht, ist die Vernunst (das Erkennen als Einheit des
Subjectiven und Objectiven), die ursprüngliche, nicht in der Entwick
lung begriffene, nicht disserenzirte Vernunst, sondern die Vernunst ohne
alle quantitative Differenz des Subjectiven und Objectiven, also die
Einheit oder Identität beider in völliger Indifferenz. Nur meine
man nicht, daß jetzt die Vernunst als Weltvrincip und die Vernunst
als Weltproceß sich verhalten, wie Potentia und Actus, dieser Unter
schied sällt in die Entwicklung und berührt nicht die absolute Identität,
„diese ist actu, so wie sie nur potentia ist", es ist daher kein Unter
schied zwischen der absoluten Identität und dem Universum, außer der,
daß man die Gleichung, wenn man sie umkehrt, einschränken und sagen
muß: „das Universum sei die absolute Identität dem Wesen und der
Form ihres Seins nach betrachtet".'
2. Der erneuerte Spinozismus und die Grundsormel des Systems,
Wir haben in dieser Gleichsetzung des Absoluten mit dem Uni
versum den Punkt vor uns, in dem Schellings Lehre sich einverstanden
weiß mit der pantheistischen Gruudanschauung Spinozas, sie ist an
keiner Stelle ihrer Entwicklung der letzteren so nahe gekommen wie
hier, wo sie nach Inhalt und Form sich als ein nener Spinozismus
darstellt und das Ziel erreicht zu haben scheint, welches Schelling in
der Vorrede seiner ersten philosophischen Schrist verkündet hatte: „Ich
dars hoffen, daß mir noch irgend eine glückliche Zeit vorbehalten ist,
in der es mir möglich wird, der Idee, ein Gegenstück zu Spinozas
Ethik auszustellen, Realität zu geben". Nach den Briesen über
Dogmatismus und Kriticismus schrieb er an Hegel: „Nun arbeite ich
an einer Ethik d, Is Spinoza, sie soll die höchsten Principien aller
Philosophie ausstellen". Er betrachtet jene Briese selbst als ein Vor
zeichen seines gegenwärtigen Systems und bemerkt, daß „ihr Sinn jetzt
vielleicht eher ausgehen möchte, als es bei ihrer ersten Erscheinung der
Fall sein konnte". * Die obigen Sätze über die Natur der einzelnen
Dinge, deren jedes determinirt ist durch ein anderes, deren endlose
' Ebendas. §8 24. 32, § 33 Anmerk. - ' S. oben Buch ll. Cup. I. S. 286.
Vgl. Ueber das absolute Identitätssystem und sein Verhältniß zu dem neusten
(Reinholdischen) Dualismus. Ein Gespräch. S. W. I. Abth. Bd. V. S. 26.
Das System ber absoluten Identität. 567
der anderen Seite gesetzt wäre: es ist daher nothwendig, daß es aus
beiden Seiten zugleich gesetzt ist, also in Wahrheit nichts anderes ift
als wiederum die quantitative Indifferenz selbst. „Es kann weder das
«ine noch das andere an sich, sondern nur das Identische mit über
wiegender Subjectivität und Objectivität zugleich in der quantitativen
Indifferenz beider gesetzt werden/"
Das Uebergewicht jeder der beiden Seiten begreift in sich eine
Reihe von Potenzen, die überwiegende Objectivität bestimmt den durch
gängigen Charakter der reellen, die überwiegende Subjectivität den
der i deellen Reihe. Nun sind Subjectivität und Objectivität im Wesen
eines und dasselbe, daher verhalten sich jene beiden Reihen als einander
völlig gleiche und entgegengesetzte Größen, die sich gegenseitig zur völ
ligen Indifferenz ausheben. Schelling veranschaulicht sie in dem Schema
zweier gerader Linien von gleicher Größe und entgegengesetzter Richtung,
begriffen als gleiche Hälsten in einer geraden, deren Mittelpunkt die
Indifferenz darstellt. Wird die letztere durch die Gleichung ^-
die quantitative Differenz durch - L lA - Subjectives, L - Objec
tives), das Uebergewicht mit ^ bezeichnet, so haben wir solgendes
Schema, welches Schelling sür die Grundsormel seines ganzen Systems
«klärt : ^
«
Diese Linie vergleicht sich dem Magneten, der in der Mitte den
Indifferenzpunkt, an den Enden entgegengesetzte Polarität zeigt, jeder
Theil der magnetischen Linie ist wieder Magnet mit denselben Eigen
punkt
schastensein,
der soIndifferenz
daß an diesem
und Schema
Polarität,desjeder
Systems
Punktsichkann
deutlich
Indifferenz-
darstellt,
punkt,
ihn zuvorin von
welchen
ganz nur
entgegengesetzten
der recht sest Richtungen
und sicher her
sich construirt
stellen kann,
hat.'"
der
4. Potenzen - Ideen.
Der bewegende Inhalt und das durchgängige Thema der Welt,
welches Schelling durch die Formel ^ ----- L (relative Identität) oder
als das sich potenzirende Subject-Object bezeichnet, ist das Selbst-
erkennen. In der absoluten Identität ist das Selbsterkennen ellig
vollendet, in der Welt ist es in der Entwicklung und in der Vollen
dung begriffen, sortschreitend von Stuse zu Stuse, von Potenz zu
Potenz. Iede dieser Potenzen stellt die Identität dar aus eine be
stimmte Weise, d. h. eine Art derselben. Aus der Idee des Selbft-
erkennens solgen alle seine Arten, d. h. alle Arten der Identität, diese
Arten sind die ewigen Ideen; aus der Entwicklung des Selbsterken-
nens solgen diese Ideen als Potenzen oder Naturproductionen. Dieser
Zusammenhang der Ideenlehre und der Potenzlehre, diese Identität
der Ideen und Potenzen giebt erst die vollständige Erleuchtung der
Schellingschen Identitätslehre, die daraus angelegt ist, den Spinozis-
mus mit dem Platonismus zu vereinigen/ und diese Anlage ist auch
in der Darstellung des Systems vom Iahre 1801 zwar nicht ausge
sührt, aber im Fundament enthalten. Es heißt am Schluß der grund
legenden Sätze: „In ^ - L (als relative Identität gedacht) ist die
absolute Identität nun überhaupt unter der Form des Selbsterkennens
gesetzt, sie wird in Ansehung des ursprünglich Objectiven begrenzt durch
das Subjective, wir nennen die Richtung, in welcher L als unendliche
Extension begrenzt wird, die Richtung nach außen, die, in welcher ^
allein begrenzt werden kann, die Richtung nach innen. Nun ist aber
die absolute Identität als ein unendliches Selbsterkennen gesetzt, es
kann also auch nichts (z. B. Begrenztheit) in ihr überhaupt sein, was
nicht auch unter der Form des Selbsterkennens gesetzt würde, und
dies wird nothwendig und so lange sortgesetzt werden müs-
luten die Welt, aus dem absoluten Selbsterkennen das relative, aus
dem absoluten Sein das Werden, aus den Ideen die Potenzen, aus
der totalen Indifferenz des Subjectiven und Objectiven die quantita
tiven Differenzen? In allen diesen Wendungen ist der Punkt der Frage
derselbe. Es wird erklärt: das Einzelne sei außerhalb der absoluten
Totalität, außerhalb der absoluten Totalität sei nichts, die absolute
Identität sei nicht die Ursache des Universums, sondern dieses selbst,
jede Absonderung der Dinge sei eine heuristische Abstraction, nur mög
lich aus einem Standpunkt, dem die wahre Erkenntniß. die Anschauung
des Universums sehlt; die Identität könne nicht aus sich heraustreten,
es habe keinen Sinn, nach einem Uebergange vom Absoluten zum
Universum zu sragen. Ein solcher Uebergang ist nicht, denn er ist
unmöglich. Die Vorstellung, daß die Welt außerhalb des Absoluten
sei, ist sür die wahre Erkenntniß ungültig. Doch ist die Gleichsetzung
des Absoluten und der Welt kein identisches Urtheil, welches die Umkeh
rung ohne weiteres erlaubt: das Absolute ist gleich dem Universum;
das Universum ist nicht ebenso gleich dem Absoluten, d. h. die Welt
ist im Absoluten, ohne mit demselben einsach identisch zu sein. Hier
stehen wir vor einem neuen Problem, welches die Darstellung des
Systems andeutet, aber nicht löst.
2. Die Natur als Grund.
Wir wollen den Punkt, bis zu welchem die Darstellung das Pro
blem gelöst haben will, verdeutlichen. Um in Schellings Formeln zu
sprechen, setzen wir die Form der absoluten Identität gleich der quan-
' Darst. m. Syst. d. Philos, § 50 Zusatz. Erl. 1. S. W. I. 4. S. 139-141.
Z64 Das System der absoluten Identität.
Lbentms. § 24.
Das Syst. d. Wissensch, als Meth.'Lehre d. akad. Stud. Akad, u. Philos. S6Z
Dreiunddreißig st es Capitel.
Äas System der Wissenschaften als Mcthodcnlehre des akademischen
Studiums. ^. Akademie und Philosophie.
I. Das
Das Identitätssystem
Verhältniß der Philosophie
und daszu akademische
den sogenannten
Studium.
positiven
Wissenschasten war das Object der letzten Frage gewesen, die Kant
untersucht, als den „Streit der Facultäten" gesaßt und von seinem
Standpunkt aus entschieden hatte. Es war nicht zusällig, daß er diese
Frage ergriff, denn sie lag in den Grundproblemen seiner Epoche.
Daß er sie aus seiner persönlichen Lebensersahrung heraus dem Cha
rakter und der Versassung der deutschen Universitäten anpaßte, min
derte nicht ihre principielle Bedeutung, sondern vermehrte dieselbe durch
das
rischeGewicht
Ansicht der
von praktischen
der Wissenschast
Anwendung.
im Ganzen
Einemuß
neueunwillkürlich
und resormato-
eine
leuchtet werden, welche die Zukunst zu lösen hat: lauter Posstulate sür
die akademische Iugend, das echte Thema einer akademischen Methoden
lehre, die darum aus jenem System ebenso nothwendig hervorgeht, als
sie ohne dasselbe niemals zu geben ist,
Diese erste Forderung ist ebenso zeitgemäß wie nothwendig, denn
alles drängt in Kunst und Wissenschaft zur Einheit. Ersüllt werden
kann die Forderung selbst nur durch Philosophie, durch eine solche,
welche die Einheit der Wissenschasten begriffen hat, nicht mehr ein todtes
Aggregat, eine große Fabrik vor sich sieht, sondern den lebendigen
Baum der Erkenntniß, entsprossen aus einer Wurzel, verzweigt in die
verschiedenen Wissenschasten, die aus einem Urprincip hervorgehen.
Diese Ausgabe ist gelöst in dem Identitätssystem . worin das Ur
princip erkannt ist als die absolute Vernunst, das ewige Subject-Object,
das Urwissen, das sich im Universum offenbart, in der Entwicklung
des Wissens, in dessen Allheit. „Das Absolute ist das urbildliche, vor
bildliche, ewige Wissen; das Wissen in seiner Allheit ist dessen Abbild.
Jeder Gedanke, der nicht in diesem Geiste der Einheit und Allheit
gedacht ist, ist in sich selbst leer und verwerslich, sruchtloses und
unorganisches Werk. „Alles Wissen ist Streben nach Gemeinschast
mit dem göttlichen Wesen, ist Theilnahme an demjenigen Wissen,
dessen Bild das sichtbare Universum und dessen Geburtsstätte das Haupt
der ewigen Macht ist." Nichts ist wirklich als das Wissen in seiner
Ewigkeit und in seiner Entwicklung: dies ist der Grundgedanke des
ganzen Systems, diese Einheit des Idealen und Realen, diese voll
kommene oder absolute Identität beider. Von diesem Gedanken lebt
jede Wissenschast, sie hat ihn zum Ziel und zur Voraussetzung, gleich
viel ob mit oder ohne bewußte Einsicht; jede strebt in ihrem Gebiet
nach vollster Uebereinstimmung des Gedankens mit dem Object, ein
Ziel, das ohne die wirkliche Identität beider absolut unerreichbar wäre,
ohne die bewußte oder unbewußte Voraussetzung derselben gar nicht
erstrebt werden könnte. In der Welterkenntniß, „dem Bilde der gött
lichen Natur", vollendet sich die Weltentwicklung, ersüllt sich der innerste
Weltzweck, ergänzt und vervollständigt sich die Offenbarung Gottes im
Universum. Darum ist das Wissen Selbstzweck und keineswegs blos
Mittel zum Handeln, wie eine ganz äußerliche und utilistische oder
eine unvollkommene, noch in den Gegensätzen von Wissen und Handeln
annahm: die erste Form ist die Renaissance, die zweite die todte Ge
lehrsamkeit. Dort war die Ausgabe das Verstehen. Bewundern, Cr
liaren der vergangenen Herrlichkeit, das Studium der Wissenschasten
und Künste wurde zu einer Art Religion, das gründlichste Genie ergoß
sich in diese Kenntniß; hier dagegen wurde das historische Wissen an
die Stelle des Wissens gesetzt, der Zugang zum Urbilde dadurch
verschlossen und jeder Idee um so höheres Ansehen gegeben, je mehr
sie blos historisch, je älter ihre Vergangenheit, je größer die Zahl
der Köpse war, die sie im Lause der Zeit passirt hntte.>
In diesem Geist des historischen Wissens sind unsere Akademien
entstanden. Ihre wissenschastliche Organisation ist durchaus bedingt
durch den Charakter und die Richtung einer blos historischen Gelehr
samkeit, die das Wissen von seinem Urbilde trennt. Mit dieser breiten
Gelehrsamkeit, die zu dem vergangenen Wiffen das vergangene sügte,
wuchs die Maffe des Lernstoffs, es solgte die Verzweigung des Wiffens,
die Zersaserung bis ins Kleinste, die Zerstückelung des Ganzen, die
Isolirung der Theile. Daher der Widerstreit zwischen dem vorhandenen
Zustand der Universitäten und dem Geist der neuen Philosophie. Ietzt
entsteht die Frage, die den Schwerpunkt der Ausgabe enthält: wie
lann aus dieser durchgängigen Trennung im Einzelnen
wieder die Einheit des Ganzen entspringend
Das Wiffen und seine Ausbildung ist der alleinige und absolute
Zweck der Universitäten, entweder haben sie gar keinen oder diesen.
Nur die Wissenschast soll gelten, kein anderer Unterschied als der des
Talents und der Bildung, keine andere Versassung als die Herrschast
der Besten, die Aristokratie in edelstem Sinn. In demselben Maß,
als das Wissen lebendiger Natur ist, hat es den Trieb, den allge
meinen und öffentlichen Geist zu durchdringen. Wollen die Universi
täten Pslanzschulen des Wissens sein, so müssen sie auch allgemeine
Vildungsanstalten werden. Daß sie noch nicht einmal angesangen
haben, das letztere zu sein/ ist eine Folge der Rohheit des Wiffens. ^
Der vorhandene Zustand der Universitäten als Traditionsanstalten
einer todten Gelehrsamkeit ist veraltet und abgelebt. Es muß in
einem neuen Geist gelehrt und gelernt werden: die erste Forderung
richtet sich an die akademischen Lehrer, welche die permanente Körper
schast der Universität ausmachen, die zweite an die Studirenden. Nach
> Ebendas. II. S. 223-27. - ' Ebenoos. II. S. 227 ff. - ' Ebendos. II.S. 235-38.
570 Das System der Wissenschasten nls Methodenlehre des alndemischen Studium.
Was heißt akademisch lehren? Die Frage geht aus die Materie
und Form des Vortrags. Das besondere Fach soll im Geiste des
Ganzen gelehrt, d. h. nicht etwa als Nebensache oder bloßes Mittel
behandelt werden, sondern die wissenschastliche Ausbildung dieses Fachs
soll der alleinige Zweck sein, aber eben diese Ausbildung ist unmöglich
ohne Einsicht in den lebendigen Zusammenhang des einen Fachs mit
den anderen. Man vergegenwärtige sich nur den Zustand der obj«-
tiven Wissenschasten, wie sormlos sie sind, wie stumps und ohne alle
Erhebung über das Vesondere, ohne Ausdruck auch nur der logischen
Gesetze und Ordnung des Denkens, ohne eine Ahndung von Kunst.
gerichtet blos aus die äußere Vollständigkeit des Materials, ohne jede
Krast der Gestaltung. Der Berus des Lehrers ersordert höhere als
Handwerkertalente, die sich blos mit der Scholle beschästigen. »Das
Abpslöcken der Felder der Wissenschasten", sagt Lichtenberg, »mag
seinen großen Nutzen haben bei der Verkeilung unter die Pächter,
aber den Philosophen, der immer den Zusammenhang des Ganzen vor
Augen hat, warnt seine nach Einheit strebende Vernunst bei jedem
Schritte, aus keine Pflöcke zu achten, die ost Bequemlichkeit und oft
Eingeschränktheit eingeschlagen haben.">
Auch der überlieserte Stoff soll mit Geist gelehrt werden. Dies
geschieht nie durch ein bloßes historisches Reserat, das. eine Folge des
eigenen Unvermögens, stets geistlos ist und darum geisttödtend; der
Vortrag sei lebendig, nachersindend, reproductiv. die Lehrart genetisch,
so daß im Geiste des Zuhörers das überlieserte Object von neuem
entsteht. Mit dem bloßen Ueberliesern ist das Wenigste geleistet, ja
es ist in manchen Wissenschasten und in vielen Fällen nicht einmal
im gewöhnlichen Sinn richtig, sondern durchaus salsch. „Wo ist denn
diejenige historische Darstellung der Philosophie der alten Zeit oder
nur eines einzelnen Philosophen der alten und selbst der neuen Nett,
die
stellung
man mit
als Sicherheit
eine gelungene,
bezeichnen
wahre,
könnte?"^
ihren Gegenstand erreichende Tar-
> Vbendas. II. S. 234-235. - ' Ebendas. II. S. 233. - ' Ebendas. II.
S. 229 ff. - < Ebendas. II. S. 228.
S72 Das System der Wissenschasten als Methodenlehre des akademischen Studiums.
' Ebendas. S. 239-243. II. S. 236. Vgl. Meine Rede über das »kad.
Studium. S. 8-l5. S. 17 ff. - ' Vories, über die Methode des akad. Stud.
Vorles, I V. S. 248-250.
b74 Das System ber Wissenschasten als Methodenleh« des akademischen Etubiu»«.
Ideen, das der zweiten die Größen. Das mathematische Object ent
steht durch die Construction, daher besteht in dieser das Wesen des
Construirten. Wie Raum und Zeit Abbilder (Universalbilder) des
Absoluten sind, so sind die mathematischen Formen Sinnbilder der
Ideen, Symbole, zu deren Enträthselung nur die Philosophie den
Schlüffel enthält.»
Die Philosophie ist die Grundlage aller wiffenschastlichen Bildung
und gilt in dieser umsassenden Bedeutung als Object des akademischen
Studiums. Nun giebt es Einwürse, die das Studium der Philosophie
überhaupt angreisen, es giebt solche, die sie innerhalb der Wiffenschaft
einschränken und ihr gewiffe Gegenstände entziehen wollen, ob mit Recht
oder Unrecht, kann nur aus dem Begriss und der Ausgabe der Philo
sophie selbst ausgemacht werden. Darum wird erst von den Bedenken
gegen das philosophische Studium, dann von diesem selbst, zuletzt von
den Einschränkungen der Philosophie die Rede sein müffen.'
2. Die Einwendungen gegen das Studium der Philosophie.
Die Philosophie soll die Religion, den Staat und das Studium
der Wissenschasten selbst gesährden. Wie grundlos die erste dieser
Anklagen ist. wird aus einem der solgenden Vorträge erhellen, der die
Ausgabe hat, das Verhältniß der Philosophie zur Religion sestzustel
len. Was die politischen Bedenken angeht, so tressen diese so wenig
> Vorles. IV. S. 250—255. Vgl. Fernere Darstellungen aus dem System
der Philosophie. (Neue Zeitschr, s. specul. Physil. II. I.) 2. W. I. Bd. 4. S. 346,
363 ss. S. 369 Anmerkung. - ' Vorles, über die Methode des alad. Studiums.
Vorles. IV. S. 256.
Akademie und Philosophie.
die wahre Philosophie, daß sie vielmehr von ihren Gegnern gelten, die
bei der Menge das große Wort sühren und unter dem Namen der
Ausklärung den der Philosophie usurpirt haben. Nichts kann dem
Staate verderblicher sein als eine Ochlokratie: aus der geistigen solgt
die bürgerliche, und was ist die geistige Ochlokratie anders als jene
Herrschaft des gemeinen ideenlosen Verstandes, welche die Ausklärung
begründet hat, die von Frankreich ausging? Nichts ist sür die Grund
lagen des Staates untergrabender als die Nützlichkeitslehre, welche die
Ausklärung aller Orten predigt; der menschliche Nutzen ist wandelbar,
und wenn nach diesem Maßstab das Gemeinwohl bestimmt wird, so
steht es schlimm um die Sicherheit des Staats. Ist doch der Cultus
des Nutzens und der Dienstbarkeit der Dinge der Welt so zu Kopse
gestiegen, daß es schon Herrscher giebt, die sich schämen Könige zu sein
und nur noch die ersten Bürger sein wollen.' Man sieht, daß keine
geringeren Männer als Voltaire und Friedrich der Große die Ziel
scheiben sind, welche Schelling bei diesen Aussällen gegen die Ausklärung
des Zeitalters im Sinn hat. Es sind nur wenige Iahre vergangen,
daß er dem Geiste der sranzösischen Revolution sich innigst verwandt
sühlte, auch hat der Ursprung seiner Philosophie diese Verwandtschast
keineswegs verleugnet ; jetzt weicht der Enthusiasmus sür die Revolution
dem Widerwillen gegen die Ausklärung, vielmehr mischen sich in seiner
Denkart diese beiden einander scheinbar entgegengesetzten Züge, und es
giebt unter Schellings Schristen kaum eine andere, in der sie so augen
scheinlich verwebt sind, als in den Vorlesungen über die Methode des
akademischen Studiums.
Daß die Philosophie die Wissenschasten bedrohe, indem sie der
Iugend die sogenannten positiven Studien verleide, ist ein so nichtiger
Vorwurs, daß Schelling die Gegner von dieser Seite mit Ironie be
handelt, denn das Interesse am Wissen, welches eins ist mit dem Sinn
sür Philosophie, kommt allen Wissenschasten zu Gute und weckt den
Erkenntnißtrieb in jeder Richtung. Wäre die Philosophie in der That
eine so schädliche Sache, wie sie die warnenden Gegner schildern, so
müßte man sie gründlich kennen lernen, um sich von einem solchen
Uebel gründlich zu bewahren. Unter den bedenklichen Eigenschasten
der Philosophie wird besonders aus ihre geringe Stabilität hingewiesen,
sie habe in der jüngsten Zeit so schnell ihre Systeme gewechselt, daß
der Ansang vom Ende schon zu sehen sei, daß sie nur noch sür ein
Spiel der Mode gelten könne, unwerth jeder ernsten Beschästigung.
Das nahe Ende möge man abwarten, wie der Bauer am Fluß steht
und wartet, bis er vorüber ist, um trockenen Weges zu wandeln; und
was den schnellen Wechsel der Mode betrifft, so mögen die Gegner,
die ja am wenigsten altmodisch sein wollen, sich beeilen, die neuste
mitzumachen, bevor es zu spät ist> In Wahrheit ist diese oberfläch
lichste aller Ansichten ein Zeichen völliger Unkenntniß. Es giebt einen
philosophischen Kunsttrieb, wie es einen poetischen giebt; je entzündeter
dieser Trieb, je geschärster der Sinn des Philosophirens, um so schneller
der Fortgang. So muß es sein und so verhält es sich in der Gegen
wart. Dieser Fortgang will von innen heraus erkannt und beurtheilt
sein. Man muß die Philosophie studiren, um sie zu kennen, um
das Wesen vom Schein, das Echte vom Unechten zu unterscheiden;
entweder sind jene Veränderungen nur scheinbar und haben nichts
mit dem Wesen der Philosophie zu thun, oder sie sind, wie es gegen
wärtig der Fall ist, wirkliche Umgestaltungen, die aus dem Wesen der
Philosophie hervorgehen und mit schnelleren Schritten als je das letzte
Ziel suchend
3. Das Studium der Philosophie,
Es ist daher zum Studium der Philosophie nothwendig, daß man
die unechten Formen, aus denen keinerlei philosophische Bildung fließt,
von den echten absondert und innerhalb der letzteren die beschränkte
Speculation von der universellen unterscheidet.
Iede Philosophie ist unecht, die eine bloße Fiction. ein abstractes.
unwirkliches Ding zum Gegenstand ihrer Untersuchungen macht, wie
die gewöhnliche, von der Physik abgesonderte Psychologie, welche die
Seele sür eine dem Leibe entgegengesetzte Substanz hält, von der sie
dann dieses und jenes zu erzählen weiß. Iede Philosophie ist unecht,
die gewisse Thatsachen, statt sie entstehen zu lassen, voraussetzt, erzählt
und Behauptungen daraus gründet; es ist gleichgültig, ob diese Vor
aussetzungen „Ansichten des gemeinen Verstandes" oder „Thatsachen
des Bewußtseins" heißen, ob sie dogmatisch oder skeptisch in Anspruch
genommen werden: die gewöhnliche Ersahrungsphilosophie und der
daraus gegründete Skepticismus, die Lehre des gemeinen Verstandes,
den die Unphilosophie den gesunden nennt, und die daraus gegründete
Vierunddreißigstes Capitel.
L. Falultiiten und positive Wissenschaften.
Philosophie. Der Schwerpunkt liegt darin, daß hier zum ersten mal
der historische Charakter der Religion philosophisch durchdrungen und
das Verhältniß der göttlichen Offenbarung zur Geschichte aus der
Tiese der Gotteserkenntniß erleuchtet wird, in einer Weise, die mit
Lessing übereinkommt, aber das Fundament ihrer Anschauung ungleich
tieser und systematischer gelegt hat. Der Begriff der Geschichte, wie
ihn das System des transscendentalen Idealismus bestimmt, und die
Idee des Absoluten, wie das Identitätssystem dieselbe sestgestellt hat,
bilden die Grundanschauung, aus welcher Schelling die theologische Frage
seiner akademischen Methodenlehre saßt und auslöst.
Das Object der Theologie ist die Religion, näher die christliche
und deren gegenwärtiger Entwicklungszustand. Schon dadurch ist der
historische Charakter der Theologie bestimmt, sie hat es mit einem
geschichtlich gegebenen und zunächst nur geschichtlich erkennbaren Objecte
zu thun. Wenn aber der christlichen Religion nicht eine ewige Wahr
heit und Nothwendigkeit inwohnte, so könnte weder von einer abso
luten Geltung noch von einer wiffenschastlichen Erkenntniß derselben
die Rede sein; sie will zugleich in ihrer historischen Realität und in
ihrer ewigen Nothwendigkeit begriffen werden. Daher bildet „die histo
rische Construction des Christenthums" das positive Thema der Theo
logie. Diese Construction ist zu geben und durch sie die Richtschnur
sür „das Studium der Theologie".>
Der historische Charakter der christlichen Religion dringt tieser
und betrisst nicht blos deren Ursprung und Entwicklung bis zur Gegen
wart, sondern den Glaubensinhalt selbst. Für den christlichen Glauben
ossenbart sich das Göttliche nicht als Natur, sondern als sittliches
Weltreich, als Geschichte. Diese letztere erscheint hier als beherrscht
nicht vom Schicksal, auch nicht vom Naturgesetz, sondern von der Vor
sehung, von dem göttlichen Zweck der Welterlösung. und bildet dem
gemäß ein Thema von ewigem Inhalt. Zum ersten mal erleuchtet sich
im religiösen Gesichtskreis die Weltgeschichte. Darin besteht „die große
historische Richtung des Christenthums". Ietzt erst giebt es eine reli
giöse Erkenntniß der Geschichte, darum auch eine wissenschastliche Er-
kcnntniß der Religion. ^
Hieraus erhellt der durchgreisende Gegensatz zwischen Alterthum
und Christenthum. Die griechische Religion verhält sich zur christlichen.
> Vorles. VIII. S, 286 ff. - ' Ebendas. S. 290 ss., 292.
582 Das System ber Wissenschasten als Methadenlehre des akademischen Studiums.
wie die Natur zum Geist: dort erscheint das Göttliche in Natursormen
verhüllt, hier hat es die Hülle durchbrochen und abgelegt und offenbart
sich in seinem wahren Wesen. Die Natur ist die offene, unmittelbar ein
leuchtende Erscheinung, das Göttliche in seiner exoterischen Gestalt: in
dieser Rücksicht ist der religiöse Charakter des Heidenthums eroterisch.
der des Christenthums esoterisch. Was dagegen das verborgene Wesen
der Gottheit, das eigentliche Mysterium der Welt betrifft, so ist da5
Heidenthum das verschlossene und verhüllte, das Christenlhum das ge-
offenbarte und lautgewordene Mysterium: dort geschieht die Offenba
rung im Aeußeren der Natur, hier im Innersten des Menschen, daher
ist sie dort symbolisch, hier mystisch; dort ist die Natur in Beziehung
zum Göttlichen bildlich, hier allegorisch, d. h. etwas anderes
bedeutend, als sie selbst ist. In der Naturreligion ist der Geist das
verschlossene Mysterium, im Christenthum ist es die Natur, denn in
Absicht aus die Welterlösung erscheint die Natur zunächst als ein un
durchdringliches Geheimniß. Dieses Geheimniß zu durchdringen, ist
die Ausgabe der höchsten Religionserkenntniß. Die Natur ist in dem
Processe der Welt und Welterlösung begriffen und daher in dieser ihrer
religiösen Nothwendigkeit zu begreisen. Was wäre auch die Welter
lösung ohne Erlösungsbedinsniß in der Welt, ohne Unsreiheit, ohne die
Fessel der Nothwendigkeit, die das Naturgesetz schmiedet? Was wäre
die Versöhnung mit Gott ohne die Trennung von ihm, die kraft der
Natur gesetzt wird? Was wäre die Menschwerdung Gottes ohne
die
heimniß
Menschwerdung
der Gottheit, in
derdieser
Natur?
das der
InNatur.
jeuer offenbart
„Die höchste
sich das
Religio
Ge»
entzogen, so dürste sie dabei noch eine tiesere als blos politische Absicht
gehabt haben: die Wahrung der lebendigen Religion !^
In der sortschreitenden Entwicklung des Christenthums war der
Protestantismus eine nothwendige und läuternde Epoche, die aber
durch den Bruch mit der Kirche, durch die biblische Begründung des
Glaubens und die Herrschast seiner Glaubenssatzungen und Symbole
eine Reihe neuer Hemmungen mit sich sührte und an die Stelle der
lebendigen Autorität die todte treten ließ. So verkümmerte die Uni
versalität der christlichen Idee. Der Protestantismus ist unsähig, eine
Kirche zu bilden: er ist „antiuniversell" und darum der Sectenspaltung
preisgegeben. ^ Der Protestantismus verhält sich zum Katholicismus,
sagt Schelling in einer andern Schrist, wie die kritische Philosophie
zur dogmatischen, er lebt von seinem Gegensatz und sällt mit dessen
Vernichtung; „der Protestantismus kann darum nie universell werden,
weil, wenn er es würde, nichts mehr sein würde, wogegen er proteftiren
könnte." ^ Unter der Herrschast des Bibelglaubens verwandelt sich die
Theologie in Philologie und Exegese, die Sprachgelehrsamkeit wird zum
Palladium der Rechtgläubigkeit ; die psychologischen und moralischen Aus
legungskünste, womit das Uebernatürliche aus den biblischen Urkunden
sortgeschasst wird, gelten als Triumphe wissenschastlicher Erklärung.
Das Volk wird abgespeist mit dem moralischen Unterricht und der nützlichen,
auch ökonomisch brauchbaren Predigt. So ist eine Theologie entstanden,
die sich Rationalismus nennt und von der Wissenschast wie vom
Leben nichts übrig behalten hat, das religiöser Natur wäre/
Aus diesem gesunkenen Zustand soll sich die Theologie erheben
und wahre Religionscrkenntniß werden im Geiste des Christenthums
und der neuen Zeit. Die Kette, die sie an den Schriftglauben sesselt,
ist zu lösen und die Auslegung der biblischen Bücher, wie die kritischen
Untersuchungen über deren Echtheit und Unechtheit vollkommen sreizu
geben; es sind nicht theologische, sondern philologische Fragen, um die
es sich dabei handelt. Die Ausgabe der neuen Theologie ist die Wie
derherstellung einer universellen Religionssorm. Die Orthodoxie hat
diese Form geschaffen, aber kann sie nicht serner erhalten, denn in ihr
besteht das populäre und exoterische Christenthum; jetzt ist die Zeit
' Ebendas. S. 300 ff. - ' Ebenda?. S. 30l. - » Fernere Darstellungen aus
dem Syst. der Philos. S. W. I. Bd. 4. S. 350 ff. - « Vories, über die Methode
des akad. Stud. IX. S, 301-303.
L, Facultäten und positive Wissenschasten. 58?
ist esoterisch und exoterisch. sie erkennen heißt sie enthüllen. ^ Daher
muß sich die Naturwissenschast von dem empirischen Standpunkte zum
philosophischen erheben. Wird das Wesen der Natur ohne Rest in die
äußeren Erscheinungen und den Mechanismus der Körperwelt ausge
löst, so bleibt nur zweierlei übrig : man muß den Geist dann entweder
verneinen oder der Natur entgegensetzen; das erste geschieht in der
atomistischen (epikureischen) Lehre des Materialismus, das zweite in
der dualistischen Descarles'. Beide sind unsähig. Leben und Organismus
zu erkennen. Die Natur lebt, die Begrisse der empirischen Natur
wissenschast sind todt; in dem Bemühen, das Naturleben zu sassen,
gleichen jene Begriffe dem Strohhalme, der sich dem Durchbruch des
Oceans
keit stehtentgegenstellt.
die lebendige^ Natur
In ihrer
demEinheit
Wissen und
gegenüber,
unbedingten
wie das
Nothwendig-
Schicksal
dem Handeln, und wie der Kamps des tapseren Mannes mit dem
Verhängniß ein Schauspiel sür Götter, so ist das Ringen des Geistes
nach der Anschauung der ursprünglichen Natur und des ewigen Inneren
ihrer Erscheinungen ein nicht minder erhebender Anblick. Ohne die
siegreiche Ersüllung dieses Kampses bleibt die Begierde nach Erkennt
nis, der Dinge unbesriedigt und das Streben darnach in der Tiese
des menschlichen Gemüthes gespannt, harrend und drängend, daß die
verschlossenen Psorten der Natur sich misthnn. Hier empsindet Echel-
ling die Verwandtschast der Naturphilosophie und ihrer Ausgabe mit
dem Streben des Goetheschen Fanst, der damals erst als Fragment
bekannt war. „In diesem eigenthümlichsten Gedicht der Deutschen hat
der Dichter einen ewig srischen Quell der Begeisterung geöffnet, der
allein zureichend war, die Wissenschast zu dieser Zeit zu verjüngen
und den Hauch eines neuen Lebens über sie zu verbreiten. Wer in
das Heiligthum der Natur eindringen will, nähre sich mit diesen Tönen
einer höheren Welt und sauge in srüher Iugend die Krast in sich, die
wie in dichten Lichtstrahlen von diesem Gedicht ausgeht und das In
nerste der Welt bewegt."'
Da die Erscheinungen der Körperwelt zu ihrer gemeinsamen Sub
stanz die Materie haben, so ist der wahre Begriff der letzteren die
Bedingung und Grundlage naturphilosophischer Erkenntniß. Es ist eine
grundsalsche Voraussetzung, welche der Materie nach der atomistischcn
> Vorles. XI. 2. 317 ff., 321. - eEbendas,S.3l8-323. -' Ebendas. S.325 ff.
Vgl. Meine Schrist über »Goethes Faust" (3. Ausl.) Buch I. Cap. I. S. ß. Buch II,
Cap. IV. S. 90-92.
s, Facultöten und positive Wissenschasten. 593
Annahme die Einheit und nach der mechanischen das innere Leben
abspricht, ein solcher unwahrer Begriff verdunkelt alles und ist der Tod
der Naturphilosophie, weil eine solche Materie der Tod der Natur
wäre; sie ist nicht als bloßes Object oder reine Realität zu sassen,
sondern als Subject- Object, d. h. als Selbstgestaltung und Selbstan-
schauung, als Verkörperung der Ideenwelt, als Production des Lebens,
das unmöglich aus dem Tode hervorgehen kann. ^ Die materielle Er
scheinung oer Ideenwelt ist das sichtbare Universum, der Weltbau,
das System der Centralkörper, welches unsere Sonnenwelt in sich begreist,
deren Gesetze Kepler entdeckt hat. Diese Gesetze sind nicht aus der
empirischen Voraussetzung einer centrisugalen und attractiven Krast
zu erklären, sondern unmittelbar aus der Vernunst selbst abzuleiten.
Aus die Identität der Weltkörper, näher aus die Uebereinstimmung
der Planeten mit den Producten der Erde gründet sich die physische
Astronomie. Diese Producte selbst sind ihrem ganzen Umsange nach
aus der Entwicklungsgeschichte der Erde zu begreisen, es wäre die Aus
gabe der Geologie, die Genesis aller in historischer Stetigkeit und
Wechselbestimmung darzuthun; eine solche Geologie bildet den Mittel-
und Ausgangspunkt der gesammten Naturgeschichte. ^ Die Materie
disserenzirt sich in Licht und Schwere, die sich im Reich der Materie
verhalten wie Seele und Körper; die inneren Thätigkeitsäußerungen
der Materie bilden den dynamischen Proceß, dessen nothwendige
Formen und Stusen in der magnetischen, elektrischen und chemischen
Thätigkeit zu erkennen und zugleich in ihrer Einheit zu begreisen sind;
sie werden nicht erklärt durch die hypothetischen Elemente imponde-
rabler Flüssigkeiten, die in einander geschachtelt sein sollen, der Aether
in den Poren des magnetischen Fluidums, dieses in den Poren des
elektrischen, welches selbst in denen des Wärmestosss untergebracht wird,
wie der letztere in denen des gröberen Stoffes der Lust. Die Dar-
ftellung des dynamischen Processes im Universum ist im weitesten
Sinn Meteorologie, die einen Theil der physischen Astronomie aus
macht. Wir dürsen uns kurz sassen, um nicht srühere Aussührungen
zu wiederholen. ^
' Vories. XII. S, 325, 332. XI. S. 32l. Vgl. oben Buch II. Cap. VII.
S. 321. - ' Vories, über die Meth. des akad. Stud. XII. S. 327-330. Vgl.
über den Weltbau oben Buch II. Cap. XVIII u. XIX. S. 399-405. Cap.
XXVI. S. 472 ff. - ' Vorlesungen über die Methode u. s. s. XII. S. 330
bii 334.
«. Fischer. Gesch. d, Vhilos. V« 38
594 Das Syst. d. Wissensch. als Meth.'Leh« d.ak.Stud. L. Facult. u. pos.Wiffensch.
Fünsunddreißigstes Capitel.
Das Universum als göttliches Kunstwerk. Das göttliche und
natürliche Princip der Dinge.
Aber es wird nicht blos der Gegensatz und die Ergänzung jener
beiden Reihen, sondern deren Einheit gesordert, die ein Ganzes
ausmacht: das Universum als Offenbarung des Absoluten. Unwill
kürlich drängt sich an der Stelle, die wir erreicht haben, das Bedürs
niß hervor, sich der einen, ungetheilten und ungebrochenen Weltanschau
ung der neuen Identitätslehre zu versichern und ihre Strahlen in einen
Punkt zu sammeln, aus dem sich das Ganze erleuchtet. Das Uni
versum ist weder blos natürliche noch blos geistige Welt, auch nicht
die Ergänzung oder Verknüpsung beider, sondern deren wesentliche und
durchgängige Einheit, es erscheint unter dem gegebenen Standpunkt
Schellings als ein göttliches Kunstwerk in lebendiger, sortschreiten
tischen
der Entwicklung,
Kunst, sich sich
enthüllend
vollendend
in der
in Philosophie
der genialen: Production
darum gilt die
der Natur
ästhc-
als „Verkörperung ewiger Ideen", der Staat als sittliches, die Kirche
als religiöses Kunstwerk, die Philosophie als „das wahre Organ der
Theologie", die Kunst als „das ewige Organon und Document der
Philosophie", die intellectuelle Anschauung als deren nothwendige Er-
kenntnißart. Denn alles künstlerische Erkennen besteht in einer ästhe
tischen Reproduction, einer nachschaffenden und nachdichtenden Einbildung,
die das Wesen der intellectuellen Anschauung ausmacht. Die Welt will
gleich einem Kunstwerk angeschaut und erkannt werden: sie ist es im
tiessten Sinne des Worts. '
Sobald man diesen Gesichtspunkt gesaßt hat, kann man nicht
mehr in unklarem Zweisel sein, mit welchem Recht und in welcher
Bedeutung Schelling das Vermögen intellectueller Anschauung zur
philosophischen Erkenntniß sordert. Nur diesem Sinn enthüllt sich und
nur ihm läßt sich einleuchtend machen die das Weltall schaffende und
durchdringende Kunst. Auch wird der Standpunkt Schellings keines
wegs durch den gewöhnlichen Einwurs erschüttert, daß die Welt nicht
nach der Analogie der menschlichen Kunst betrachtet werden dürse;
es handelt sich um das Wesen der genialen Kunst, die weit tieser
gegründet ist, als jener Einwurs überhaupt sieht, es handelt sich nicht
um Vcrgleichungen und Analogien gewöhnlicher Art, die im günstigsten
Fall bis zu einer gewissen Wahrscheinlichkeit reichen, sondern um eine
in der Identität wurzelnde und diese offenbarende Ubereinstimmung.
Hier wird die göttliche Kunst nicht nach Art der menschlichen, auch
' S. oben Buch II. Cap. XXVIII. S. 495 ff. Cap. XXXI. S. S34-S36.
Das göttliche und natürliche Princip der Dinge. ',97
nicht nach dem Vorbilde der genialen, sondern diese vielmehr aus dem
Wesen der göttlichen begriffen: eine Anschauung, die sich im Fortgange
der Ideen Schellings vertiest. Es wird der Zeitpunkt kommen, der
nicht sern ist. wo aus dem Wesen Gottes die menschliche Freiheit be
gründet, von hier aus jenes erleuchtet und die verpönte Analogie der
göttlichen und menschlichen Natur selbst zur Richtschnur lebendigster
und tiesster Gotteserkenntniß genommen wird.
Der spinozistischen
3, Das Vorbild
Weltanschauung
Brunos. Das
widerstreitet
Gespräch. die platonische
S. W. Abth. I. Bd. 4. Der erste Abschnitt S. 217-234, der zweite S. 234 bi«
807, die erste Hälste des dritten S. 307-321, die zweite S. 321-329. (P°ly.
hymnio bleibt stumme Figur, das ihm zugewiesene Thema deutet aus die unter»
bliebene Fortsetzung des Gesprächs.)
> S. W. I, Bd. 4. S. 217-226.
Das göttliche und natürliche Princip der Dinge. 601
Philosophie ist ihrem Wesen nach esoterisch, sie ist nothwendig geheim
und braucht nicht erst geheim gehalten zu werden, so wenig als die
Mysterien entweiht werden können. Das Thema beider ist dasselbe.
Eingedenk eines Ausspruches Spinozas läßt Schelling seinen Bruno
erklären: „Ich sage euch nicht sowohl, welche Philosophie ich sür die
beste halte, in Mysterien gelehrt zu reden, als von welcher ich weiß,
daß sie die wahre ist." *
2. Die Einheit der Gegensätze.
Nicht das System dieser Philosophie soll hier ausgesührt werden,
nur das Princip, „der Grund und Boden" dargestellt, aus dem sie
erbaut wird. Der Grundgedanke ist das absolut Erste, das allem
vorangeht. Wir kennen bereits die gegensätzliche Natur der Dinge;
da sie von allen Dingen gilt, so begreist sie auch alle Gegensätze in
sich; da sie nur von den Dingen gilt, so entspringt sie mit ihnen zu
gleich: daher ist das Erste, welches allem vorangeht, nothwendig gegen
satzlos, also Eines, die Einheit, aus der alle Gegensätze hervorgehen,
in der sie als solche nicht enthalten sind, also deren Indisserenz:
„die Idee dessen, worin alle Gegensätze nicht sowohl vereinigt, als
vielmehr Eins, und nicht sowohl ausgehoben, als vielmehr gar nicht
getrennt sind". Diese Einheit ist in Ansehung der Gegensätze nicht
relativ, sondern „absolut" und gilt nicht „beziehungsweise", sondern
„schlechthin".'
Die absolute Einheit der Gegensätze ist nothwendig auch die Ein
heit absoluter Gegensätze. Relativ entgegengesetzt sind solche, deren
Gegensatz in einem dritten aushört, so verhält es sich z. B. mit der
Mischung zweier Körper; absolut entgegengesetzt solche, die stets und
schlechthin getrennt sind und nie das eine übergehen kann in das andere,
so verhält sich z. B. das Object zu seinem Spiegelbild, das Urbild
zum Abbild. Der höchste aller Gegensätze, darum der allumsassende,
ist der des Idealen und Realen; daher kann das Princip der wahren
Philosophie nur in der absoluten Einheit oder Indifferenz dieser beiden
bestehen. Das Ideale wird gedacht, das Reale angeschaut, der Begriff
bildet eine Einheit, die Anschauung ist mannichsaltig, jener ist unend
lich, allgemein, generell, diese dagegen endlich, besonderer Art, individuell:
die Einheit des Idealen und Realen ist demnach die denkende An
schauung, welche Einheit und Vielheit, Unnendliches und Endliches,
' Ebendas. S. 226-235. - ' Ebendas. S. 235-237.
602 Das Universum als göttliches Kunstwerl.
von der ganz im Sinn und selbst nach den Worten Platos unser Bruno
sagt, sie sei „eine Gabe der Götter an die Menschen, die zugleich mit
dem reinsten Feuer des Himmels Prometheus aus die Erde brachte'.
Ieder Begriff hat seine bestimmte Stelle in der Ordnung aller, seinen
Ort in dem Hindus intMsswaliZ. höheren untergeordnet, niederen
übergeordnet. Es giebt darum nothwendig einen höchsten Begriff, der
alle in sich schließt. „Es muß von allem eine Idee und hinwiederum
alles in einer Idee sein." Die höchste Idee ist die absolute Einheit,
die Idee aller Ideen und als solche der einzige Gegenstand aller Phi
losophie. Diese Idee ist die Einheit der Wahrheit und Schönheit.>
bedeutend
Die Einheit
mit der der
des Wahrheit
Denkens und
und Anschauens.
Schönheit istdesvollkommen
Unendlichengleich-
und
Endlichen; es ist die ewige Einheit, in der Eines ist, was im zeit
lichen Erkennen nur vereinigt wird und darum den Charakter rela
tiver
setzungEntgegensetzung
verhält sich derbehält.
BegriffInnerhalb
zur Anschauung,
der Sphäre
wie das
dieser
Unbestimmte
Entgegen-
wenn sie identisch sind, daher ist in der ewigen Einheit kein Nichtsein.
Alles Nichtsein besteht in der Differenz des Möglichen und Wirklichen,
das ewige und lautere Sein in der Indifferenz beider.'
Hier aber drängt sich eine Frage aus, die, wie Lucian sagt, ties
in die Natur des Unbegreislichen sührt. Die Idee ist der ewig ange
schaute Begriff, in dem Unendliches und Endliches Eines sind. So be
greislich das Endliche in der Zeit ist, so unbegreislich erscheint es in der
Idee, im Ewigen, im Absoluten. Was bedeutet die ewige, absolute,
zeitlose Endlichkeit? In der Zeit ist jedes Endliche bestimmt durch
ein anderes, das wieder durch anderes bestimmt ist, es hat seine Mög
lichkeit außer sich, es entsteht und vergeht im endlosen Causalnerus
der Dinge; im Absoluten giebt es keine Zeit, keinen endlosen Causal
nerus, keine dadurch bedingte Endlichkeit, die Ideenwelt ist ein vollen
detes Ganzes, die Ideen sind nicht außer, sondern in einander, sie sind
ewig lebendig, jede trägt das Ganze in sich, das Endliche in der Idee
ist wie der organische Theil im organischen Leibe, nur unendlich voll
kommener; es ist im Ganzen begriffen, selbst Ganzes, es hat seine
Möglichkeit nicht außer sich, sondern in sich und daher die Macht, sich
vom Absoluten abzusondern und aus der Einheit des göttlichen Lebens
herauszutreten. Dann wird es „durch seinen eigenen Willen ein lei
dender und den Bedingungen der Zeit unterworsener Gott". In diesem
Punkt liegt das ir^sterirun magnum. Das Leben des Endlichen in der
Zeit ist eine That des Endlichen vor aller Zeit und wäre unmöglich, wenn
es nicht ein Endliches im Absoluten gäbe. Die Präexistenz des Endlichen
ist das Thema der heiligen Lehre in allen Mysterien. ^ (Setzen wir
diese Willensthat des Endlichen, diesen Willen zum Dasein als das
Erste, mit Niederschlagung aller Vorsragen, so haben wir das Princip
der Lehre Schopenhauers. ^
3. Die absolute Einheit als Princip des Wissens.
Die Antwort schließt eine neue Frage in sich. Die wahre Phi
losophie scheint die Grundbedingungen der kritischen vergessen zu haben,
denn ihr Princip ist aller Zeit, allem Werden, allem Bewußtsein völlig
entrückt. Es ist daher Lucian, der das Bedenken erhebt: „Wie du von
da zu dem Bewußtsein zurückkehrst, nachdem du es weit überflogen,
verlangt mich zu sehen". Wir hören Fichten reden, der Schellings Lehre
den Alles zurückkehrt." Eben diese Frage nach der Abkunst des End
lichen, die das Problem in der Wurzel saßt, hatte Fichte umgangen,
vielmehr er war ihr entgangen, da er nur nach der Entstehung des Be
wußtseins sragte.> „Die absolute Erkenntniß", sagt Schelling, „ist noth-
wendig auch die Erkenntniß des Absoluten." „Es giebt nicht ein abso
lutes Wiffen und außer diesem noch ein Absolutes, sondern beide sind
eins, und hierin besteht das Wesen der Philosophie." Die Frage ist:
wie sich die Nacht des Absoluten sür die Erkenntniß in Tag verwandle? ^
4. Das sichtbare Universum. Die Keplerschen Gesetze.
Die zeitlose Endlichkeit begreist alles Endliche in sich, die Einheit
Mr Dinge, und hat krast ihrer Selbständigkeit und ihres eigenen
Lebens im Absoluten die Möglichkeit, sich von diesem abzusondern.
Vermöge dieser Absonderung muß aus der absoluten Einheit die rela
tive hervorgehen, d. h. die Identität in einer Reihe von Potenzen,
also auch die relative Entgegensetzung, d. h. die quantitativen Differenzen,
die natürliche Entwicklung der Dinge, das räumlich-zeitliche Abbild
des Absoluten. Was Schelling srüher die Indifferenz des Idealen und
Realen genannt hatte, nennt er im Bruno, ohne jene Bezeichnung
sallen zulassen, „die ewige Einheit des Unendlichen und End
lichen" und braucht diesen Ausdruck in gleicher Weise als Schema;
was er srüher als die quantitativen Differenzen (Potenzen der Iden
tität) bezeichnet hatte, heißt im Bruno „die relative Gleich setzung
und Entgegensetzung des Unendlichen und Endlichen", woraus
die Gesetze alles Endlichen ganz allgemein sich sollen einsehen laffen,
die Gesetze des sichtbaren Universums, welches Schelling „die Körper-
werdung der Ideen" nennt.'
Hier nimmt das Gespräch die uns bekannte naturphilosophischo
Betrachtung und verwebt in dieselbe nach Platonischer Weise die Form
mythischer Schilderung; dem eingesührten Grundschema gemäß wird
die Gestaltung und Entwicklung der Dinge von dem Leben der Welt-
seins
körper bis
bis zuzudem
demPunkte,
der Individuen
wo das Erkennen
dargestellt,
in die
das Grade
Individuum
des Belebt-
selbst
eingeht, zum Begriff oder zur Seele eines einzelnen Dinges wird, sich
ersaßt und damit als Bewußtsein oder Ich erscheint. Von dem
Gerüste der körperlichen Dinge an bis heraus zu der Form des Schlusses
wiederholt sich sür unsere Betrachtung der gleiche Abdruck des Ewigen/
Die Gesetze der Verstandserkenntniß werden abgeleitet und zuletzt die
Ohnmacht und Nichtigkeit ihrer Logik dargethan, denn diese Erkenntniß
bleibt im Endlichen besangen, in der Vorstellung und Verknüpsung
der Abbilder, ohne Einsicht in die ewige und urbildliche Natur der
Dinge. „Nimmer erblickt die Wahrheit an und sür sich selbst, wer
sie nicht im Ewigen anschaut." Hier kehrt das Gespräch in seinen
Ausgangspunkt zurück und schließt mit der Betrachtung der wahren
Philosophie.*
Plato hatte in seinem Timäus den Weltbau construirt als den
Organismus der Weltseele, als die Verkörperung ewiger und harmo
nischer Verhältnisse, beruhend aus der Uebereinsstimmung der arithme
tischen und musikalischen (harmonischen) Grundzahlen. Sein Vorbild
war die Pythagoreische Lehre. In der Nachahmung Platos versucht
Schelling eine ähnliche Construction. indem er die Keplerschen Gesetze
unmittelbar aus den ewigen Vernunstgesetzen selbst herleitet, im ausge
sprochenen Gegensatz zu jeder empirischen Begründung aus hypothe
tischen Krästen, wie sie Newton gegeben. Hegel war ihm mit einer
solchen Construction der Keplerschen Gesetze in seiner Abhandlung über
die Planetenbahnen vorangegangen, und Schelling weist hin aus dieses
Beispiel seines Freundes. Was er in den Vorlesungen über das aka
demische Studium als Ausgabe bezeichnet, wollte er in seinem Bruno
und noch einleuchtender in den gleichzeitigen „Ferneren Darstellungen
aus dem System der Philosophie" ausgesührt habend
Die Körperwelt ist die sichtbare Ideenwelt. Ie umsassender die
Ideen sind, um so mehr sind sie ein Ausdruck der ewigen Einheit und
des Ganzen; dasselbe gilt von den Körpern, sie sind um so vollkom
mener, ein um so deutlicheres Abbild der Ideenwelt, je umsassender und
unabhängiger sie sind, andere Körper erzeugend und beherrschend: das
sind die Welt- oder Centralkörper, ans denen die untergeordneten und
unterworsenen Körper hervorgehend Achnlich wie Plato preist Schel
ling die Gestirne als „selige Thiere und verglichen mit sterblichen
Menschen als unsterbliche Götter". Die Ideen sind in einander, die
Körper außer einander, das Neben- und Nacheinander sind Raum und
' Bruno. S. 297. - ' Ebendas. S. 30S. - ' S. vor. Cap. S. 592 ff. Bruno.
S. 262-272. Vgl. Fernere Darstillungen u. s. s. S. 431-450. - « S. oben
Buch II. Cap. XIX. S. 402-405. Cap. XXVI. S. 472-474.
Das göttliche und natürliche Princip der Dinge. «07
Zeit, der endlose Raum das unbewegte und ruhende Abbild des Ewigen,
die endlose Zeit das rastlose und fließende. Die Einheit von Raum
und Zeit ist die Bewegung, sie ist als solche das Abbild der ewigen
Einheit des Unendlichen und Endlichen. Daher müssen sich in ihr
Raum und Zeit verhalten, wie das Endliche und Unendliche im Ewigen.
Die ewige sich selbst gleiche Einheit ist abgebildet in der vollkommensten
Bewegung, d. i. die in sich zurückkehrende: der Kreislaus. Gesordert
wird die Gleichsetzung von Raum und Zeit, also diejenige Bewegung,
welche in gleichen Zeiten gleiche Bogen der Kreislinie durchläuft: so
müßte die Bewegung sein, wenn der Weltkörper eine absolute Einheit
wäre, er ist als abgesonderte Einheit nothwendig eine relative und ent
gegengesetzte, er ist central und zugleich excentrisch, er hat seine Einheit
zugleich in sich und außer sich; daher ist seine in sich zurückkehrende
Bewegung eine solche, die nothwendig zwei Centra oder Brennpunkte
hat, nicht die Kreislinie, sondern die Ellipse. Gesordert ist demnach
die Gleichsetzung von Raum und Zeit in der elliptischen Bewegung:
eine solche, die in gleichen Zeiten nicht gleiche Bogen, sondern gleiche
Sectoren beschreibt. Den einen Mittelpunkt bildet der Centralkörper,
die Bewegung des Weltkörpers ist daher Umlaus, im Gegensatze zu
den unterworsenen Körpern, die, im Weltkörper begriffen, nicht in sich,
nur in ihm ihre Einheit haben, daher nothwendig sallen oder sich unsrei,
gemäß der Schwere bewegen, Raum und Zeit nicht gleich, sondern un
gleich setzend, denn die Räume verhalten sich im Fall, wie die Qua
drate der Zeiten. In dem Umlaus des Weltkörpers, gegründet in
seiner Differenz (Entsernung) vom Centralkörper, vollendet sich das
Potenzverhältniß von Raum und Zeit, den Begriffen beider gemäß:
die Quadrate der Umlausszeiten verhalten sich wie die Würsel der
mittleren Entsernungen. Das sind die Keplerschen Gesetze, die Bruno
mit den Worten einsührt: „Merke, o Freund, den Sinn der Gesetze,
die ein göttlicher Verstand uns enthüllt zu haben scheint", und nachdem
er sie dargethan: „Keine sterbliche Rede ist sähig, jene himmlische Weis
heit würdig zu preisen oder die Tiese des Verstandes auszumessen,
welche in jenen Bewegungen angeschaut wird".
Es ist wohl zu bemerken, wie Schelling in den Auseinander
setzungen des Bruno nicht den Gehalt seiner naturphilosophischen Ideen,
aber die Form ihrer Darstellung ändert und an die Stelle der Ent
wicklung die Deutung und Symbolik setzt, wodurch sich mit der Darstel
lung auch die Sache verdunkelt. Er selbst sühlt diesen Mangel und ent
608 Das Universum als göttliches Kunslwerk.
schuldigt ihn mit der Schwierigkeit des Objects und einem spöttischen
Seitenblick aus Fichte: „es sei unmöglich, einen sonnenklaren Bericht
über das Universum abzusassen". ^
oie Nacht der Materie. So unendlich ihr Tag ist, so unendlich ist
auch ihre Nacht. In diesem allgemeinen Leben entsteht keine Form
äußerlich, sondern durch innere, lebendige und von ihrem Werk
ungetrennte Kunst. Es ist ein Verhängniß aller Dinge, ein Leben,
ein Tod; nichts schreitet vor dem anderen heraus, es ist nur eine
Welt, eine Pslanze, von der alles was ist nur Blätter, Blüthen und
Früchte, jedes verschieden nicht dem Wesen, sondern der Stuse nach,
ein Universum. in Ansehung deffelben aber alles herrlich, wahrhast
göttlich und schön, es selbst aber unerzeugt an sich, gleich ewig mit der
Einheit selbst, eingeboren, unverwelklich."'
> Ebenbns. S.310 ff., 315 ff. - e Ebendas. S. 811-315 (insbes. S.3I3 ff.,.
», Fi!ch'l. «.sch. d. Philo!. VIi na
610 Das Universum als göttliches Kunstwerk.
2. Der Intellectualismus.
Die Entartung des Materialismus aus einer speculativen und
lebendigen Weltanschauung in die gedankenlose Vorstellung einer todten
Natur mußte die entgegengesetzte Richtung des Intellectualsystems her
vorrusen, welches alles Leben in die Ideen und den Geist flüchtet.
Der salsche Materialismus verneint mit dem Leben auch die Entwick
lung und ist unsähig, sie zu sassen; jetzt wird die Entwicklung der
Welt begründet aus dem Wesen der geistigen Natur, die Materie wird
zur bloßen Erscheinung, zur beschränkten und verworrenen Vorstellung,
jedes Ding bildet einen Mikrokosmus, eine Vorstellung des Univer
sums in seiner beschränkten und eigenthümlichen Weise, jedes Ding ift
aus seine Art das Ganze, je deutlicher seine Weltvorstellung ist, um
so vollkommener ist seine Natur: daher bilden alle Dinge von innen
heraus ein sortschreitendes Stnsenreich, die Eigenthümlichkeit jedes
Dinges ist seine Entwicklungsstuse, „jedes stellt das Universum vor
gemäß seiner Entwicklungsstuse", darum ist jedes vorstellend und stre
bend, denkend und wollend, ein beschränktes Abbild des absoluten Er
kennens, in welchem das Ganze vollkommen klar und deutlich vorgestellt
wird als Ideenwelt, worin Vorbild und Gegenbild vollkommen gleich
sind. Die Körper sind Erscheinungen, die Wesen, die ihnen zu Grunde
liegen, sind beschränkte Einheiten, die absolute Einheit ist Gott. „Die
Einheit seiner Vollkommenheit ist der allgemeine Ort aller Einheiten
und verhält sich zu ihnen, wie sich im Reiche des Scheins sein Eben
bild der unendliche Raum zu den Körpern verhält, der, unberührt von
den Schranken des Einzelnen, durch alle hindurchgeht. Nur sosern
die Vorstellungen der Einheiten unvollständig, eingeschränkt, verworren
sind, stellen sie das Universum außer Gott und zu ihm, als zu seinem
Grunde, sich verhaltend, sosern aber adäquat, in Gott vor. Gott also
ist die Idee aller Ideen, das Erkennen alles Erkennens, das Licht
alles Lichtes. Aus ihm kommt Alles und zu ihm geht Alles. Die
Erscheinungswelt ist nur in den Einheiten und nicht von ihnen getrennt,
denn nur sosern sie den getrübten Schein der Einheit erblicken, ift ihnen
das Universum sinnlich, bestehend aus abgesonderten Dingen, die der»
gänglich und unaushörlich wandelbar sind; die Einheiten selbst aber
welt,
sind wieder
an sich abgesondert
aber in Gottvon und
GottEins
nur mit
in Bezug
ihm."^aus die Erscheinungs-
' Ebendas. S. 323 ff. S. oben Buch II. Cap. XXXIl. S. S62 ff.
39'
612 Das Univlrsum al« göltliches Kunstwerl.
Sechsunddreißigstes Capitel.
Philosophie und Religion.
I. Die Religionssrage.
Wir kennen das Problem, in welchem die Identitätslehre steht.
Die Einheit des Absoluten und des Universums, der Begriss des "l5/
x«! gilt, aber nicht in einem Sinn, der den Unterschied Gottes
und der Welt aushebt und zwischen beiden eine völlige, widerspruchslose
Gleichung behauptet; vielmehr besteht zwischen Gott und Welt nicht
blos ein Unterschied, sondern ein Gegensatz, eine Trennung, ein Wider
streit, den der Gottesbegriff nicht etwa nur zuläßt, fondern zu seiner
eigenen Geltung sordert, ohne welchen das Absolute im Geiste der
neuen Identitätslehre nicht wäre, was es ist, also ein Widerstreit nicht
aus Kosten der absoluten Einheit, sondern krast derselben. Die Frage
ist von eminenter Bedeutung; denn setzen wir das Absolute gleich der
Welt, beide in ungetrennter und untrennbarer Einheit, so ist auch
zwischen Gott und Mensch kein Zwiespalt, so ist im Menschen kein
Gesühl einer solchen Trennung, kein Bedürsniß nach Versöhnung und
Wiederherstellung der Einheit mit Gott, so ist in der Welt kein Uebel
und kein Böses möglich, von dem eine Erlösung nothwendig wäre.
Ohne menschliches Erlösungsbedürsniß, d. h. ohne getrennte Einheit des
göttlichen und menschlichen Lebens giebt es keine Religion, ohne die
Möglichkeit des Bösen keine menschliche Freiheit. Wir haben es zu»
nächst mit der Frage der Religion zu thun.
Es giebt eine pantheistische Lehre, welche Gott und das Universum
im Sinne der bloßen Natur einander völlig gleichsetzt und darum,
wie religiös immer die Gesinnung des Philosophen sein mag. unver
mögend ist, aus den Mitteln ihrer Erkenntniß die Thatsache der Reli
gion in der Welt zu begründen. Solcher Art war die Lehre Spinozas,
wie Brunos; solcher Art scheint das Identitätssystem Schellings zu
sein, denn dieses System rühmt sich der intimsten Verwandtschaft mit
Spinoza und Giordano Bruno, es hat einen offen und begeistert aus
gesprochenen pantheistischen Charakter, es hat diesen Charakter in den
Vordergrund gerückt und so hell erleuchtet, daß er den Anhängern
wie den Gegnern als der herrschende Grundzug in die Augen sallen
mußte. Daher war es nahe gelegt, Schellings pantheistische Iden-
titätslehre
gionslehre. rein naturalistisch zu nehmen und im Gegensatz zur Reli-
Wir reden jetzt nicht von den Gegnern, sondern von den An
hängern, die Schellings philosophisches System in jenem naturalistisch-
pantheistischen Sinn aussassen und bejahen, darin einverstanden, daß
mit diesem System die Religion unverträglich sei. Hier giebt es zwei
Möglichkeiten: entweder man bejaht die Philosophie ohne Einschränkung
und verneint die Religion überhaupt, oder man bejaht die Philosophie
limitirend und verneint (nicht die Religion, sondern) die philosophische
Religionslehre. Der erste Fall gilt von den Anhängern einer pan
theistischen Vorstellungsart, wie sie Schelling selbst noch vor wenigen
Iahren in seinem „epikurischen Glaubensbekenntniß" ausgesprochen,
und die Fr. Schlegel als den „Enthusiasmus sür die Irreligion" be
zeichnet hatte; im zweiten Fall dagegen gilt die Religion als jenseits
aller Philosophie und wird dieser entgegengesetzt als ihre nothwendige
Ergänzung, die nicht in der Erkenntniß, sondern im Glauben, in der
Ahnung des Seligen, in einer besonderen, der Philosophie unzugäng
lichen Art der Intuition, mit einem Wort im Gegentheil der Philo
sophie bestehe. Die letztere, unsähig die Religion zu erkennen, müsse
dieselbe anerkennen und aus diese Weise über sich und ihre Schranke
Philosophie und Religion. 615
luten Einheit des Idealen und Realen in der Form des Selbster-
kennens solgt alles Weitere.
Wenn das Ideale als solches zugleich das Reale sein soll, so
kann das Reale nichts anderes sein als „das Ideale selbst in einer
anderen Gestalt": die Gestalt oder Form des Idealen ist Idee, das
Absolute ist Selbstgestaltung; was es gestaltet, sind Ideen, in diesen
sormt es sich oder macht sich gegenständlich, daher sind die Ideen die
wirklichen Gegenbilder, in denen das Absolute sich selbst gegenwärtig,
sentation",
anschaulich, der
objectio
Proceß
ist. seiner
Seine
Selbstobjectivirung
Selbstgestaltung oder
ist seine
Selbstanschauung.
„Selbstrepra-
Eben darin besteht, was die Einheit des Idealen und Realen, des
Subjectiven und Objectiven genannt wird: diese Einheit ist also keine
Zusammensetzung, sondern „das schlechthin Ideale in der ewigen Um
wandlung der reinen Idealität in Realität".
Verstehen wir genau diese Realität, das wirkliche Gegenbild des
Absoluten, worin es sich anschaut, sich objectivirt; saffen wir diese Be
stimmung in ihrer ganzen Bedeutung. Dieses Gegenbild wäre nicht,
was es ist, wenn es nicht absolut wäre: es ist „ein anderes Abso
lutes", es wäre als bloßer Schatten, als wesen- und machtloses
Idol nicht absolut, nur Bild, aber nicht göttliches Gegenbild, blos
ideal, nicht zugleich real, dann wäre das Absolute nicht die Einheit
des Idealen und Realen, es wäre überhaupt nicht. Darum hat
die Idee als göttliches Gegenbild auch ihrerseits die Macht, die Idea
lität in Realität umzuwandeln, d. h. Ideen zu produciren, die selbst
productiv sind, sie entsaltet sich zur Ideenwelt: das ist die Welt in
Gott, „die ganze absolute Welt mit allen Abstusungen der Wesen', das
All in vollkommener Einheit. „Bis hieher ist nichts, das nicht absolut,
ideal, ganz Seele, reine natu?» naturans wäre." In dieser göttlichen
Welt ist nichts wahrhast Besonderes. Die Ideenwelt ist die Entsal
tung Gottes, seine Selbstobjectivirung, der zeitlose Proceß seiner Offen
barung, sein Werden im ewigen Sinn, welches Schelling sehr charakte»
ristisch bezeichnet als „die wahre transscendentale Theogonie".
Denn das göttliche Selbsterkennen ist die Bedingung alles Erkennens.
Aber wie entsteht aus der göttlichen Natur die endliche, aus der
Intellectualwelt die körperliche, aus der ewigen Einheit der Dinge
Philosophie und Religion. 613
sich um den Ursprung der Materie, den Schelling als „eines der
höchsten Geheimnisse der Philosophie" bezeichnet. Die Materie ist von
Gott entweder unabhängig oder abhängig: das ist die Alternative, welche
noch keine dogmatische Philosophie überwunden hat. Setzen wir sie als
unabhängig, so wird ein dem Absoluten entgegengesetztes, zweites Welt»
princip angenommen und ein Dualismus gleich der persischen Religions-
lehre eingesührt, mit dem sich der Begriss des Absoluten nicht mehr
verträgt, er wird durch diese Art der Entgegensetzung beschränkt, also
verneint. Setzen wir die Materie als abhängig, so wird, wie immer
diese Abhängigkeit gesaßt werde, Gott zum Urheber des Unvollkommenen
und Bösen gemacht, und es entstehen gegen seine Absolutheit alle die
Einwürse, gegen welche selbst Leibniz sür nöthig sand. Gott zu ver
teidigen.^
Die Abhängigkeit gilt entweder als eine unmittelbare oder mittel
bare: sie ist mittelbar, wenn zwischen Gott und der Materie, dem
obersten Princip der Intellectualwelt und der endlichen Natur ein stetiger
Zusammenhang oder Uebergang durch eine Reihe von Mittelgliedern oder
Zwischenstusen stattsindet, wie das Licht zuletzt an der äußersten Grenze des
weise
Erleuchtungskreises
der alten Emanation
in Finsterniß
slehre,
übergeht:
wornach
diesaus
wardem
dieGöttlichen
VorstellungZ'
all
gonischen Begrissen, die vor ihm geherrscht hatten". Der Name Plato
iverde entweiht, wenn man ihn, „das Haupt und den Vater der wahren
Philosophie", sür den Urheber dieser Lehre haltet
Ietzt ist das Problem aus einen Punkt gesührt, von wo nur ein
Ausweg übrig bleibt, der den Dualismus ebenso sehr als den stetigen
Zusammenhang vermeidet: es giebt zwischen Gott und Materie weder eine
Brücke noch einen absoluten Gegensatz. Die Verneinung des Dualismus
sordert die Begründung der endlichen Natur aus dem Absoluten, also
einen gewissen Zusammenhang zwischen ihr und Gott; die Verneinung
jeder Möglichkeit eines stetigen Ueberganges sordert den Abbruch. Der
Ursprung der Materie ist nicht durch einen stetigen Hervorgang aus
dem Absoluten, sondern nur durch „ein vollkommenes Abbrechen der
Absolutheit", durch einen Sprung denkbar, „er kann nur in einer
Entsernung, in einem Absall von dem Absoluten liegen". Dies
ist die wahre und tiessinnige Lehre Platos, die man nicht im Timäus.
sondern im Phädon und den ihm geistesverwandten Dialogen zu
suchen halles
Das Absolute ist das allein wahre Sein, außer dem Nichts ist;
der Absall vom Absoluten producirt darum nothwendig das nicht wahr
hast wirkliche Sein, das Endliche als Geg entheil des Unendlichen und
Ewigen. Nun aber setzt der Absall vom Absoluten das Sein in ihm
voraus, es muß daher gesragt werden: wie ist im Absoluten ein Absall
von demselben überhaupt möglich? Nicht der Absall selbst, nur seine
Möglichkeit kann und soll aus dem Absoluten begründet werden: in
der Auslösung dieser Frage liegt das ganze Gewicht unserer Schrift.
Nun ist schon dargethan. daß zum Absoluten nothwendig sein
Gegenbild gehört, welches, ohne selbst absolut zu sein, nie das wirkliche
Gegenbild des Absoluten wäre; es hat darum nothwendig den Charakter
der Selbständigkeit und Freiheit. „Das ausschließend Eigenthümlichc
der Absolutheit ist, daß sie ihrem Gegenbild mit dem Wesen von ihr
selbst auch die Selbständigkeit verleiht. Dieses Insichselbstsein ist Frei
heit, und von jener ersten Selbständigkeit des Gegenbildes fließt aus,
was in der Erscheiuungswelt als Freiheit wieder austritt, welche noch
die letzte Spur und gleichsam das Siegel der in die abgesallene Welt
hineingeschauten Göttlichkeit ist."' In diesem Begrisse der Freiheit
liegt die Auslösung der obigen Frage.
' Ebendas. S. 35-37. Vgl. voriges Cap. S. 5g7. S. oben Cap. XXVI.
S. 463-472. - ^ Philosophie und Religion. S.38ff. - ' Ebendas. S.39.
Philosophie und Religion.
seine Ursache hat. Der Charakter der Endlichkeit sällt zusammen mit
dem der endlichen Nothwendigkeit. In dem göttlichen Gegenbilde war
die absolute Freiheit eines mit der absoluten Nothwendigkeit; die Folge
des Absalls ist der Verlust beider: die endliche Nothwendigkeit und die
nichtige Freiheit. Das Endliche kann nur entstehen durch den Absall
von Gott, und durch diesen kann nichts Anderes entstehen als das End
liche. In dem Reiche des letzteren herrscht das Gesetz der endlichen
Nothwendigkeit oder des äußeren Causalnexus, und es ist vollkommen
unmöglich,
klären oder ein
ausendliches
dasselbe Ding
zurückzusühren.
unmittelbar Schon
aus dem
daraus
Absoluten
läßt sich
zu er-
er
kennen, wie das Sein der endlichen Dinge im Abbruch der Einheit
mit dem Absoluten gegründet ist: das sinnliche Universum ist die Folge
des Absalls, der Grund desselben ist „die Idee, von seiten ihrer Selbst-
heit betrachtet".'
Da nun der Charakter der Zeitlichkeit mit dem der Endlichkeit
zusammensällt, so leuchtet ein, daß der Grund derselben zeitlos ist,
also von einer Zeitsolge oder einem Uebergange von Gott zur end
lichen Natur in keiner Weise geredet werden kann. Der Absall ist eine
ewige (intelligible) That außer aller Zeit. Es giebt darum auch keine
genetische Erklärung desselben in gewöhnlichem Sinn, denn diese hat es
mit der zeitlichen Entstehung der Dinge zu thun : der Absall ist uner
klärlich. Und da das Absolute selbst an ihr keinen Theil hat, denn
er begründet ein außergöttliches Dasein, so ändert er nichts an dem
Wesen Gottes und seines Gegenbildes: er ist daher in Rücksicht aus
das Absolute außerwesentlich oder accidentell. Der Absall ist eine
That und zwar die eigenste des Gegenbildes selbst, nicht eine „That-
Sache", sondern eine „That-Handlung", wodurch dieses sich abson
dert von Gott und etwas Besonderes sür sich sein will. Dieses Für
sichselbstsein, durch die Endlichkeit sortgeleitet, erscheint in seiner höchsten
Potenz als Ichheit, die als solche das Grundthema des sinnlichen
Universums, der abgesallenen Welt ausmacht. Die Ichheit ist das
allgemeine Princip der Endlichkeit, das des Sündensalls. Hier erscheint
Fichtes Wissenschastslehre in einem eigenthümlich bedeutsamen Licht. Er
hat durch den Begriff der Thathandlung das Wesen der Endlichkeit und
des endlichen Bewußtseins unter allen neueren Philosophen am klarsten
gedeutet,
' Philosophie
er hat und
dasReligion.
Princip S.des40 Sündensalls
u. 4l, S2. in der höchsten Allge-
Philosophie und Religion. 623
nicht sein könnte ohne den Absall, so ist dieser ein Mittel der vollen
deten Offenbarung.'
In dem Streben nach der Einheit mit Gott besteht die Sittlich
keit, in dem erreichten Ziel die Seligkeit. Aus der Gotteserkenntniß
solgt nothwendig der Umschwung, der Eintritt in die Gottesnähe, die
centripetale Wendung des Lebens, das bewußte Zurückstreben in die Ein
heit, welches die Gewißheit der Seligkeit in sich schließt. Darum sind
Sittlichkeit und Seligkeit eines und haben ihren gemeinsamen Schwer
punkt in Gott. „Nur wer Gott erkennt, ist erst wahrhast sittlich."
„Es ist überhaupt erst eine sittliche Welt, wenn Gott ist, und diesen
sein zu lassen, damit eine sittliche Welt sei, ist nur durch vollkommene
Umkehrung der wahren und nothwendigen Verhältnisse möglich."'
Die Geschichte des Universums begreift die Weltgeschichte im ge
wöhnlichen Sinn in sich, aber geht nicht in dieselbe aus, sondern reicht
tieser und weiter, sie umsaßt auch die Natur; die Vorgeschichte der
Menschheit und ihr Ziel liegt jenseits des irdischen Lebens. In ihr
verwirklicht sich die Idee der aus der Trennung wiederherzustellenden
Einheit der Dinge mit Gott; Natur und Menschheit sind die symbo
lische Darstellung dieser Idee. Schelling hatte srüher die Natur „die
Odyssee des Geistes" genannt, ^ jetzt nennt er die Religion die „Odyssee
der Geschichte". Die Natur gehört auch zu dem Weltepos, dessen
Thema die Rückkehr der Dinge zu Gott, dessen Ziel die vollendete
Offenbarung Gottes ist. Dies ist „die große Absicht der gesammten
Welterscheinung".
Was aber die Menschheit betrifft, so ist weder der Ansang noch
das Ziel ihrer weltgeschichtlichen Bahn durch die sogenannte Historie
erleuchtet. Dem Ziele der Einheit mit Gott geht nothwendig voraus
die sortschreitende Annäherung, dieser die sortschreitende Entsernung bis
zu einem äußersten Punkt. Also muß der Ansang, dem die wachsende
Entsernung solgt, ein Zustand der Gottesnähe gewesen sein, und es
ist nicht zu denken, daß „die gegenwärtige Menschheit sich von selbst
aus der Thierheit und dem Instinct zur Vernunft und Freiheit empor
gehoben". Daher die Annahme, daß sich das menschliche Urgeschlecht
unter dem Einfluß und der Erziehung höherer Naturen besunden habe
und in Uebereinstimmung damit die Urzeit der Welt und der irdischen
' Ebendas. »Freiheit, Sittlichkeit, Seligkeit: Endabsicht und Ansang dn
Geschichte.' S. 57, «3. — ' Ebendas. S, 53, 55 ff. - « S. oben Buch II. C°P.
XXXI. S. 436.
Philosophie und Religion. 625
Natur überhaupt eine höher gestellte war, mit deren Untergang die
allmähliche und zunehmende Verschlechterung eintrat. Ein Nachklang
davon lebt in der Sage vom goldenen Zeitalter.^
4, Das Geisterreich und die Unsterblichkeit der Seele.
Ist der Grund der Sinnenwelt der Absall des göttlichen Gegen
bildes und dieser Absall die eigenste, darum selbstverschuldete That
seiner (intelligibeln) Freiheit, so solgt, daß das Dasein der endlichen
Natur und des sinnlichen Lebens aus einer Schuld beruht, deren
nothwendige Folge die Strase ist, und deren nothwendige Ausgabe
die Läuterung. Die Folge war das sinnlich getrübte und verdun
kelte Dasein, eingeschmiedet in die Kette der Dinge, in den Kerker der
Körperwelt. Eben diese Folge ist die Strase selbst; die Ausgabe aber
besteht in der Besreiung aus dem Kerker der Sinnenwelt, in der
Tilgung der Schuld, in der Läuterung des Lebens. Iene alte heilige
Lehre, die keiner großartiger und klarer durchdacht und verkündet hat
als Plato. stellt sich wieder her und macht allen jenen Zweiselsknoten
über den Ursprung der Materie, woran die Vernunst seit Iahrtausen
den sich müde gearbeitet, ein Ende: „daß die Seelen aus der Intellec-
tualwelt in die Sinnenwelt herabsteigen, wo sie zur Strase ihrer
Selbstheit und einer diesem Leben vorhergegangenen Schuld an den
Leib, wie an einen Kerker, sich gesesselt sinden und zwar die Erinne
rung des Einklangs und der Harmonie des wahren Universums mit
sich bringen, aber sie in dem Sinnengeräusch der ihnen vorschwebenden
Welt nur gestört durch Mißklang und widerstreitende Töne vernehmen,
so wie sie die Wahrheit nicht in dem, was ist oder zu sein scheint,
sondern nur in dem, was sür sie war, und zu dem sie zurückstreben
müssen, dem intelligibeln Leben, zu erkennen vermögen". ^
Das Ziel der Läuterung kann kein anderes sein als die Reinheit
von der Schuld, die Wiederherstellung der Einheit mit Gott, das rein
geistige, ewige, selige Leben: dieses Ziel der Welt und ihrer Geschichte
ist das Geisterreich. „Die Geschichte des Universums ist die Ge
schichte des Geisterreichs, und die Endabsicht der ersten kann nur in der
der letzteren erkannt werden." ^ Von hier aus erhellt sich der Begriss
der Unsterblichkeit. Sie besteht im ewigen oder seligen Leben, in
dem rein geistigen oder intelligibeln, dessen Bedingung die Reinheit
' Philosophie und Religion. S. 57-59. - ' Ebendas. S, 47. - ' Ebendas.
.Unsterblichkeit der Seele." S. 60.
«. Fischer, Sesch. d. Philos. Vi! 4a
«26 Philosophie und Religion.
von der Schuld, die Entäußerung der Gelostheit ist. Da nun das
sinnliche und individuelle Leben in der Selbstheit besteht, so ist die
Unsterblichkeit der Seele nicht als deren individuelle Fortdauer zu
denken. Dies wäre sortgesetzte Sterblichkeit, sortwährende Gesangen
schast und Strase. „Die Endlichkeit an sich selbst ist Strase.' .Es
ist klarer Mißverstand, die Seele im Tode die Sinnlichkeit abstreisen
und gleichwohl individuell sortdauern zu lassen." Die Besreiung von
der Endlichkeit ist das innerste und verborgenste Thema der Natur
und der Entwicklung der Welt. „Was ist daher die Natur, dieses
verworrene Scheinbild gesallener Geister anders, als ein Durchgeboren-
werden der Ideen durch alle Stusen der Endlichkeit, bis die Selbftheit
an ihnen, nach Ablegung aller Disserenz, zur Identität mit dem Un
endlichen sich läutert, und alle als reale zugleich in ihre höchste Idea
lität eingehen?" Der Wunsch nach Unsterblichkeit in der Bedeutung
individueller Fortdauer stammt unmittelbar aus der Endlichkeit, aus
der Selbstsucht und kann am wenigsten demjenigen erstehen, der schon
jetzt bestrebt ist, die Seele von dem Leibe zu lösen, wie nach Vorrates
im Phädon der wahrhast Philosophirende. '
Individuelle Fortdauer ist Strase, bedingt durch Schuld. Daher
ist der künstige Zustand der Seele bedingt durch den gegenwärtigen,
d. h. durch den Grad der Läuterung oder Nichtläuterung. womit das
gegenwärtige Leben endet. Die Strase der Nichtläuterung ist Fort
setzung des endlichen Daseins, Palingenesie, deren Art und Ort
von der Natur und dem Grade der ungeläuterten Begierden abhängt.
Diese Idee liegt auch Platos bildlichen Darstellungen der Seelenwan
derung zu Grunde. Vollkommene Läuterung ist der Eingang und die
Rückkehr in das rein geistige Leben, in die wiederhergestellte und vollen
dete, unstörbare Einheit mit Gott. „Besteht die Sinnenwelt nur
in der Anschauung der Geister, so ist jenes Zurückgehen der Seelen in
ihren Ursprung zugleich die Auslösung der Sinnenwelt selbst, die zu
letzt in der Geisterwelt verschwindet." ^
m. Der
DasInhalt
Mysterium
der Religion
deristPhilosophie
rein geistig und und
darumReligion.
verschlossen
> Philosophie und Religion. »Anhang. Ueber die äußeren Formen, unter
welchen Religion existirt." S. 65-70.
628 Philosophie und Religion.
die
sammengesaßt
vorhergehenden
in einem
nur anknüpst,
Grundproblem.
vielmehr werden
Dieses alle
Grundproblem
bisherigen zu»
ist
die Religion. Sie ist erkannt als das Mysterium der Welt, als
das unsichtbare und verborgene Band zwischen Gott und den Dingen,
als deren Ursprung aus Gott und Rückkehr zu ihm, als der Absall
und die Wiederherstellung des Geisterreichs, d. h. als die Geschichte
des Geisterreichs, welche die der Welt, die Entwicklung der Natur und
Menschheit, in sich saßt. So werden die srüheren Probleme jedes an
seinen Ort gestellt und sämmtlich begriffen in dem der Religion, aus
welches letztere sie zurückgesührt sind als ihre Wurzel. Die Erkenntniß
der Religion ist die Philosophie, die ganze, die den Bestand der
Identitätslehre und der Naturphilosophie nicht ändert, nur gleichsam
localisirt und in gewisse Grenzen einschließt. Die Religion begreift
das ganze Weltproblem in sich, daher die philosophische Religionslehre
die gesammte Philosophie.
Nun ist das Problem der Religion nur aus der Gotteserkenntniß
auszulösen: diese ist das Centrum, in welchem Schelling von jetzt an
den Standpunkt nimmt, der seinen Ideengang leitet und beherrscht.
Dazu mußte er sortschreiten, nachdem die Identitätslehre den Schwer
punkt der Welt in das Absolute jenseits aller Weltentwicklung gelegt
hatte. Er selbst hat diesen Fortschritt als das Gesammtresultat aller
seiner bisherigen Speculation ausgesprochen. „Von dem Stückwerk
des einzelnen Wissens überzugehen zur Totalität der Erkenntniß. er
kläre ich sür die Endabsicht und den Zweck aller meiner wiffenschaft
lichen Arbeiten, denn ich wollte die Wahrheit in allen einzelnen
Richtungen erkennen, um srei und ungestört in die Tiese
des Absoluten zu sorschen."
Haben die srüheren Untersuchungen zu dem Absoluten hingesührt,
so gehen die solgenden von ihm aus. Der Zusammenhang beider
läßt sich nicht einsacher aussprechen. Man könnte darum den Charakter
der solgenden Untersuchungen als »philosophische Religions- oder Got
teslehre" bezeichnen, und da die Religion mit der Geschichte des Geister
reichs (Universums) in dem oben erklärten Sinn zusammensällt, so ließe
sich auch mit einem Ausdruck des Philosophen selbst sagen: „Begrün
dung der geschichtlichen Philosophie". Indessen ist diese Bezeichnung
zu leicht einem völligen Mißverständniffe ausgesetzt, wenn das Wort
wird. Schelling selbst hat erkannt, daß der Charakter aller Theosophie
in dem Zusammenhang ihrer Gottesanschauung mit einer philosophischen
Naturanschauung besteht, in dem Bestreben, unmittelbar aus dem Wesen
Gottes das Mysterium der Natur zu erleuchten. Weil seine Gottes
lehre von der Naturphilosophie herkommt und damit besruchtet ist,
weil sie aus eine Religionserkenntniß ausgeht, die aus Gott das My
sterium der Welt und der Natur zu erleuchten sucht : darum nenne ich
sie Theosophie und nehme dieses Wort ausdrücklich in einem der Philo
sophie nicht entgegengesetzten Sinn.
Das Thema der Religion ist soweit sestgestellt, daß ihr ewiger
Inhalt in der Wiederherstellung der göttlichen Einheit, in der Rück
kehr zu Gott besteht, die selbst nur möglich ist unter der Voraussetzung
des Absalls von Gott, gegründet in der Freiheit des göttlichen Gegen-
bildes. Darum solgt aus der Religionssrage nothwendig die Frage
nach der menschlichen Freiheit. Dies ist das nächste Problem, das
erste des solgenden Abschnitts.
Werter Abschnitt.
Die Religionsphilosophie.
633
Siebenunddreißig st es Capitel.
Die menschliche Freiheit. ^. Das Vermögen des Guten und Gösen.
das Unsreie und so weit es unsrei ist, nothwendig außer Gott." Mit
der Lehre von der Immanenz aller Dinge in Gott, d. h. mit dem
Paritheismus in diesem Sinn, ist der Begriff der Freiheit nicht un»
verträglich, vielmehr er ist nur mit dieser Lehre verträglich, er ist durch sie
nicht blos möglich, sondern nothwendig. Das wahre Vernunstsystem,
die wahre Alleinheitslehre ist zugleich Freiheitssystem.
Dieses System ist Spinozas Lehre nicht. Daß die letztere das
einzige, wahre Vernunstsystem sei, war Iacobis salsche Voraussetzung.
Wenn Spinoza die Freiheit in der Natur der Dinge verneinte, so solgte
das nicht aus dem rationalistischen und pantheistischen, sondern aus
dem naturalistischen und mechanischen Charakter seiner Lehre. Treffend
und schars erleuchtet jetzt Schelling den Mangel und die Einseitigkeit
dieses Systems, dessen Große und Wahrheit er srüher hochgepriesen.
„Hier ist denn ein sür allemal unsere bestimmte Meinung über den
Spinozismus. Dieses System ist nicht Fatalismus, weil es die Dinge
in Gott begriffen sein läßt, denn, wie wir gezeigt haben, der Pantheis
mus macht wenigstens die sormelle Freiheit nicht unmöglich; Spinoza
muß also aus einem ganz anderen und von jenem unabhängigen Grunde
Fatalist sein. Der Fehler seines Systems liegt keineswegs darin, daß
er die Dinge in Gott setzt, sondern darin, daß es Dinge sind, in
dem abstracten Begriff der Weltwesen, ja der unendlichen Substanz
selber, die ihm eben auch ein Ding ist. Daher sind seine Argumente
gegen die Freiheit ganz deterministisch, aus keine Weise pantheistisch.
Er behandelt auch den Willen als eine Sache und beweist dann sehr
natürlich, daß er in jedem Falle des Wirkens durch eine andere Sache be
stimmt sein müsse, die wieder durch eine andere bestimmt ist, u. s. s.
ins Unendliche: daher die Leblosigkeit seines Systems, die Gemüth'
losigkeit der Form, die Dürstigkeit der Begriffe und Ausdrücke, das
unerbittlich Herbe der Bestimmungen, das sich mit der abstracten Be
trachtungsweise vortrefflich verträgt, daher auch ganz solgerichtig seine
mechanische Naturansicht." „Man könnte den Spinozismus in seiner
Starrheit wie die Bildsäule des Pygmalion ansehen, die durch warmen
Liebeshauch beseelt werden mußte, aber dieser Vergleich ist unvollkom»
men, da er vielmehr einem nur in den äußersten Umrissen entworsenen
Werke gleicht, in dem man. wenn es beseelt wäre, erst noch die vielen
sehlenden oder unausgesührten Züge erkennen würde. Eher wäre er
erlischt ; dann geht das Gute allmählich über in das Böse, womit der
Unterschied beider und damit die Möglichkeit des letzteren sich aushebt.
Das Böse sällt mit der Unvollkommenheit, d. h. mit der Privation
zusammen, es hört aus, positiv zu sein, es ist nicht. So verläust sich
die Emanationslehre in alle Irrthümer, die aus der Verneinung und
aus der Setzung' des Bösen in Weise der Immanenz, der Dependeuz
und des Dualismus hervorgehen.'
2, Die einzig mögliche Erklärung.
Alle bisherigen Erklärungsversuche haben in die Irre gesührt,
und es scheint, daß alle denkbaren erschöpst sind. Was bleibt noch
übrig, wenn das Böse erklärt werden soll und doch weder aus Gott
noch aus dem Gegensatz zu ihm erklärt werden kann? Als der einzige
Ausweg erscheint die richtige Vereinigung der Immanenz und des
Dualismus in Beziehung aus unser Problem. Das Böse ist nur durch
Freiheit möglich und sordert eine von Gott unabhängige Wurzel; die
Freiheit selbst kann nur in Gott sein, sie ist nur in Gott gegründet,
das Vermögen zum Bösen ist nicht in Gott gegründet, sondern in
etwas, das nicht Gott ist. Diesen Sätzen ist nichts abzudingen, sie
müssen vereinigt werden: das Böse ist demnach aus letzten Gründen
nur dann möglich, wenn es in Gott etwas giebt, das nicht
Gott selbst ist. Dieser Gott ist zu denken, dieser Gottesbegriss allein,
den keines der bisherigen Schulsysteme der neueuropäischen Philosophie
kennt, enthält den Schlüssel zur Lösung des Problems der mensch
lichen Freiheit.
Alles göttliche Sein besteht in der ewigen Selbstoffenbarung
Gottes, die, mit Ausschließung jeder Zeitvorstellung, als ein Hervor
seins
treten begriffen
aus dem sein
Zustande
will. des
DerNichtossenbarseins
offenbare Gott istinderden
wirkliche,
des Offenbar-
hervor
erste
zeugt Regung
sich in Gott
göttlichen
selbst Daseins.
eine innere
„Dieser
reslexive
Sehnsucht
Vorstellung,
entsprechend,durch
er-
Stelle setzen, dadurch die Ordnung der Centra umkehren und das Band
sprengen, welches die natürlichen Kräste vereinigt und seffelt. Diese
Erhebung des Grundes über die Ursache, des Eigenwillens über den
Urwillen, diese Setzung des salschen Centrums ist das Böse. Ietzt
wird das ganze Leben von Grund aus verkehrt und zerrüttet, die wilden
und dunkeln Naturgewalten brechen wie aus dem Chaos hervor, das
empörte Heer der Begierden und Lüste: es entsteht das salsche Leben,
ein Leben der Lüge, ein Gewächs der Unruhe und der Verderbniß.
Wenn im natürlichen Organismus das richtige Verhältniß des Ganzen
und der Theile gestört wird, und der dienende Theil sür sich lebt
aus Kosten des Ganzen, so sehen wir die Krankheit vor uns. die den
Leib zerrüttet. Wie sich diese zum leiblichen Leben verhält, so das Böse
zum geistigen. Kein besseres Gleichinß des Bösen als die Krankheit.
Hier berust sich Schellin g aus einen Ausspruch Fr. Baaders, der den
richtigen Begriff des Bösen durch tiessinnige physische Analogien, na
mentlich die der Krankheit, erläutert habe. „Die Ichheit, Individua
lität ist sreilich die Basis, das Fundament oder das natürliche Centrum
jedes Creaturlebens ; so wie daffelbe aber aushört, der Einheit dienendes
Centrum zu sein und selbst herrschend in Peripherie tritt, brennt es
als tantalischer Grimm der Selbstsucht und des Egoismus (der ent
zündeten Ichheit) in ihr."'
> Ebendas. S. 363 ff. S. 370. - ' Ebendas. S. 364-367. Vgl. Fr. v. Baader
646 Die menschliche Freiheit.
»lieber Starres und Fließendes" sl808). S.W. Hauptabschn. I. Bd. UI. S. 275 ff.
Anmerkung.
' Fr. v. Baader: „Ueber die Behauptung, daß kein übler Gebrauch der Ver»
nunst sein könne' (1807). S. W. I. Bd. l. S. 36. - ' Schelling, Untersuchungen
über die menschliche Freiheit. S. 366-373.
L,. Das Vermögen des Guten und Bösen. 647
Daraus allein, daß der Mensch aus jenen Gipsel gestellt ist, wo
er die Selbstbewegungsquelle zum Guten und Bösen gleicherweise in
sich hat, daß in ihm das Band der Principien kein nothwendiges ist,
sondern ein sreies, daß er am Scheidepunkt steht, erklärt sich die Mög
lichkeit des Bösen: nur diese, sie schließt noch nicht die Wirklichkeit
ein, welche letztere eigentlich den größten Gegenstand der Frage aus
macht. ^
2. Die universille Wirklichkeit des Bösen.
Setzen wir, daß es im Menschen bei der bloßen Möglichkeit des
Bösen bliebe, daß die Einheit mit Gott nicht wirklich getrennt würde
und jene Verkehrung der Centra nicht einträte, in welcher der Mensch
sich wider Gott setzt, so wäre kein Widerstand da, den Gott zu über
winden hätte, und da in der Ueberwindung des Gegensatzes allein die
wirkliche Ossenbarung Gottes besteht, so wäre die letztere unmöglich.
Denn ossenbaren kann jedes Wesen sich nur in seinem Gegentheil: das
Licht in der Finsterniß. die Liebe im Haß, die Einheit in der Zwie
tracht. Allgemein, wie die göttliche Ossenbarung, ist auch deren nega
tive Bedingung, die Wirklichkeit des Bösen, welches die geistige Welt
versinstert; allgemein, wie die Wirklichkeit des Bösen, muß auch deren
Grund sein. Alles soll ossenbar werden, um gerichtet zu werden, nichts
in der Welt dars unentschieden und zweideutig bleiben, das Böse dars
nicht blos möglich sein, es muß mächtig werden. Es ist mächtig.
Der Kamps des bösen Princips mit dem Guten geht durch die Welt,
in dieser universellen Macht und Wirksamkeit des Bösen liegt die zu
erklärende Thatsache. Da das Böse in der Erhebung des menschlichen
Eigenwillens wider Gott besteht, so kann der Grund seiner Wirksam
keit nicht in Gott sein; da diese Wirksamkeit universell ist, so kann
ihr Grund nicht willkürlich und individuell-menschlich sein, auch ist
schon festgestellt, daß es kein böses Grundwesen giebt, weder einen
Teusel noch einen Luciser.
Iene allgemeine Thatsache und Wirksamkeit des Bösen ist daher
nur zu erklären aus einer Macht, die den menschlichen Willen zwar
nicht nöthigt, wohl aber versucht, sich wider Gott zu setzen, die den
Geist des Bösen zwar nicht verursacht, wohl aber sollicitirt oder weckt.
Diese Macht, die den menschlichen Willen erregen soll, kann selbst nur
Wille sein: sie ist, da sie der menschlichen Freiheit vorausgeht, blinder
der sittlichen Welt der Geist zum Bösen. Die Geburt des Lichts ift
das Reich der Natur, die Geburt des Geistes das Reich der Ge
schichte. „Wie in der ansänglichen Schöpsung das sinstre Princip
als Grund sein mußte, damit das Licht aus ihm erhoben werden
' Ebendas. S. 373-376. Bgl. Meine Geschichte d. neuern Philos. Bd. Vlll.
Buch II. Cap. VII. S. 247-249.
Das Vermögen des Guten und Bösen. 649
konnte, so muß ein anderer Grund der Geburt des Geistes und daher
ein zweites Princip der Finsterniß sein, das um so viel höher sein
muß, als der Geist höher ist, denn das Licht. Dieses Princip ist eben
der in der Schöpsung durch Erregung des sinsteren Naturgrundes er
weckte Geist des Bösen, d. h. der Entzweiung von Licht und Finster
niß, welchem der Geist der Liebe, wie vormals der regellosen Bewe
gung der ansänglichen Natur das Licht, so jetzt ein höheres Ideales
entgegensetzt."
So sind die beiden Reiche der Natur und Geschichte einander
völlig analog, jedes ist des anderen Erklärung und Gleichniß, in beiden
erscheinen dieselben Stusen der Offenbarung, dieselben Perioden der
Schöpsung: das Ziel der Natur ist die Verklärung der dunkeln Welt
im Bewußtsein, womit das Reich und die Herrschast des Menschen
beginnt; das Ziel der Geschichte ist die Unterwersung und Verklärung
der bösen Welt durch die Liebe, die Herrschast und das Reich Gottes.
Die erste Offenbarung vollendet sich in der Menschwerdung der
Natur (des dunkeln Willens), die zweite in der Menschwerdung
des göttlichen Ebenbildes (des Urwillens). Soll die Welt ver
klärt werden, so muß sie versinstert sein. Der Geist der Entzweiung
und des Bösen muß sich völlig entwickelt haben bis zur ausgepräg
testen Gestalt, bis zur äußersten Schärse, damit der Geist der Liebe
sich offenbaren und den Gegensatz versöhnen kann. Alle Entwicklung
geschieht in der Zeit, die Geschichte der Ossenbarung begreist die Welt
zeiten in sich.'
Der ansängliche Zustand der Menschheit kann nicht in der schon
entwickelten Gestalt des Bösen bestehen, er ist die Zeit der Unschuld
und Bewußtlosigkeit über die Sünde, der seligen Unentschiedenheit, wo
weder Gutes noch Böses war: das goldene Zeitalter, worin das gött»
liche Naturleben noch ungeschieden sortwirkt, „Gott selbst sich nur nach
seiner Natur und nicht nach seinem Herzen oder der Liebe bewegt".
Es solgt eine Zeit erster Scheidung, worin die göttlichen Naturkräste
des Menschen hervortreten und zeigen, was sie sür sich vermögen: das
Zeitalter „der waltenden Götter und Heroen oder der Allmacht der
Natur". Verstand und Weisheit kommt hier den Menschen allein
aus der Tiese, die Macht erdentquollener Orakel leitet und bildet ihr
Leben, alle göttlichen Kräste des Grundes herrschen aus der Erde, die
Achtunddreißigstes Capitel.
L, Der intelligible Charakter des Menschen, das vcrlMlniß des
Hosen zu Gott, die Persönlichkeit Gottes.
Eigenheit sordert, durch welches aller menschliche Wille als ein Feuer
hindurchgehen muß. um geläutert zu werden. Die Angst vor diesem
verzehrenden Feuer treibt den Menschen aus seinem wahren Centrum
652 Die menschliche Freiheit. L. Der intilligible Charakter des Menschen,
heraus und jagt ihn gleichsam zurück in die Arme der Natur, „um da
eine Ruhe seiner Selbstheit zu suchen". Wenn er diese Angst nicht
überwindet und in den Abgrund wirklich zurücksinkt, so ist das seine
eigene Thai!'
2. Indeterminismus und Determinismus.
Es wird daher zur Erklärung des Bösen gesordert, daß in ihm
die volle Schuld des Einzelnen, die That eigenster, individueller Frei
heit erkannt werde, ohne seine allgemeine Nothwendigkeit zu verneinen:
dies ist der sragliche, bis jetzt noch in gänzliches Dunkel gehüllte Punkt.
Man sieht sogleich, daß diese Frage ungelöst und unlösbar bleibt, so
lange in Ansehung der menschlichen Handlungen Freiheit und Noth
wendigkeit einander entgegengesetzt werden und man deren wirkliche
Identität nicht einsieht. Daher sind zur Auslösung dieses Problems
die Systeme des Indeterminismus und Determinismus aus gleiche
Weise unsähig. Der Indeterminismus behauptet die sogenannte Wil
lensindisserenz, die reine, durch nichts bestimmte Willkür, die ebenso
wohl handeln als nicht handeln, ebenso wohl dieses als jenes thun kann,
also in einem Vermögen, grundlos zu handeln, besteht, wodurch der
Mensch mit dem bedenklichen Vorrecht, ganz unvernünstig zu handeln,
privilegirt und von Buridans Esel, der bei gleich starken Determina
tionen im Angesichte des Futters verhungert, eben nicht aus die vor
züglichste Weise unterschieden wird. Gewöhnlich nehmen die Indeter-
ministen Handlungen, deren Gründe man nicht kennt, als Beispiele
grundloser Handlungen: eine sehr schlechte Beweisart, denn wo das
Nichtwissen eintritt, sindet um so gewisser das Bestimmtwerden statt.
Die absolute Willkür ist gleich der gänzlichen Zusälligkeit und ebenso
unmöglich, wie diese. Der Determinismus behauptet, daß alle mensch
lichen Handlungen durchgängig durch vorhergehende Ursachen bestimmt,
also vollkommen unsrei sind, wobei es gleichgültig ist. ob jene Ursachen
als äußere oder innere, als mechanische oder psychische gesaßt werden.
In Absicht aus die Erklärung des Bösen sind beide Systeme gleich
salsch; abgesehen von diesem Problem, dars das rationellere, d. h. der
Determinismus sür das (relativ) bessere geltend
3. Der intelligible Charakter.
Es giebt eine Freiheit, die nichts mit dem Zusall gemein hat
und darum selbst als Nothwendigkeit einleuchtet, eine Nothwendigkeit,
' Ebendas. S. 380-382. - ' Ebendas. S, 382 ff. Vgl. meine Prorektorals»
rede: Ueber die menschliche Freiheit. (2. Ausl. Heidelberg 1888.) S.21-80.
das Verhältnis des Bösen zu Gott, die Persönlichkeit Gottes. 6S3
die nichts mit dem Zwange gemein hat und darum identisch ist mit
der Freiheit: dies ist „eine innere, aus dem Wesen des Han
delnden selbst quellende Nothwendigkeit". Sie schließt jeden
Zwang, jede Nöthigung durch vorhergehende Ursachen, also jeden Causal-
nerus, auch den psychischen, mithin alle Succession von sich aus und
ist daher nicht zeitlicher und empirischer, sondern intelligibler Natur:
das intelligible Wesen des Handelnden selbst, nicht bestimmt durch
irgend etwas Vorhergehendes, sondern absolutes Prius. Auch ist dieses
intelligible Wesen selbst keineswegs unbestimmt, nicht etwa das Wesen
des Menschen überhaupt, sondern das Wesen dieses Menschen, d. h.
intelligibler Charakter: hier ist der Punkt, in welchem Freiheit
und Nothwendigkeit vollkommen eines sind. Der intelligible Charakter
ist srei, denn er ist die That des Individuums selbst, darum sind alle
Handlungen, die aus ihm solgen, srei und, weil sie solgen, noth-
wendig. Daß das Ich seine eigene That sei, hatte schon Fichte gelehrt,
aber er hatte diese That in das Bewußtsein gesetzt, und dieses ist
nicht das Erste; das Selbstersassen und Erkennen des Ich setzt, wie
alles bloße Erkennen, das eigentliche Sein schon voraus: dieses allem
Bewußtsein vorhergehende Sein ist reales Selbstsetzen, „ein Ur- und
Grundwollen, das sich selbst zu Etwas macht und der Grund
und die Basis aller Wesenheit ist".'
Der intelligible Charakter ist eine der Natur nach ewige That,
die durch die Zeit, unergriffen von ihr, hindurchgeht. Ieder Einzelne
ist krast seiner Selbstentscheidung dieser bestimmte Charakter, diese durch
gängig bestimmte Individualität von Ewigkeit her, seine Selbstentschei
dung ssllt zusammen mit der ersten Schöpsung, er wird nicht erst
dieser Charakter, sondern ist es. „So hat der Mensch, der hier ent
schieden und bestimmt erscheint, in der ersten Schöpsung sich in be
stimmter Gestalt ergriffen und wird als solcher, der er von Ewigkeit
ist, geboren, indem durch jene That sogar die Art und Beschaffenheit
seiner Corporisation bestimmt ist." Da nun dieses Ur- und Grund
wollen die Basis und Bedingung alles Bewußtseins ausmacht, so
leuchtet ein, daß dieser Grundact unseres Wesens nicht selbst in un
serem Bewußtsein vorkommen kann, daß wir uns daher jener intelli-
gibeln That nicht bewußt sind. Doch ist eine Spur davon in un
serem Bewußtsein geblieben. In jedem lebt ein Gesühl von der Frei-
heit und Nothwendigkeit seines Charakters, der durch jene ewige That
gesetzt ist ; er sagt : „ich bin nun einmal so, wie ich bin" und empsindet
doch zugleich diese seine Beschassenheit als eine imputable, also ver
schuldete und selbstverursachte. In diesem Sinne gilt die Prädestination,
sie gilt nicht, wie man sie gewöhnlich nimmt, durch einen grundlosen
Rathschluß Gottes, der die Freiheit in der Wurzel ausheben wärde,
sondern durch den eigenen Willen vor aller Zeit. „Wie der Mensch
hier handelt, so hat er von Ewigkeit und schon im Ansang der
Schöpsung gehandelt. Sein Handeln wird nicht, wie er selbst als
sittliches Wesen nicht wird, sondern der Natur nach ewig ist."
Ist nun der Mensch in der That böse, wie es die universelle
Wirksamkeit des Bösen in der Welt bekundet, und jene Macht des
widerstrebenden Eigenwillens der Natur, „die Reaction des Grundes'
erklärt, als durch welche die Selbstsucht allgemein erregt worden, so
hat er den natürlichen Hang zum Bösen selbst in seine That ver
wandelt, „er hat sich von Ewigkeit in der Eigenheit und Selbstsucht
ergriffen, und alle, die geboren werden, werden mit dem anhängenden, sin
steren Princip des Bösen geboren". In diesem Sinn gilt der Begriff des
angeborenen Bösen. Die Schuld liegt nicht in der Geburt, sondern
vor ihr und besteht in jener intelligibeln That, die den Charakter de»,
Menschen entscheidet und die Wurzel unseres sittlichen Seins ausmacht.
Darum ist das Böse ursprünglich oder radical, nicht Erbsünde,
die gleich einem Contagium sortpslanzend wirkt, nicht begründend, und
die eingetretene sittliche Zerrüttung voraussetzt. „Nicht die Leiden
schasten an sich sind das Böse, noch haben wir allein mit Fleisch und
Blut, sondern mit einem Bösen in und außer uns zu kämpsen, dal
Geist ist." Das Böse ist intelligibler Charakter: daraus allein
erklärt sich jene verschuldete Nothwendigkeit, die sein Wesen ausmacht,
als solche empsunden und nur von einer oberslächlichen und menschen-
unkundigen Beurtheilung der sittlichen Verhältnisse bestritten wird. Il
tieser die menschliche Selbsterkenntniß, um so gewisser ist die Anerken
nung der intelligibeln und radicalen Natur des Bösen. In der Philo
sophie jedoch ist es mit der bloßen Anerkennung nicht gethan; von ihr
wird die Durchdringung der Sache, die wirkliche Einsicht gesordert,
eine solche, in der die speculativen Gründe mit den religiösen überein
stimmen. Kant habe das radicale Böse nur in seiner Religionslehre
Ebendas. S. 385-388.
das Verhältniß des Bösen zu Gott, die Persönlichkeit Sottes. 6S5
im Bösen wie im Guten nicht anders sein und handeln, als man ist
und handelt, man kann keines von beiden willkürlich, wie ein Klei
dungsstück, anziehen oder ablegen. Die Willkür aus diese Art in das
Böse und Gute einsühren heißt die Macht und Gewalt beider voll
kommen verkennen und an der entscheidenden und gesährlichsten Stelle
leicht nehmen, was schwer ist. Dies aber ist der Tod der Sittlichkeit,
wie der Sittenlehre. In diesem Sinne nennt Schelling das seyuili,
bi,iuin ai,bitrii „die Pest aller Moral". Böse sein heißt beherrscht
sein vom Geiste der Selbstsucht, in welche der Eigenwille seinen
Schwerpunkt gelegt hat; gut sein heißt beherrscht sein vom Universal
willen (Geiste Gottes) und nur in ihm den Schwerpunkt des eigenen
Willens haben. In diesem Beherrschtsein giebt es weder hier noch
dort eine „selbstbeliebige Sittlichkeit". Im Bösen ist unser Eigenwille
losgerissen vom göttlichen Willen, diese Gottlosigkeit ist das Böse; im
Guten ist unser Eigenwille an den göttlichen gebunden, er ist und will
nichts anderes sein, als dessen Organ und Werkzeug, diese Gebunden
heit ist das Gute, welches Schelling darum im strengen und genauen
Verstande des Worts „Religiosität" nennt. Religiosität und Sitt
lichkeit sind dasselbe. Wie das gottlose Leben, bethört und verblendet,
dem Irrlicht« der Imagination solgt, so ist das religiöse Leben klar
im göttlichen Licht der Erkenntniß und duldet nichts Unklares; es ist
kein müßiges Brüten. andächtelndes Ahnen, Fühlenwollen des Gött
lichen, wie die Empsindungsphilosophen meinen; vielmehr wird jetzt
erst der Weg des Lebens nnd dessen Ziel vollkommen erleuchtet, die
Willensrichtung unwandelbar bestimmt und dadurch der sittliche Geist
des Handelns, der wahrhast praktische Charakter gegründet, dessen
Thun völlig übereinstimmt mit seiner Einsicht. In dieser Ueberein-
stimmung des Wahren und Guten, des Erkennens und Handelns be
steht „die Gewissenhastigkeit". Religiosität und Gewissenhastigkeit
sind dasselbe. Iene ist nicht nach Art der Gesühlsphilosophen zu ver
stehen, diese nicht nach Art der Moralisten, die bei jeder guten Hand
lung die ausdrückliche, von der Willkür abhängige Reflexion aus das
Pslichtgebot sordern, als ob man immer erst ins Buch sehen müßte,
um zu wissen, was zu thun sei. Auch zur strengsten Pflichtersüllung
mit dem Charakter Catonischer Herbheit und Härte ist keineswegs nöthig,
daß zuvor das Gebot der Pflicht citirt wird. Dieses Gebot ist in
dem gewissenhasten Handeln das Gesetz des Herzens, nothwendig und
zuversichtlich, wie die Religion, weder die selbstbeliebige Sittlichkeit der
«. Fischer, Gesch. d. Philos. VN 42
658 Die menschliche Freiheit. ». Der intelligible Charakter des Menschen,
II. Theodicee.
Das Problem des
Das1. Bösen
DieVerhältniß
Persönlichkeit
ist gelöst; Gottes.
es des
ist inBösen
seiner Möglichkeit
zu Gott.
keit überhaupt zu sassen, wenn man Gott entweder ohne Natur oder
blos als Natur begreist: das Erste geschah durch Fichte, das Zweite
durch Spinoza, darum mußte in den Systemen beider Philosophen
Gott als ein unpersönliches Wesen gelten. ^
Die göttliche Persönlichkeit ist der alleinige Inhalt der ewigen
Selbstoffenbarung Gottes. Da jene nun zwei Principien aus absolute
Weise in sich vereinigt, so hat diese nothwendig zwei gleich ewige An
sänge: Gott offenbart sich zugleich als Erstes und Letztes, als Grund
und Zweck, als Natur und Geist, als Krast und Einheit aller Kräste.
Es giebt keine andere Krast als Willen. Iene beiden Offenbarungs-
principien sind daher die Urrichtungen des göttlichen Willens: „Wille
des Grundes und Wille der Liebe". Der Wille des Grundes ist der
Offenbarungsdrang, die Sehnsucht des Einen sich selbst zu gebären,
von keiner äußeren Nothwendigkeit beherrscht, noch nicht von der Er-
kenntniß erleuchtet, daher „Mittlerer Natur, wie Begierde oder Lust
und am ehesten dem schönen Drang einer werdenden Natur vergleich
bar, die sich zu entsalten strebt, und deren innere Bewegungen unwill
kürlich sind, ohne daß sie doch sich in ihnen gezwungen sühlte." Der
Wille der Liebe dagegen ist schlechthin srei und bewußt, seine Offen
barung daher Handlung und That.
Es giebt in Gott und darum auch in der Natur keine andere
Nothwendigkeit als eine persönliche, die eins ist mit dem göttlichen
Willen und, da dieser jeden Zwang von sich ausschließt, mit der gött
lichen Freiheit. Darum wirkt auch in der Natur Freiheit, nicht
Willkür und ebensowenig eine starre, abstracte Nothwendigkeit, sondern
eine göttliche und geistige, die ihrem innersten Wesen nach sittliche
Nothwendigkeit ist: daher das Irrationale in der Natur, welches der
geometrische Verstand, der dem Idol allgemeiner und ewiger (von
allem Wollen unabhängiger) Naturgesetze nachgeht, nicht einsieht, so
sehr es sich ausdrängt. „Die ganze Natur sagt uns, daß sie keines
wegs vermöge einer blos geometrischen Nothwendigkeit da ist; es ist
nicht lautere, reine Vernunst in ihr, sondern Persönlichkeit und Geist
(wie wir den vernünstigen Autor vom geistreichen wohl unterscheiden).
Die Anerkennung der Naturgesetze als sittlich nothwendiger war eine
große Ahnung und eine der ersreulichsten Seiten der Leibnizischen
Philosophie. „Das höchste Streben der dynamischen Erklärungsart ist
kein anderes, als diese Reduction der Naturgesetze aus Gemülh. Geist
und Willen."
Der göttliche Wille ist bis jetzt dargestellt als ein dunkler, er-
kenntnißloser Wille, der krast seiner inneren Natur wirkt, also nicht
eigentlich handelt. Was durch diesen Willen geschieht, geschieht ohne
Wissen, ohne göttliche Vorhersehung aller in der Schöpsungsthat ent
haltenen und durch sie nothwendigen Folgen. So müßte und würde
es sein, wenn Gott blos dieser Wille, blos Ossenbarungsdrang. nur
das wäre, was „Natur in Gott" genannt wurde; dann gäbe es
keine Schöpsung, sondern nur eine Entwicklung Gottes, keine ewige,
sondern blos eine zeitliche Offenbarung, vielmehr gar keine, denn es
ist nichts da, dem etwas zu offenbaren wäre, außer Gott ist nichts,
und er selbst ist blind. Dann wäre auch Gott nicht persönlich, also
überhaupt nicht. Die Natur in Gott ist nicht er selbst, sie ist nicht
blos in ihm, sondern ihm gegenwärtig; was Gott ist, ossenbart er
barung)
sich selbstund
undErkennen
zwar von
sindEwigkeit
ewige, zeitlose,
her. Gottes
darum
Wirken
ungetrennte
(Selbstossen-
Acte:
die Natur ist nicht sein Zustand, sondern sein Object, seine Idee, sein
Bild, die in seinem Verstande ewig gegenwärtige urbildliche Welt, „in
der sich Gott ideal verwirklicht oder, was dasselbe heißt, sich in seiner
Verwirklichung zuvor erkennt". So ist die Notwendigkeit in Gott
eine von Ewigkeit her erleuchtete, erkannte, darum sittliche; und da
alle Nothwendigkeit aus der Persönlichkeit Gottes stammt, so kann es
keine
sällt, andere
daher jeue
geben,Willkür
als diese,
ausschließt,
die mit der
krastFreiheit
deren Gott
Gottesunter
zusammen»
vielen
möglichen Welten die eine ebenso gut als die andere hätte wählen,
d. h. sich auch anders hätte offenbaren und vorstellen, also auch anders
hätte sein können, als er ist. Mit der Persönlichkeit Gottes ,st auch
die Einheit und sittliche Notwendigkeit der Welt gesetzt. „In dem
göttlichen Verstande ist ein System, aber Gott selbst ist kein System,
sondern ein Leben." Spinoza erkannte in der göttlichen Notwendig
keit den Charakter der Einheit und Unverbrüchlichkeit, die jedes Anders
sein ausschloß; Leibniz verneinte diese Unverbrüchlichkeit durch seine
Annahme einer Vielheit möglicher Welten, er erkannte in der göttlichen
Nothwendigkeit den persönlichen und sittlichen Charakter, den Spinoza
verwars; Schelling vereinigt diese Gegensätze in seiner Lehre von der
Gott dem Bösen irgend einen Spielraum, gleichviel welcher Art, ein»
räumen. Die göttliche Selbstoffenbarung hat ihre unwandelbare Rick,-
tung, in der nichts Böses s«in kann; was innerhalb der Schöpsung
von
gleitungsweise"
dieser Richtung
aus der
abweicht
Selbstoffenbarung.
oder ihr zuwiderläuft,
Um das Böse
solgt zunur
verhin»
»be»
dern, hätte Gott die Menschwerdung der Natur unterdrücken, die Natur
selbst unwirksam lassen, den Grund seiner Existenz vernichten, d. h.
seine eigene Persönlichkeit ausheben müssen. „Damit das Böse nicht
wäre, müßte Gott selbst nicht sein." Das alleinige Ziel ist das Gute,
aber das Gute kann nicht sein ohne die höchste Willensenergie, ohne
die Tüchtigkeit
willens und aller
der ihm
Krast,dienenden
die Anspannung
Kräste. Diese
und Erregung
Erregung des
undEigen-
Acti-
virung der Selbstheit ist das Werk der Natur. Daß sie im mensch
lichen Eigenwillen zum Bösen verkehrt wird, ist nicht Werk der Natur
und nicht Wille Gottes, sondern des Menschen eigenste That; daß die
zum Guten nothwendige Krast in den Dienst des Bösen tritt und
hier parasitisch wirkt, ist absolut nicht zu hindern und keine Instanz,
gegen das Gute. „Wenn die Leidenschasten Glieder der Unehre sind",
sagt Iohann Georg Hamann, „hören sie deswegen aus. Waffen der
Mannheit zu sein?"'
3. Das Ende des Bösen.
Die natürliche Versuchung zum Bösen ist nicht das Böse, sondern
eine
dingung
nothwendige
in ihr Gegentheil
Folge der verkehrt
Bedingung
wirdzum
undGuten.
zum Mittel
Wenn des
dieseBösen
Be'
dient, so erscheint das letztere als Mißbrauch des Guten, denn .es
wirkt nur durch das (mißbrauchte) Gute". Jetzt erst erkennen wir den
Gegensatz und Kamps der beiden Principien in seinem vollen Licht.
Freilich ist das Böse nicht blos möglich, sondern mächtig, nicht blos
der Mangel des Guten, sondern dessen wirksamer Gegensatz, aber, weil
es von den Mitteln und der Krast zum Guten lebt, nur aus dieser
Quelle, und keinerlei davon unabhängiges, eigenes Vermögen besitzt,
so ist es dem Guten gegenüber keine selbständige und wirkliche Gegen
macht, die aus sich selbst gestützt Krieg sühren könnte; darum bleibt
auch in dem Kamps der beiden Principien das Ende nicht unentschie
den noch sraglich. Der Kamps ist von seiten des Bösen kein Kricg.
sondern Rebellion: es steht dem Guten gegenüber als empörter Unter»
er ist erst der Wille zur Liebe, erst, wie Schelling sagt, „der Geist
oder der Hauch der Liebe"; „die Liebe aber ist das Höchste".'
2. Das letzte Problem.
Es leuchtet ein, daß dieses Ziel und Ende der Dinge zusammen
sällt mit dem der göttlichen Selbstoffenbarung; der offenbare Gott ist
der wirkliche, seine Selbstoffenbarung ist gleich seiner Selbstverwirl-
lichung. die nothwendig durch Gegensätze hindurchgeht und darum ein
Werden in sich schließt. Iene letzte und höchste Scheidung bewirkt da
her „die vollkommene Actualisirung Gottes", den Zustand der Welt
verklärung, jenes Ziel der Zeiten, wo „Gott alles in allem, d. h. wo
er ganz verwirklicht sein wird"d Erst von hier ans läßt sich der Be
griff Gottes in seinem ganzen Umsange seststellen, und dies ist der
höchste Punkt der ganzen Untersuchung. Um die Ausgabe näher zu
bestimmen: der Begriff der göttlichen, gegensatzlosen Alleinheit, der .
Schellings srüheren Ideengang beherrscht hat, soll jetzt vereinigt wer
den mit dem Begriffe der durch innere, active Gegensätze bedingten
und wirksamen Persönlichkeit Gottes, das ewige Sein Gottes mit
dem ewigen Werden, der Pantheismus mit dem Theismus, denn der
Schwerpunkt des ersten liegt in der Lehre von der göttlichen Allein
heit, der des zweiten in der Lehre von der göttlichen Persönlichkeit.
Und was die letztere betrifft, erklärt Schelling selbst, er glaube, in
seinen
lichen Begriff
Unsersuchungen
derselben über
ausgestellt
die menschliche
zu haben."
Freiheit
Dieses
den neue
ersten
Problem
deut-
geht aus der Freiheitslehre hervor, und man dars sagen, daß es alle
solgenden in sich schließt. Der Unterschied dieser Freiheitslehre von
dem ansänglichen Identitätssystem springt in die Augen, aber man
' Ebendas. S. 405 ff. S. 407 ff. - ' Ebendas. S. 403 ff. — ' Ebendas. S. 4lS.
das Verhältniß des Bösen zu Gott, die Persönlichkeit Gottes. 6«5
welcher die Gegensätze activ sind. Das Erste und Letzte ist gegensatz»
lose Einheit: jenes ist die Einheit vor allen Gegensätzen, dieses die
Einheit über allen; dort sind die Gegensätze noch nicht hervorgetreten,
hier sind sie vollkommen ausgelöst und überwunden. Die Einheit vor
allen Gegensätzen nennt Schelling, weil alles göttliche Leben aus ihr
entspringt, „den Urgrund" und im Unterschiede von „dem Grunde",
der die eine Seite des Gegensatzes ausmacht (die Natur in Gott),
„den Ungrund": sie ist, was er srüher „die absolute Indifferenz'
genannt hatte. Auch jetzt gilt dieser Ausdruck, aber nicht mehr in
seinem srüheren Umsange. Die Indifferenz ist nicht mehr gleich den.
Absoluten selbst, sondern bezeichnet nur den Ansangspunkt. Schelling,
sagt es ausdrücklich: „In dem Ungrund oder der Indifferenz ist srei
lich keine Persönlichkeit, aber ist denn der Ansangspunkt das Ganze?"
Das Ganze, „der Gott, der alles in allem ist", die gegensatzlosc
Einheit nach Ueberwindung und Unterwersung aller Gegensätze ist die
absolute Persönlichkeit oder die Liebe Gottes. Ienen mittleren Zustand
aber werdender Offenbarung, der die Gegensätze als wirksame in sich
trägt, in ihrer Ueberwindung begriffen und darum Entgegengesetztes
zugleich ist, nennt Schelling jetzt „Identität" im Unterschiede von
der Indifferenz. Diese Identität ist Wille zur Offenbarung, dessen
Ziel
kanntein Natur
Gott ewig
oder „Geist".
erkannt, darum
Iene göttlichen
nicht blos
Lebenszustände
Natur ist, sondern
sind daher:
er>
von hier aus betrachtet, blos natürliches oder blos geistiges Leben,
d. h. in jedem von beiden das Ganze sein, daher die beiden gleich
ewigen Ansänge des gottlichen Lebens: Natur und Idee, dunkler Wille
und Universalwille.> Dies ist der Gegensatz, welchen Schelling jetzt
»Dualität" nennt. In dieser unentschiedenen Fassung des göttlichen
Urprincips ist ein Problem enthalten, das die gegenwärtige Lehre von
der menschlichen Freiheit nicht auslöst: das Problem der göttlichen
Freiheit, welches in dem späteren Ideengange des Philosophen die
negative Philosophie von der positiven scheidet.
Das System Schellings. in seinen Bestandtheilen wesentlich un
verändert, hat sich vertiest und erweitert, es hat damit seine Anschau
ungen von dem ersten Grund und dem letzten Ziel der Dinge ver
ändert. Wer den Ideengang des Philosophen durchschaut, begreist
den Grund dieser Veränderung. Es ist ein neues Problem eingetreten,
welches den Philosophen zwingt, tieser und höher zu greisen als vor
dem: das Problem der Religion. So lange die Kunst als die
Vollendung der Welt galt, durste die Indifferenz oder Identität als
das Erste und Letzte crscheinen. Aber die Kunst hat das Problem der
Religion hervorgezogen, diese hat das Problem der Freiheit und des
Vosen geweckt und damit den Ideengang Schellings in eine ihm bis
dahin verborgene Tiese gerichtet.
4. Gottesgesühl und Gotteserkenntniß.
In einem Punkt bleibt Schelling auch in Hinblick aus das Pro»
blem der Religion seinen Ansängen treu: daß dieses Problem durch
die Philosophie vollkommen ausgelöst, die Tiese des Göttlichen durch
die Vernunst erleuchtet, die Offenbarung durchdrungen, die Persönlich
keit Gottes begriffen werden könne und müsse, denn es ist die Ver
nunsst, durch welche Gott sich selbst erleuchtet. Der Punkt ist wichtig,
weil aus ihm die nächsten Controversen entspringen. Gesühl und
Ahnung sollen sich nicht über die Vernunsterkenntniß erheben, dies
hieße innerhalb des menschlichen Geistes die Welt verkehren und das
Dunkel erheben über das Licht und die Klarheit. „Das Gesühl ist
herrlich, wenn es im Grunde bleibt, nicht aber wenn es an den Tag
tritt,
hält sich
sich zum
zur Erkenntniß,
Wesen machen
wieund
der herrschen
dunkle Grund
will." zur
DasPersönlichkeit,
Gesühl ver»
Neununddreißigstes Capitel.
Naturalismus und Theismus.
Gott ist, was er sein will. „Wenn er menschlich ist und sein wollte,
wer dars etwas dagegen einwenden?" Wenn er selbst herabsteigt von
jener Höhe nnd sich mit der Creatur gemein macht, warum sollte
ich ihn mit Gewalt aus jener Höhe erhalten wollen? Wie sollte durch
die Vorstellung seiner Menschlichkeit ich ihn erniedrigen, wenn er doch
sich selbst erniedrigt? Man verneine „die Evolution Gottes aus
sich selbst", weil das Vollkommene nicht aus dem Unvollkommenen,
das Licht nicht aus der Finsterniß, der Verstand nicht aus dem Ver
standlosen hervorgehen könne. Man begreist dieses Hervorgehen nicht.
In Wahrheit geht der Verstand hervor aus dem Verstandlosen, als
dem Ersterbenden, wie die Tugend ans dem überwundenen Laster, die
tracht
Heiligkeit
aus aus
der Hölle
der gänzlich
der Zwietracht,
erstorbenenGottes
Sünde,
Leben
der im
Himmel
Menschen
der Ein»
aus
dem Sterben des Teusels im Menschen, Gott selbst aus der Natur in
Gott. Und Eschenmayer konnte sagen: „was Sie den dunkeln Grund
der Existenz Gottes nennen, ist doch so etwas Aehnliches von Teusel!"
Wenn man diesen Proceß, die Einheit durch Ueberwindnng der Gegen'
sähe,
solute leugnet,
Dualismus,
so bleibt
die nichts
völlige übrig
Scheidung
als der
zwischen
todte Gegensatz,
Gott und Mensch:
der ab»
hier wurzeln
lichste Ausklärung,
alle auss
wie die
Nichtwissen
sromme hinauslausende
Schwärmerei. Alle
Lehren,
wahre
die Erkennt-
verderb»
' Fr. H. Iacobi, Von den göttlichen Tingen und ihrer Offenbarung. (Leipzig
1811.) S. 32-40. 90 ff. - ' Ebendas. S. 3 ss.
Naturalismus und Theismus.
dung das äußere Wort, der Machtspruch der Autorität, der körperliche
Beweis durch Wunder, dieser ist in ihren Augen nicht blos der höchste,
sondern der alleingültige, der den Glauben erzwingt. So gerathen
sie leicht aus den Abweg eines „religiösen Materialismus" (vor dem
der Wandsbecker Bote wenigstens zu warnen ist), während ihre Gegner
sich leicht in einen „religiösen Chimärismus" verlieren. Beide setzen
an die Stelle des Lebendigen das Todte. Um bildlich zu reden: die
Realisten geben statt des lebendigen Pserdes das ausgestopste, die Idea
listen das gemalte; reiten läßt sich aus keinem von beiden. „Das
ausgestopste Pserd ist körperlicher, man kann es besteigen und ordent
lich seinen Sitz daraus nehmen, aber das gemalte, wenn es ein Raphael
entwars und aussührte, kommt dem wahren Pserde doch näher, es ist
in ihm ein Leben, das jenem sehlt." „Nur Kinder und Blödsinnige,
wenn sie aus einem ausgestopsten Pserde sitzen oder mit einem Stecken
zwischen den Beinen herumlausen, sagen, daß sie reiten."'
Die Idealisten, „diese Philosophen nicht im höchsten, sondern im
äußersten Verstande", kommen von Kant her. Die erste leibliche Tochter
der kritischen Philosophie war die Wissenschastslehre, die zweite ist die
Natur- oder Identitätsphilosophie: jene setzte an die Stelle Gottes die
moralische Ordnung, nicht die Ursache derselben, sondern die rein und
schlechthin nothwendig seiende Weltordnung selbst; diese setzte Gott
ebensalls gleich der lebendigen und wirkenden Ordnung der Dinge, er
klärte die letzte aber sür bloße Natur und die Natur sür das Alleine,
außer und über dem nichts sei. So ist die Identitätslehre bloßer
Naturalismus, „Idealmaterialismus", sie ist, wie sich Iacobi sonder
bar genug ausdrückt, als ob umkehren und verklären dasselbe wäre,
„umgekehrter oder verklärter Spinozismus".'
Indessen ist die Abkunst dieser letzten Lehre von Kant nicht ebenso
echt und unzweideutig als die der Wissenschastslehre; sie hat die logische
Folgerichtigkeit aus ihrer Seite, denn der Verstand bejaht bei Kant
nur die Natur, dagegen widerstreitet sie dem tiesern Geist der Kan
lichen,
tischen Lehre,
mit der derunmittelbaren
es mit der Realität
Vernunsterkenntniß
der Ideen und
des des
Realen
Uebersinn-
Ernst
rinen alles erzeugenden Natur: diese letzte Folgerung zog die moderne
Naturphilosophie.'
Die Grundsrage heißt: was ist das Erste und Absolute? Ist das
Princip der Dinge das Unvollkommene oder das Vollkommene, Chaos
oder Schöpsung, Allheit oder Persönlichkeit, Grund oder Ursache? Der
Naturalismus entscheidet sich sür die erste Fassung und hat darum in
seiner unversälschten Form nichts gemein mit dem Theismus. Ein
solcher baarer, ausrichtiger, unsträslicher Naturalismus ist die Lehre
Spinozas, die dadurch der Philosophie einen großen Dienst geleistet
und dem Charakter ihres Urhebers das Zeugniß der reinsten Wahr
heitsliebe geredet hat; anders verhält es sich mit dem Naturalismus
der Gegenwart, der mit dem Theismus liebäugelt, ihm Ausdrücke ab-
borgt und den trügerischen Schein einer religiösen Denkweise annimmt.
„Der Naturalismus muß nie reden wollen auch von Gott und gött
lichen Dingen, nicht von Freiheit, von sittlich Gutem und Bösem, von
eigentlicher Moralität, denn nach seiner innersten Ueberzeugung sind
diese Dinge nicht, und von ihnen redend, sagt er, was er in Wahrheit
nicht meint. Wer aber solches thut, der redet Lüge." Wenn z. B.
erklärt wird, die Natur sei „das Alleine", dieses Alleine sei „die ab
solute Productivität" u. s. s., so kommt man aus einer Unbestimmt
heit und Verlegenheit in die andere; heißt es dann weiter, die abso
lute Productivität sei „die heilige, ewig schaffende Urkrast der Welt,
die alle Dinge aus sich selbst erzeuge und werkthätig hervorbringe",
sie sei „der allein wahre Gott, der Lebendige", so enthält die Rede
Doppelsinniges und Täuschendes.^ Wir hören Schelling reden! Es
werden Stellen angesührt, die sich wörtlich in seiner „Rede über das
Verhältniß der bildenden Künste zur Natur" sinden; kein Zweisel da
her, daß der Vorwurs der Täuschung und Lüge aus ihn bezogen sein will.
Der Naturalismus kennt keinen Gott und keine Offenbarung
Gottes; er täuscht, wenn er so redet. „Nur das höchste Wesen im
Menschen zeugt von einem Allerhöchsten außer ihm, der Geist in ihm
allein von einem Gott. Darum sinkt oder erhebt sein Glaube sich,
wie sein Geist sinkt oder sich erhebt. Nothwendig, wie wir im inner
sten Bewußtsein uns selbst sinden und sühlen, so bedingen wir unseren
Ursprung, so stellen wir ihn uns selbst und anderen dar, erkennen uns
als ausgegangen aus dem Geist, oder wähnen uns ein Lebendiges des
' Ebendas. S. 186 ff. Beil. ^. S. 193-197. - ' Ebendas. S. 1S4-157, 169.
«78 Naturalismus und Theismus.
> S.^^I. Vd. 8. E. 19-136. (Die Vorrede ist vom 13. December 1811.)
- ' Schellmgs Denkmal u. s. s. Vorläusige Erklärung. 2. W. I. Bd. 8.
E. 23-38, 135.
«so Naturalismus und Theismus.
es ist nicht wahr, daß der Grund stets dem Begründeten übergeordnet
sein müffe, sonst müßte das Fundament eines Hauses über demselben
stehen, es liegt unter ihm; nach Iacobi giebt es keinen Grund in der
Tiese, sein Argument ist „der Gegenbeweis aller Tiese". „Iede Ent
wicklung hat ihren Grund; nothwendig ist der Entwicklungsgrund
unter dem, was entwickelt wird, er setzt das sich aus ihm Entwickelnde
äber sich, erkennt es als Höheres und unterwirst sich ihm als Stoff,
als Organ, als Bedingung." So verhält es sich mit allem wahrhast
Lebendigen. Wenn Gott nicht lebendig wäre, wie könnte er persönlich
sein? Der Grund seines Daseins ist nicht vor und über Gott, son
dern vielmehr vor und unter ihm. Wenn es sich anders ver
hielte, wäre Gott nicht lebendig; daß es so ist, hat Schelling in einer
Lchrist ausgesührt, die Iacobi nicht kennt: in seiner Abhandlung über
die Freiheit.
Iacobi begründet seinen Standpunkt aus dem Gegensatz der beiden
allein möglichen Richtungen, welche die Grundsrage der Philosophie
erschöpsen: entweder gelte als Princip das Unvollkommene oder das
Vollkommene; da die erste Annahme unmöglich sei, so sei die zweite
notwendig. Dieses Argument ist salsch, denn es giebt ein drittes,
worin jene Gegensätze vereinigt werden, und in dieser Vereinigung
liegt die Wahrheit: das Vollkommene erhebt sich aus seiner
eigenen Unvollkommenheit. Der allein wahre und gültige Unter
schied besteht zwischen der potentiellen und actuellen Vollkommenheit,
jene ist das Erste, diese das Letzte. Daß es so ist, beweist jede Ent
wicklung. ^
Wie nun der Entwicklungsgrund zu dem Entwickelten, die poten
tielle Vollkommenheit zur actuellen, so verhält sich die Natur zu Gott
und demgemäß der Naturalismus zum Theismus. Sie gehören daher
noihwendig zusammen; sür sich genommen, ist jedes der beiden Systeme
„eine schlechte Halbheit", die auch nur „Halbköpse" behaupten: Gott
ohne Natur und die Natur ohne Gott! Dort ein unnatürlicher, im
Leeren schwebender und innerlich leerer Gott, hier eine gottlose Natur.
Dies ist der unmögliche Gegensatz, der aus einer abstracten und künst
lichen Trennung des Theismus und Naturalismus nothwendig solgt.
Daher muß die Vereinigung beider gesordert werden, und diese ist nur
aus eine einzige Art möglich. Vom Theismus giebt es keinen Weg
Geschichte, ist eigentlich nichts anderes als der Proceß der vollendeten
Bewußtwerdung, der vollendeten Personalisirung Gottes." Wie der
Proceß unserer Selbstbildung darin besteht, daß wir das in uns be
wußtlos Vorhandene zum Bewußtsein, das angeborene Dunkel in uns
in das Licht erheben, mit einem Worte zur Klarheit gelangen, so gilt
dasselbe von Gott. „Das Dunkel geht vor ihm her, die Klarheit
bricht aus der Macht seines Wesens hervor." „Das ganze Leben ift
eigentlich nur ein immer höheres Bewußtwerden, die meisten stehen
aus dem niedrigsten Grade, nnd die sich auch Mühe geben, kommen
meist doch nicht zur Klarheit und vielleicht keiner im gegenwärtigen
Leben zur absoluten Klarheit." - „Das Nämliche gilt nun von Gott."
„Nur ist natürlich dieses Bewußtlose von Gott ein Unendliches, wie
er selbst." Gottes Selbstentwicklung ist Weltschöpsung. „Gott selbst
ist über der Natur, die Natur sein Thron, sein Untergeordnetes, aber
alles in ihm ist so voll Leben, daß aum dieses Untergeordnete wieder
in eigenes Leben ausbricht, das rein sür sich betrachtet ein ganz voll
kommenes Leben ist, obgleich in Bezug aus das göttliche Leben ein
Nichtleben. So hat Phidias an der Fußsohle seines Iupiter die
Kämpse der Lapithen und Centauren abgebildet. Wie hier der Künstler
auch noch die Fußsohle des Gottes mit krästigem Leben ersüllt, so ist
gleichsam das Aeußerste und Entsernteste von Gott noch volles krästiges
Leben in sich selbst."'
Entweder ist alle wirkliche Gotteserkenntniß zu verneinen, womit
die Grundlagen der Lehre Schellings sämmtlich ausgehoben wären,
oder sie ist, im Geiste der kritischen Philosophie, aus die menschliche
Selbsterkenntniß zu gründen, nicht aus die oberslächliche, im gewöhn
lichen Alltagslicht des Bewußtseins gegebene, sondern aus die tiesste,
die von dem Abgrunde der bewußtlosen Natur in uns bis zu den
Höhen des Geistes hinausreicht. Nur aus dem göttlichen Leben in
nns läßt sich das göttliche Leben in seiner absoluten Wirklichkeit er
leuchten. Dies ist der Sinn der von Schelling gesorderten anthropo-
morphischen Gotteserkenntniß. die aus einem in die Labyrinthe der
menschlichen Natur eindringenden Tiesblick beruht, mit dem der soge
nannte gewöhnliche und seichte Anthropomorphismus in gar keiner
Vergleichung steht. Gerade diesen Punkt, von dem zur richtigen Wür
digung der Theosophie Schellings alles abhängt, hatte weder Eschcn-
mayer noch Iacobi begrissen.
' Stuttgarter Privatvorlesungen. S. W. I. Bd, 7. S. 431-445, 454.
Naturalismus und Theismus. 689
> Ebendas. S. 422-431, 435 ff. Der obige Unterschied heißt auch »Sein
und Position des Seins", „Position und Position der Position". 2. 426 ff. -
- ' Ebendas. S. 427 ff. - » Ebendas. S. 484.
«, Filch«. »elch. d. Philo!. VI! «
Naturalismus und Theismus.
Vierzigstes Capitel.
Die Weltalter.
über das Wesen der menschlichen Freiheit vom Iahre 1809 und den
Ttuttgarter Privatvorlesungen vom Iahre 1810 steht die Lehre von
den Weltaltern, welche Schelling im Iahre 1811 auszusühren begonnen
hat. Das erste Buch ist damals gedruckt, aber erst aus dem Nachlaß
veröffentlicht worden. Weiter ist das aus drei Bücher berechnete Werk
niemals gediehen. ^
Unter „Weltalter" sind hier nicht menschliche, sondern göttliche
Weltzeiten oder Aeonen zu verstehen, die sich auch in Vergangenheit.
Gegenwart und Zukunst scheiden: die Vergangenheit ist die Zeit vor
dieser Welt, die Gegenwart die Zeit dieser Welt, die Zukunst die Zeit
nach ihr. Das erste und einzige Buch der Weltalter handelt von „der
Vergangenheit" in diesem Sinn. Obwohl das göttliche Dasein nicht,
wie das menschliche, dem Lause der Zeit unterliegt, so müssen wir uns
die göttlichen Zeiten zwar nicht nach menschlicher Chronologie, wohl
aber, wie auch das göttliche Leben selbst, nach menschlicher Analogie
vorstellen. Die Vergangenheit liegt hinter uns, die Zukunst vor uns,
die Gegenwart wird erlebt; die erste wird gewußt, die zweite erkannt,
die dritte geahndet.'
Wahrhast hinter uns liegt nur, was wir hinter uns gebracht
und überwunden haben, so daß wir nun, erleichtert und srei, uns im
Llande sühlen, auch etwas vor uns zu bringen. Nur durch die Ver
gangenheit entscheidet sich die Gegenwart; nur durch das, was wir
hinter uns gebracht und überwunden haben, entscheidet sich, was wir
sind. Schön und tressend sagt Schelling: „Vergangenheit, ein ernster
Vegriff. allen bekannt und doch von wenigen verstanden. Die meisten
wissen keine, als die in jedem Augenblick durch eben diesen sich ver
größert, selbst noch wird, nicht ist. Ohne bestimmte, entschiedene Gegen-
> S. W. I. Bd. 8. S. 195-34?. Vgl. oben Buch I. Cap. XI. S. 149-152.
Cov. XII. 2. 163-167. — ' «chelling. Weltalter. S. 256.
Die Weltalrer.
wart giebt es keine; wie viele ersreuen sich wohl einer solchen? Der
Mensch, der nicht sich selbst überwunden, hat keine Vergangenheit oder
vielmehr kommt nie aus ihr heraus, lebt beständig in ihr." „Nur der
Mensch, der die Kraft hat, sich von sich selbst (dem Untergeordneten
seines Wesens) loszureißen, ist sähig, sich eine Vergangenheit zu er
schassen, aber dieser genießt auch allein einer wahren Gegenwart, wie
er einer eigentlichen Zukunst entgegensieht." „Es ist keine Gegenwart
möglich, als die aus einer entschiedenen Vergangenheit beruht, und
keine Vergangenheit, als die einer Gegenwart als Ueberwundenes zu
Grunde liegt." '
Hieraus erhellt, was die Vergangenheit in Gott bedeutet und wie
sich dieselbe erklärt. Weil es eine „Natur in Gott" giebt, etwas in
Gott, das nicht Gott ist, etwas zu Ueberwindendes und ewig Ueber
wundenes, darum giebt es in Gott eine Vergangenheit, also auch
Gegenwart und Zukunst. Die Lehre von den göttlichen Weltaltern
stammt unmittelbar aus der Lehre von der Nothwendigkeit und Frei
heit in Gott, von der Persönlichkeit Gottes, der seine Natur als
Ueberwundenes zu Grunde liegt.* Etwas überwinden heißt sich darüber
erheben, davon loskommen und sortschreiten von Niederem zu Höherem.
Eine solche Fortschreitung ist Erhebung und als solche Potenzirung.
da sie eine Reihe nothwendiger Stusen oder Potenzen in sich schließt.
Dies gilt, wie vom menschlichen, so auch vom göttlichen Leben. Tarin
aber unterscheiden sich beide, daß dieses keine Rücksälle oder Rückschritte
erleidet, sondern in beständiger Erhebung ist. Was hier vergeht, ift
ewig vergangen. „Die Wege des Herrn sind gerecht, wie die Schrift
sich ausdrückt, d. h. gerad' vor sich, alles Rückgängige ist gegen seine
Natur." ^ Hier erleuchtet sich der Zusammenhang zwischen der Lehre
von den Weltaltern und der von den Potenzen, welche beide aus
der Lehre von der Freiheit und Persönlichkeit Gottes hervorgehen;
diese aber ist in der Natur Gottes gegründet. In der beständigen
Fortschreitung oder Erhebung offenbart sich nacheinander, was im
Wesen Gottes zugleich enthalten ist. Er offenbart, was er von Ewigkeit
ist: diese ewigen Nothwendigkeiten nennt Schelling Principien. ihre
sortschreitende Offenbarung oder Zeiten nennt er Potenzen; die Prin
cipien sind simultan, die Potenzen sind successiv.*
' Ebendas. S. 2S9. - ' S. oben Buch II. Cap. XXX VII. S. 640. Cap,
XXX VIII. S. 6S8. - ' Weltalter. S. 261. - « Ebendas. S. 309 ff.
Die Weltalt«. 693
Unter dem Wesen oder der Natur Gottes verstehen wir dasjenige,
was Gott von Natur, d. h. „schon durch sich selbst ist, ohne sein Zu-
lhun". Eben darin besteht die Nothwendigkeit seiner Natur, die er
durch die Freiheit überwindet und zu ewiger Vergangenheit herabsetzt.
Gstt, sosern nur von seiner Nothwendigkeit geredet und von seiner Freiheit
ganz abgesehen wird, ist das Wesen, welches schlechterdings sein muß,
„dem nicht »erstattet ist nicht zu sein". Dieses nothwendige Wesen
saßt zwei Kräste oder Principien in sich, ohne welche es weder per
sönlich noch göttlich sein kann. Ohne die Krast der Selbstheit
(Lgoitat) kann es nicht persönlich, ohne die Krast der Mittheilung,
Ausbreitung. Hingebung kann es nicht göttlich sein. Beide Kräfte
sind einander entgegengesetzt: jene ist die anhaltende, verschließende und
verschlossene, diese ist die ausquellende, ausbreitsame, sich selbst gebende;
sie verhalten sich, wie das Versinsternde und Aushellende, wie Verneinung
und Bejahung, wie Nein und Ia. Strenge und Milde, Zorn und
Liebe, Zornseuer und Liebesseuer (Ausdrücke, die an Iacob Böhme
erinnern und sich aus seinem Einfluß erklären). Beides ist Gott, er
ist beides von Natur, krast seiner Nothwendigkeit, ohne daß seine
Freiheit sich regt und in Thätigkeit tritt; dieser Gegensatz, diese
Toppelheit herrscht in dem Urlebendigen: ein und dasselbe Wesen (Gott)
ist zweierlei und besteht in zwei Urwesen, wie Zoroaster gelehrt hat.
Wäre Gott nichts als dieser Gegensatz, den die Nothwendigkeit seiner
Natur in sich schließt, so wäre die Grundidee der persischen Religion
endgültig.>
2. Der Widerspruch in der Natur Gottes.
So ist das Urwesen krast der Nothwendigkeit seiner ersten Natur
>m beständigen Widerstreit seiner Kräste begrissen. Dieser Widerspruch
in ihm ist so nothwendig, wie es selbst. Ohne denselben giebt es keine
Bewegung, kein Leben, keinen Fortschritt, sondern ewigen Stillstand, To-
desschlummer aller Kräste. So gewiß Leben ist, so gewiß ist der Wider
spruch in der ersten Natur, in dem Urwesen selbst: er ist der Quellbronn
des ewigen Lebens und alles Lebens, das unermüdliche Feuer («x«^«-
'" i5p), wodurch alles Leben gehen muß. Widerspruch ist des Lebens
Triebwerk und Innerstes: daher alles Thun unter der Sonne so voller
Drangsal und Mühe, daher Angst die Grundempsindung jedes lebenden
Geschöpss, daher die Allgegenwart des Leidens in der Welt; alles.
was wird, kann nur im Unmuth werden; das Leiden ist der Weg zur
Herrlichkeit auch in Ansehung des Schöpsers. Der wahre Grundstoff
alles Lebens und Daseins ist das Schreckliche.'
Ans dem Widerspruch im Urwesen, das allem Dasein, auch der
Persönlichkeit Gottes selbst zu Grunde liegt, sehen wir die Leiden der- '
vorgehen, die den tragischen Charakter der Welt und des Lebens aus
machen. „Die Construction dieses Widerspruchs ist die höchste Ausgabe
der Wissenschast. Daher der Vorwurs, es sange die Wiffenschast mit
einem Widerspruch an, dem Philosophen gerade so viel bedeutet, als
dem Tragödiendichter, nach Anhörung der Einleitung des Werks, die
Erinnerung bedeuten möchte, nach solchem Ansang könne es nur aus
ein schreckliches Ende, aus grausame Thaten und blutige Ereignisse
hinauslausen, da es eben die Meinung ist, daß es daraus hinausgehe.'*
3. Der Urdrang zum Sein und das Endziel.
Das Thema aber jenes sundamentalen Widerspruchs, in welchem
die beiden Kräste unaushörlich mit einander streiten und ringen, ist
der nothwendige (unwiderstehliche) Trieb zum Dasein, der Wille zum
Leben, „der Urdrang zum Sein", es ist das sich selbst Wollen,
nur sich, in engster Concentration, verneinend alle Ausdehnung. Dieser
Urdrang ist die Grundlage, gleichsam der Wurzelstand der Egoität.
So lange der Streit der Kräste sortdauert, herrscht der Widerspruch,
der endlose Wechsel der Anstrengung und Erschlaffung, der Zusammen'
ziehung und Wiederausbreitung, das nimmer endende und wieder'
beginnende, ewig in sich kreisende Leben. Diese nie gestillte Sucht zu
sein würde gestillt sein, wenn das Ziel erreicht wäre; das erreichte Ziel
ist nicht das vergängliche, sondern das ewige Sein: daher jene ewig
ungestillte Sucht zu sein nichts anderes ist als „die beständige Sucht
nach Ewigkeit", diese aber ist nicht der Wille, der dieses oder jenes
begehrt,
lose Wille,also der
überhaupt
Wille, der
nichtnichts
der begehrende,
will. „Ia sondern
wohl ist der
es ein
begierde-
Nichts:
aber wie die lautere Freiheit ein Nichts ist, wie der Wille, der nichts
will, der keine Sache begehrt, dem alle Dinge gleich sind, und der
darum von keinem bewegt wird. Ein solcher Wille ist nichts und
alles." „Freiheit oder der Wille, sosern er nicht wirklich will, ist der
bejahende Begriff der unbedingten Ewigkeit, die wir uns nur außer
aller Zeit, nur als die cwige Unbeweglichkeit vorstellen können. Dahin
zielt alles. „Darnach sehnt sich alles." „Alle Bewegung hat nur die
ewige Unbeweglichkeit zum Ziel, und es ist alle Zeit, auch jene cwige
Zeit, nichts anderes als die beständige Sucht nach der Ewigkeit."
„N^an pflegt zu sagen: des Menschen Wille sei sein Himmelreich, und
es ist wahr, wenn unter diesem Willen der reine, nackte, bloße Wille
verstanden wird. Denn der Mensch, der in sein reines Wollen versetzt
würde, allein wäre srei von aller Natur." ^
Wesen streben nach den höheren, diese sind ihre Vorbilder und Ur
bilder, die Ideen oder Gesichte der Natur. „Noch jetzt zeigt sich die
Natur als durchaus visionär und muß es sein, weil sie im Vorher
gehenden schon aus das Zukünstige sieht; ohne diese Eigenschast wäre
das unleugbar Zweckmäßige im Einzelnen und Ganzen, ihr allge
meiner und besonderer Tcchnicismus völlig unbegreislich." ^
Der Stusengang der Dinge erhebt sich im Menschen zur Ent
saltung der Geisterwelt, deren höchstes Ziel in der Lauterkeit des Er
kennens und Wollens besteht: in der Idee des Schönen, Wahren,
Guten. Diese Idee zu erzeugen und von dem anhängenden Dunkel
immer mehr zu besreien und zu läutern: darin besteht das eigentliche,
innerste Thema der Welt und der in ihr waltenden schöpserischen Kunst.
Iene Idee und ihre Lauterkeit vergleicht Schelling mit dem Gold,
darum vergleicht er diese schöpserische Kunst, in der sich der Weltproceß
vollzieht, mit der Alchemie. „Den gewöhnlichen Begriff der Alchemie
muß mau dem Pöbel überlassen; aber Alles, was um uns vorgeht,
ist, wenn man will, eine beständige Alchemie, selbst jeder innere Proceß,
Erst in seiner vollen Freiheit, als absolut sreier Wille ist er der
wahrhastige, persönliche Gott: dieser offenbart sich, nicht weil er
muß, sondern weil er will; es steht daher bei ihm, ob er sich ossen
bart oder nicht. Daß er sich offenbart, geschieht durch seinen sreien
Willen, durch seinen unbedingten, völlig unerzwungenen Entschluß; aber
wenn er sich zur Offenbarung entschließt, so kann er nicht anders als
> Ebendas. 2. 285. - „ Ebendas. S. 301 ff.
Die Weltalter.
seine Natur walten lassen, den Streit der Kräste entsesseln, eine ent
wicklungskrästige und entwicklungsthätige Welt hervorbringen, dann muß
er in das Reich der Nothwendigkeit, in die Zeitsolge des Geschehens,
in Leiden und Tod eingehen. Ob er sich ossenbart oder nicht offenbart,
schafft oder nicht schafft: das steht in seinem Willen. Wie er sich
ossenbart und wie er schafft : das steht nicht in seinem Willen, sondern
in seiner Natur, d. h. nicht in seinem sreien, sondern in seinem noth-
wendigen Willen, welcher ist der Urdrang zum Sein und dessen noth-
wendige Folgen.
Um Schelling selbst reden zulassen: „Iene Entschließung Gottes,
sein höchstes Selbst nach Zeiten zu offenbaren, kam aus der lautersten
Freiheit.' „Nur durch seinen Willen existirt der Ewige, nur durch
sreie Entschließung macht er sich zum Seienden des Seins. Aber dies
vorausgesetzt, war er in Ansehung der Folge seiner Offenbarung ge
bunden, ob es gleich bei ihm stand sich nicht zu offenbaren." Er
offenbart sich erst in seiner Natur oder Nothwendigkeit, dann in seiner
Freiheit, er kann an dieser Folge nichts ändern, und da seine Freiheit
in der Ueberwindung seiner Natur besteht, diese aber in dem Urdrang
zum Sein, zur Selbstheit und Egoität wurzelt, so sällt deren Ueber
windung mit der Hingebung und Liebe zusammen." .Der Entschluß,
sich zu offenbaren und sich selbst als das ewige Nein überwindlich zu
machen, war nur ein und derselbe Entschluß. Darum ist dieser wie
ein Werk der höchsten Freiheit, so auch ein Werk der höchsten Liebe."
„Der verneinende, einschließende Wille muß in der Offenbarung voraus
gehen, damit etwas sei, das die Huld des göttlichen Wesens, die sich
sonst nicht zu offenbaren vermöchte, stütze und emportrage. Stärke
muß sein eher denn Milde, die Strenge vor der Sanstmuth, der Zorn
zuerst, dann die Liebe, in welcher selbst erst das Zornige eigentlich
Gott wird. Wie in dem nächtlichen Gesicht, da der Herr vor dem
Propheten überging, erst ein mächtiger Sturm kam, der die Berge
zerriß und die Felsen zerbrach, nach diesem ein Erdbeben, endlich ein
Feuer, der Herr selbst aber in keinem von dem allem war, sondern
ein still sanstes Sausen solgte, darin Er war, so muß in der Offen
barung des Ewigen Macht, Gewalt und Strenge vorausgehen, bis im
sansten Wehen der Liebe erst er selbst als Er Selbst erscheinen kann.
Alle Entwicklung setzt Einwicklung voraus; in der Anziehung ist der
Ansang und die contrahirende Krast, die eigentliche Original- und
Wurzelkrast alles Lebens. Iedes Leben sängt von Zusammenziehung
Die Weltalter.
an; denn warum schreitet alles vom Kleinen ins Große, vom Engen
ins Weite sort, da es auch umgekehrt sein könnte, wenn es um das
bloße Fortschreiten zu thun wäre?"'
Einundvierzigstes Capitel.
Die Gottheiten von ZamolhraKe.
Ebendas. S. 369.
702 Die Gottheiten von Samothrake,
muth, Hunger, Sucht zu sein^ wir sind an den Urdrang zum Sein,
die erste Potenz in der Natur Gottes, erinnert, wir werden ausdrücklich
wieder aus die Platonische Penia hingewiesen, aus deren Vermählung
mit dem Poros der Eros entspringt, der nach seiner kosmogonischen
Bedeutung aus dem Weltei hervorgeht, eine Geburt der Nacht, der
das Licht suchenden und ihm entgegenharrenden Nacht. Als ein anderes
Bild jener ersten Natur, deren ganzes Wesen Begehren und Sucht ist.
giebt sich das verzehrende Feuer, das „selbst gewissermaßen nichts, nur
ein alles in sich ziehender Hunger nach Wesen ist." „In den Pho-
nikischen Kosmogonien war die Vorstellung der Sehnsucht als Ansangs,
als ersten Grundes zur Schöpsung einheimisch.'"
3. Die aussteigende Reihe der Kabiren.
Nun wird dargethan, daß die Kabirenlehre kein Emanationssystem
sei, sondern eine anssteigende Reihe göttlicher Potenzen darstelle:
„Das Tiesste Ceres, deren Wesen Hunger und Sucht, und die der erste
entsernteste Ansang alles wirklichen, vsscubaren Seins ist. Die nächste
Proserpina, Wesen oder Grundansang der ganzen sichtbaren (äußeren)
"Natur, dann Dionysos, Herr der Geisterwelt. Ueber Natur und Geister-
weit das die beiden sowohl unter sich als mit dem Ueberweltlichen
Vermittelnde: Kadmilos oder Hermes. Ucbcr diesen allen der gegen die
Welt sreie Gott, der Demiurg oder im höchsten Sinne Zeus. Also
ein von untergeordneten Persönlichkeiten oder Naturgottheiten zu einer
höchsten, sie alle beherrschenden Persönlichkeit, zu einem überweltlichen
Gott aussteigendes System war die Kabirische Lehre." Den Kadmilos
saßt Schelling, indem er den Namen aus dem hebräischen Kadmiel
herleitet, als das Mittel- und Bindeglied zwischen den unteren Göttern
und der oberen Gottheit, als den Herold und Verkündiger, der, gleich
dem Engel Ichovas, dem überweltlichen Herrscher vorhergeht.^
Die aussteigende Reihe der Kabiren bildet nach Schelling. der den
Namen nicht aus dem Hebräischen Kabbir, sondern Chabar herleiten
möchte, eine unauslösliche Kette oder Vereinigung göttlicher Kräste,
«ine Genossenschast, wie die Siebenzahl der Etruscischen Götter, die
nach Varro «cousenws» oder «c«lupliees» genannt wurden. Die drei
ersten Potenzen sind die urweltlichen oder kosmischen Gottheiten,
gottwirkende, theurgische Naturen, magische Kräste. Das Etruscische
' Die Gottheiten von Samothrake, S. 349-354. - ' Ebendas. S. 357- SS9,
360-361.
Dic Gottheiten voa Samothrale. 703
Zwergsormen
Dem Hoimmculus,
: der nach der Schönheit trachtet, mißsallen ihre
die Antwort:
Aus die Frage der Sirenen: „wo sind die drei geblieben?" laulct
Zweiundvierzig st es Capitel.
Das System der späteren Lehre.
' S. W. Abth. II. Bd. 1-4. Die Historisch.kritische Einleitung in die Philo,
sophie der Mythologie zählt 10 Vorlesungen (II. I. S. 1-252), die philosophische
Einleitung 14 (II. 1. S. 252-S90). die Philosophie der Mythologie in ihrem
ersten Buch (der Monotheismus) 6 (I. 2. S. 1-131), im zweiten (die Mythologie)
23 (II. 2. S. 133-674). - Die Einleitung in die Philosophie der Offenbarung
zählt 8 Vorlesungen (III. S. 1-174), die Philosophie der Offenbarung in ihrem
ersten Theil IS (II. 3. S. 175-530), im zweiten 14 (II. 4. S. 1-367.)
Das System d« späteren Lehre. 70?
seit Descartes vorauszuschicken; das war sehr gut, aber sür die ge
druckten Vorlesungen war es genug, wenn es einmal geschah, so be
stimmt und genau, wie es der Lehrzweck verlangte. Wie ost aber
kehren uns diese Erörterungen wieder und beschreiben in der Dar
stellung sowohl der negativen als auch der positiven Philosophie weite
Strecken!^ Und wie ost wird die Potenzlehre wiederholt und immer
von neuem darzulegen versucht, mit dem sichtlichen Bedürsniß des
Meisters, dieselbe nicht blos seinen Schülern, sondern auch sich klarer
zu machen. So heißt es z. B. in den Vorlesungen über den Mono
theismus: „Wir müssen uns noch einmal den durch die Spannung
und die gegenseitige Ausschließung der Potenzen gesetzten Proceß im
Allgemeinen vergegenwärtigen. Ich wiederhole gern. Denn mit diesen
Potenzen haben wir es im ganzen solgenden Verlaus zu thun. Es ist
nichtig, sie ost zu betrachten und mit ihnen vertraut zu werden, um
sie künftig in jeder Gestalt wiederzuerkennen." Eine Seite weiter heißt
es dann: „Der Proceß ist also dieser." Im ersten Theil der Philo
sophie der Offenbarung wird noch einmal die ganze Philosophie der
Mythologie vorgetragen, und zwar in nicht weniger als sechs Vor
lesungen. * Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, daß aus
diesen Vorlesungen in weiten Strecken schon die Spuren des Alters
lasten.
II. Die ArtTchellingsche
I. Die der Betrachtung.
Gnosis.
> S. W. II. Bd. 2. Vorlesg. VI. S. 110, 111. - ' S. N. II. Bd. 3. Vorlesg.
XVIII-XXIII. S. 382-530. (Nunmehr verhält sich die Philosophie der My»
lhologie zu ber Philosophie ber Offenbarung, was ihre Vorlesunaszahlen betrifft,
nicht wie 53 : 37, sondern wie 59 : 31. Iene umsaßt beinahe zwei Drittel der
«esammten späteren Lehre.)
708 Das System der spateren Lehre.
Willens zum Leben". Endlich harmoniren beide auch darin, daß der
Weg von jenem Urdrange zu diesem Endziel durch die Leiden der Welt
hindurchgeht. Das Fundament der Welt ist tragisch gerichtet. >
Im Uebrigen ist der Contrast beider Systeme der größte, denn
Schopenhauer mit seinem offenen buddhaistisch gesinnten Atheismus ist
der abgesagteste Widersacher alles Theismus und aller daraus gegrün
deten Theosophie. Er hat von der späteren Lehre Schellings, die erst
kurz vor seinem Ende veröffentlicht wurde, keine Kenntniß genommen,
und Schelling, wie die meisten seiner Zeitgenossen, hat Schopenhauers
Werke völlig unbeachtet gelassen, es sindet sich bei ihm keine Spur,
daß er sie auch nur vom Hörensagen gekannt hat. Als er starb, war
die Lehre Schopenhauers in den Gesichtskreis der Welt getreten und
sein Ruhm im Ausgange begriffen.
3. Die historisch'kritische Forschung.
Während Schelling seine Vorlesungen über die Philosophie der
Mythologie ausarbeitete und niederschrieb, wogte in Heidelberg noch
der Kamps zwischen Fr. Crcuzer und I. H. Voß, zwischen „Symbolik"
und „Antisymbolik". Während er seine Philosophie der Offenbarung
zu lehren und auszubilden sortsuhr, erhob sich aus dem Gebiete der
biblischen Theologie und der christlichen Religion mächtiger als je die
historisch-kritische Forschung, d. i. die Ergründung der religiösen Ideen
nach ihrer Entstehung, ihren Zeitaltern und Urkunden. Damals standen
die Philosophie und deren Probleme im Vordergrunde der Zeit, wichtige
und solgenreiche Vücher wirkten als große Begebenheiten.
Das Jahr 1835 war in dieser Rücksicht außerordentlich ereigniß-
reich. Ferdinand Christian Baur, der Gründer der Tübinger Theo
logenschule, der von Hegel und Schleiermacher herkam, eröffnet die
Reihe seiner historisch-kritischen Ersorschungen des Urchristenthums mit
den Untersuchungen „über die Christuspartei in Korinth", „über die
sogenannten Pastoralbriese des Apostels Paulus" und „über die christ
liche Gnosis oder die christliche Religionsphilosophie in ihrer Ent
wicklung"; er ist der Mann, religiöse Zeitideen zugleich mit verwandtem
und kritischem Geiste zu durchdringen. In demselben Iahre erscheint
W. Vatkes „Religion des alten Testamentes", ein Werk, dessen Grund-
> Vgl. Ebendas. S. 693 ff. lieber die Aehnlichleit der späteren Schelling»
schen Lehre mit Schopenhauer vgl. Ed. v. Hartmann: „Schellings positive Philo»
sofhie als Einheit von Hegel und Schopenhauer, (Berlin 1869). S. 21 ff.
710 Das System der späteren Lehre.
derselben Fassung und Form östers wiederholt habe und auch später
ebenso zu wiederholen gesonnen sei, ohne aus die inzwischen mit so
vielem Applaus hervorgetretenen Versuche einer mythologischen Aus
sassung und Darstellung des Lebens Iesu die mindeste polemische Rück
sicht zu nehmen. Daß Christus in Wirklichkeit existirt habe, leugne
niemand. Wäre diese historische Person nichts weiter gewesen, als der
jüdische Landrabbi Iesus, nichts weiter als ein Sittenlehrer, wie es
ähnliche auch vor ihm gegeben, so war seine mythische Verherrlichung
ein Ding der Unmöglichkeit. Die Hoheit dieser Person konnte nicht
die Folge, sondern mußte die Voraussetzung ihrer Verherrlichung sein.'
Nun sragt es sich: worin besteht diese von allen menschlichen
Vorstellungen und Ideen unabhängige Hoheit Christi? „Sie ist ganz
unabhängig von diesen, allerdings in manchem Betracht zusälligen
erkennen,
Erzählungen,"
sondern„nicht
umgekehrt
sie sind
die nothwendig,
Hoheit Christi
um -
die mit
Hoheit
allenChristi
den Bezu
sprechen
Dendiedrei
dreiAposteln,
kirchlichen
da sieZeitalter:
die drei kirchlichen
das erste Potenzen
ist das Petrinische,
sind, ent-
das zweite das Paulinische, das dritte das Iohanneische; das Zeitalter
des Petrus ist das der römischen, aus die Autorität gegründeten, in
die Vergangenheit gerichteten, die äußere Einheit der christlichen Welt
tragenden und zusammensassenden Kirche; das Zeitalter des Paulus
ist das des protestantischen Christenthums. das Zeitalter des Iohannes
ist das der Zukunst, in welcher die Kirche ihre letzte innere Einheit
erreichen und wirklich nur ein Hirt und eineHeerde sein wird. Das
Petrinische Zeitalter eigne den romanischen Völkern, das Paulinische den
germanischen, das Iohanneische werde das der ganzen Menschheit sein.
Zu einer solchen successiven Herrschast in seiner Kirche habe Christus
selbst seine beiden von ihm erwählten Apostel berusen, er habe den
Petrus zu seinem unmittelbaren Nachsolger ernannt, den Iohannes
dagegen aus seine Wiederkunst verwiesen; er habe zu jenem gesagt:
„Du, solge mir nach!", von diesem aber: „Ich will, daß er bleibe, bis
ich komme". Diese Reden des Auserstandenen sinden sich im letzten
Capitel des vierten Evangeliums, von dem Schelling selbst nicht be
streiten will, daß es ein späterer Anhang und Nachtrag sei. Wenn
nun derselbe nicht Iohanneischen und apostolischen Ursprungs ist, wo
bleibt die Beurkundung jener Worte Christi, aus deren „authentische
und autoritative" Geltung unser Philosoph doch alle Schlüsse und
Combinationen in Ansehung der kirchlichen Zeitalter gründet? Hier
also ist die Frage nach dem Urheber nicht secundär, sondern primär.>
Die Lehre von der Präexistenz Christi als einer göttlichen und
vorweltlichen Person steht im Mittelpunkte der Christologie Schellings,
wie diese im Mittelpunkte seiner Ossenbarungsphilosophie. Sein bib
lischer Beweisgrund lautet: Er hat es selbst erklärt, er hat gesagt:
„Che Abraham ward, war ich". „Ich und der Vater sind eins."
Dies sind Aussprüche nur des Iohanneischen Christus. Ob diese
Aussprüche der historische Christus wirklich gethan hat, ob dieselben
apostolisch beglaubigt sind, hängt also lediglich davon ab. ob das vierte
Evangelium johanneisch ist oder nicht? Offenbar also ist die Frage
nach dem Ursprunge und der Autorschast dieses Evangeliums in An
sehung der Christologie Schellings nicht secundär, sondern in eminenter
Weise primär.
Dreiundvierzigstes Capitel.
Die Philosophie der Mythologie.
> S. W. II. Bd. I. Vorlesg. IX. S. 224. Vgl. Bd. 3. Vorlesg. I. S. 14. -
' 2.W. II. Bd. 1. Vorlesg. XI. S. 223. - ' Ebendas. S. 216. - < Ebendas.
Z.2II-2I3.
718 Die Philosophie ber Mythologie.
bejahen: diese letztere sei durch Fr. (lreuzers umsaffendes Werk „Die
Mythologie und Symbolik der alten Völker" zu einer nicht mehr zu
widersprechenden historischen Evidenz erhoben.>
3. Monotheismus und Polytheismus.
Die Religion als wirklicher Gottesglaube ist ihrem Wesen und
ihrer Wurzel nach monotheistisch, die Mythologie dagegen polytheistisch:
deshalb will Schelling ähnlich wie Creuzer den Ursprung der Mytho
logie so gesaßt sehen, daß sie aus dem Monotheismus durch Zersetzung
oder Disserenzirung der Einheit des göttlichen Urwesens hervorgegangen
sei, gleichzeitig mit der Entstehung der Völker und Volkssprachen, in
welche sich die Menschheit getrennt habe. Mit der Sprachverschiedenheit
sei die Sprachverwirrung eingetreten, die nach der biblischen Erzählung
in Babylon stattgesunden und die Scheidung der Religionen. Sprachen
und Völker zur Folge gehabt habe. Auch die Bezeichnung der wechsel-
seitigenUnverständlichkeit derSprachen und des unverständlichen Sprechens
überhaupt hänge mit dem Namen Babel (Balbel) zusammen, woraus
sich die tonnachahmenden Ausdrücke, wie balbeln (babbeln, plappern)
und das griechische ß«pfi^c»? erklären. Die Mythologie habe die
Sprachverschiedenheit verursacht, die Ossenbarung dagegen die Sprach
einheit (ä^o-sX«^«) hergestellt, diese beiden Wendepunkte in der Ge
schichte der Religion: der Schauplatz der ersten war Babylon und
der Thurmbau, der Schauplatz der zweiten Ierusalem und das Psingst-
wunder. '
4. Der simultane und successive Polytheismus.
Den Polytheismus selbst unterscheidet Schelling in zwei Arten,
nämlich die Göttervielheit und die Vielgötterei: jene heißt ihm
der simultane, diese der successive Polytheismus. Da nun
viele Götter nicht zusammen und zugleich sein können, ohne daß .sie
einem untergeordnet sind, so hat die Göttervielheit oder der simultane
Polytheismus den Charakter „des relativen Monotheismus", dagegen
der successive, d. h. die Auseinandersolge verschiedener Götter und Götter-
systeme, den des entschiedenen Polytheismus, welcher letztere recht
eigentlich den Inhalt der Mythologie ausmacht. Die der Zeitsolge,
also dem Entstehen und Vergehen unterworsenen Götter und Götter-
> Ebendas. Vorlesg. I V. S. 89. lDie erste Auslage des Creuzerschen Werls
erschien 1810-1812. die zweite, welche Schelling benutzt hat, 1820-1824.) -
- Ebendas. Vorlesg. V. S. 106-109.
Die Philosophie der Mythologie.
Identität von Denken und Sein nur in Beziehung aus das Was
sem, keineswegs aber in Beziehung aus die Existenz oder das Wirklich-
sein. In der Form der Gleichung: Gedacht werden müssen - so
sein müffen - so und nicht anders sein können ; dagegen existiren oder
in Wirklichkeit sein - geschassen sein ---- krast des göttlichen Willens
sein, durch den unbedingten Rathschluß Gottes/
Demgemäß theilt sich die gesammte Philosophie in die negative
und positive: diese ist die Philosophie der Offenbarung, jene dagegen,
die es mit den Denk- oder Vernunstnothwendigkeiten (dem nicht nicht
zu Denkenden) zu thun hat, die Vernunstwissenschast oder die rationale
Philosophie. Im Grunde war, wie Schelling die Sache ansieht, alle
Philosophie vor ihm und zwar vor seiner späteren Lehre rationale
oder negative Philosophie, weshalb die Geschichte der Philosophie, ins
besondere der neuern, in seiner „Darstellung der rein rationalen Philo
sophie" eine sehr wichtige und ausgedehnte Rolle spielt. Einige Philo
sophen des Alterthums, wie Sokrates und Plato, haben eine Ahnung
von der positiven Philosophie gehabt. Aristoteles hat den Unterschied
zwischen dem « 25nv und dem 3n (zwischen dem yuiä Lit und dem
Hun6 sit) dargelegt und die Lehre von der Vernunst (vm?) als dem
Wesen der Menschheit und Persönlichkeit entwickelt.
In der neueren Zeit haben Descartes, Malebranche und Spinoza
die ganze Philosophie ohne Rest in die rationale ausgehen laffen,
während in der Gegenrichtung Bacon, Locke und Hume den Ursprung
unserer Begriffe untersucht und demgemäß ihren Umsang und Erkennt-
nißwerth eingeschränkt haben. In Leibniz und Kant zeigen sich in
Ansehung der Gottesidee schon die höheren Einsichten, welche aus eine
künftige positive Philosophie im Sinne Schellings hinweisen. Daher
legt diese ein so großes Gewicht aus die Leibnizische Theodicee und
ein noch größeres aus denjenigen Theil der Kantischen Vernunstkritik,
welcher von dem Ideal der reinen Vernunst handelt/
Punkt sindet sich meines Erachtens in Kants Lehre von dem Ideal
der Vernunst".'
Von diesem Punkte aus, wie Schelling nunmehr die Sache sieht,
soll sich der Weg össnen, der von Kants Vernunstkritik direct zu seiner
positiven Philosophie sührt, und da er die Hegelsche Lehre sür ein
bloßes Intermezzo halten möchte, ein mißlungenes Zerrbild der ratio
nalen Philosophie, eine versehlte Episode, die gar nicht in die Con-
tinuität der nachkantischen Philosophie gehöre, die ebenso gut habe
sehlen können und besser gesehlt hätte, so liegen zwischen jenen beiden
Grenzpunkten nur Fichtes subjectiver Idealismus mit seiner „unergründ
lichen That der Ichheit" und dessen Ueberwindung durch Schellings
srühere Lehre. Aus diese Weise ebnet sich die Bahn, aus welcher
Schelling aus der nachkantischen Philosophie als der alleinige Sieger
hervorgehen und die beiden Hauptprobleme gelöst haben will, die in
Kants Weltidee und in seiner Eottesidee enthalten warens
Kant hatte gelehrt, daß die Welt, die wir vorstellen, diese unsere
Sinnenwelt, durchaus phänomenal oder ideal, d. h. eine erscheinende
Welt sei, die aus unseren Eindrücken und der Einrichtung unserer
Vernunst hervorgehe: daher dieselbe uns nicht als etwas Festes und
Unüberwindliches entgegensteht, sondern die Möglichkeit gegeben ist,
von ihr erlöst zu werden. In diesem Punkt von sundamentaler Be
deutung ist die Kantische Lehre, wie keine vor ihr, mit der Grundidee
der christlichen Religion einverstanden. „Seit den Zeiten des Alter-
thums hat der philosophische Geist keine Eroberung gemacht, die sich
der des Idealismus vergleichen ließe, wie dieser von Kant zuerst ein»
geleitet wurde." Dem Plato sei die sichtbare Welt von unvergäng
licher Dauer, nie alternd, ein glückseliger Gott. Dies sei antike Denk
art. Der Idealismus gehöre ganz der neuen Welt an und brauche
es keinen Hehl zu haben, daß ihm das Christenthum die zuvor ver
schlossene Psorte ausgethan. „Das Christenthum hat uns von dieser
Welt besreit, daß wir sie nicht mehr ansehen als etwas uns unbedingt
Entgegenstehendes und wovon keine Erlösung wäre, daß sie uns nicht
' Ebendas. Vorlesg. XII. S. 283 Text und Anmerkung, lieber Herbart
vgl. Einleitung in die Philosophie der Offenbarung, S. W. II. Bd. 3. Vorlesg. II,
S. 32: „Ich nenne als Beispiel nur, was man die Herbartische Philosophie
nennt". - ' Vgl. oben Buch I. Cap. XVII. S. 223-229. S. W. II, Bd. 1. Vor»
lesg. XX. S. 464-466. Ebendas. Bd. 3. Vorlesg. III. S. 51-S4. Vorlesg. IV,
S. S3-57.
720 Die Philosophie der Mythologie.
mehr ein Sein, sondern nur noch ein Zustand ist." „Die Welt geht
vorbei (wie ein Schauspiel oder wie ein vorüberziehendes Heer) sammt
ihrer Begierde, d. h. der Begierde, der Sucht, in der sie allein ihr
Sein hat; ihr ganzes Wesen ist Begierde, nichts anderes."
2. Die Potenzenlehre.
Da sind wir bei dem eigentlichen Thema seiner rationalen Philo
sophie angelangt, der Lehre von den Potenzen, deren erste eben jener
Urdrang zum Sein, der Hunger und die Sucht nach Existenz oder
Realität ist, wie schon in den Weltaltern und den Gottheiten von
Samothrake gezeigt worden. ^
Ietzt erhellt aus dem Gange der rationalen Philosophie, die in
der Kantischen Vernunftkritik und ihrer Gottesidee, dem Vernunstideal,
gipselt, daß Gott als WS «mnimo6e 6etermiuatum ein Einzelwesen
oder Individuum ausmacht, welches den Stoff, die Materie oder die
Möglichkeiten alles Seins (die wesentlichen Arten und Stusen des
Seins) in sich enthält. Diese Möglichkeiten (Suvä^si?) sind die Potenzen.
Die erste Potenz, als welche noch kein Sein ist, sondern erst der
Drang und die Möglichkeit zum Sein, ist negativ, die zweite als
die Ueberwindung der ersten ist positiv, die dritte soll die Ver
einigung beider sein: daher bezeichnet Schelling diese drei Urbegrisse
oder Urpotenzen durch die Formeln: -^, -r'^., und ihre Fort-
schreitung durch die Zahlen 1, 2, 3.
Er nennt die erste Potenz, da sie nur die Möglichkeit zum Sein
enthält, „das Sein können", die zweite, da sie in das Sein einge
treten ist, welches nun nicht mehr rückgängig gemacht werden kann,
„das Sein müssen", die dritte, da sie die Vereinigung der beiden
ersten zum Zweck hat, „das Sein sollen".
Er charakterisirt die erste, da sie in dem Hunger nach Sein, in
diesem inneren Drange besteht, als „das In sich sein", die zweite,
da sie das Insichsein überwindet und aushebt, als „das Außer sich
sein", das schranken- und sassungslose Sein, endlich die dritte, weil
sie beides vereinigt, als „das Bei sich sein, das sich selbst
Besitzende, seiner selbst Mächtige." Ueber die Setzung und Vereinigung
der beiden Principien des Unbegrenzten und der Grenze (ns.5«?) höre
man Plato im Phileoos, „hier ist der Kern Platonischer Weisheit.
' Ebendas. Bd. 1. Vorlesg. XX. S. 466-468. - ' S. oben Buch ll. Eap.
XI.. S. 694 ff. Cap. Xll. S. 702 ff. - « Ebendas. Cap. Xl.. S. 698 u. 699.
Die Philosophie der Mythologie. 7S7
' S.W. II. Bd. l. Vorles. XII. S. 286-294. Vories. XIII, S. 302 -304,
317-319. Vories. XIV. S. 335 ff. Vorlesg, XVI. S. 380. Vorlesg. XVII.
S. 383, 393-402. Vgl. Bd. 2 (Monotheismus): Vorlesg. II u. III. S. 24-65.
Vgl. Bd. 3 (Philosophie der Offenbarung, Theil I) : Vorlesg. X-XII. S. 199 bis
239. - ' Ebendas. Bd. 1. Vorlesg. XVII. S. 388. Vgl. oben Buch II. Cap. V.
S. 301-310. Vgl. Meine Geschichte d. neuern Philos. Bd. VIII (Schopenhauer).
Buch II. Cap. X VIII. S. 4S0 ff.
Tie Philosophie der Mythologie.
Nun geht der Form des einzelnen materiellen Dinges die gedachte
Form, die Ursorm, die Idee oder der Logos voraus, wie die Idee
des Hauses dem wirklichen Hause, wie die Idee der Bildsäule der
wirklichen im Stoff ausgesührten Bildsäule vorhergeht. Das wirkliche
Haus geht aus der Idee des Hauses hervor, wie die wirkliche Bild
säule aus ihrer Idee. Die Form der Bildsäule ist, was sie schon
vorher war, ebenso die Form des Hauses, ebenso die Einheit der drei
Potenzen : sie ist vor deren Trennung oder Auseinandergehen, wie die
Idee der Entwicklung der Welt vor dem Stusengang der Dinge. Die
Idee ist das Prius. Darum hat Aristoteles den Grund oder das
Wesen der Dinge, da es srüher ist, als das, was ist (rö « das
Sein, welches war (?ö ri -Iv«l), genannt.
Schon in den Weltaltern hatte Schelling die vierte Potenz als
das weltordnende und -gestaltende Princip mit dem Worte Seele (Welt-
scele) bezeichnet; nun wiederholt er hier, in der Darstellung der ratio
nalen (negativen) Philosophie, diesen Ausdruck und setzt die Bedeutung
desselben
wir ganz gleich
im Aristotelischen
dem Aristotelischen
Sinne,rd „daß
?,' der Feldherr
oder die Seele
So sagen
des
läust die Grenzlinie zwischen dem Gebiet der reinen Möglichkeiten, der
allgemeinen Arten des Seins (summa ZSOera) und dem der Wirk
lichkeit, zwischen dem ri L?nv und dem Ln, zwischen dem „Was" und
dem „Daß". Das Letztere kann nur durch den Act der Selbstsetzung,
der actuellen Losreißung und Besreiung von aller Materie, durch die
thätige selbstbewußte Vernunst zu Stande kommen, die im
Unterschiede von der „Seele" mit dem Worte „Geist" allein richtig
bezeichnet wird: das ist, was Aristoteles den thätigen vc,S?, Fichte
das Ich genannt hat; er hatte von dem Ich gesagt, daß es seine
eigene That sei, die er mit dem Worte „Thathandlung" bezeichnet,
und damit einen größeren Griff gethan, als er selbst gewußt habe.
Aus diesem Punkte allein beruhe seine unvergeßliche Bedeutung in der
Geschichte der Philosophie. ^
Schelling identisicirt hier den Aristotelischen vcw? und das Fichtesche
Ich. Iene sei keineswegs, wie man gemeint habe, das Allgemeine und
Unpersönlichste, sondern vielmehr das Persönlichste, das eigentliche
Selbst des Menschen, „eines jeden Ich", um mit Fichte zu reden,
das Princip der Selbstheit, weshalb die Frage nach der Unsterblichkeit
der Seele, wie man die persönliche Fortdauer des menschlichen Geistes
zu nennen pflegt, von Aristoteles nicht etwa verneint worden sei oder
solgerichtigerweise hätte verneint werden müssen; im Gegentheil seine
Lehre von der thätigen, selbstbewußten Vernunst spreche sür die Be
jahung der persönlichen Fortdauer, aber nach dem ganzen weltlich gerich»
teten Grundcharakter seiner Philosophie habe Aristoteles diese Frage
nicht näher untersucht. ^
Daß der Geist (voS?) als das Persönlichste in uns göttlich und
der Gottheit gleich sei. habe Aristoteles erkannt, aber nicht gesehen,
daß der menschliche Geist als seine eigenste That sich zugleich wider
Gott erhebe und sich ihm entgegenstelle. Es ist gleichsam der Sünden
sall des Geistes. Aus der Erkenntniß dieses Gegensatzes, der kein be
liebiger Einsall sei, sondern zu den Grundgedanken der Menschheit gehöre,
beruhe die Erscheinung des Prometheus in der hellenischen Mythologie
und dieDarstellung seines tragischen Schicksals in dem gesesselten Prometheus
des Aeschylus. Prometheus wider Zeus, der Titan roider den Gott,
der Wille jedes von beiden sür den anderen unüberwindlich: jener
dem Gotte Trotz bietend, die Menschheit vom blinden Wollen erlösend,
' Ebendas. Vorlesg. XVIII. S. 420-422. - « Ebendas. Vorlesg. XX.
S. 430 ff.
730 Die Philosopyie der Mythologie.
indem er den Willen zur Vernunst (voS?) erhöht, durch die Vernunft
erleuchtet und ihr dadurch die Bahn zu den Künsten und Wissenschaften
zeigt und eröffnet. Dieser sreie, weil vernunstgemäße Wille sei das
himmlische dem Gott entwendete Feuer, welches Prometheus den
Menschen gebracht und dem Gotte geraubt habe. Darin bestehe zugleich
sein Recht und seine Schuld, d. i. sem tragisches Schicksal, wie es
der mächtige Geist des Aeschylus erkannt und dargestellt habe. Er
habe sich losgerissen von Zeus, dessen uransängliches blindes nur durch
seinen eigenen, nicht durch einen menschlichen Willen überwindliches
Sein in der Stärke und Gewalt bestehe: darum seien es diese beiden,
die Stärke und die Gewalt ^«ro? und ßi«), die den Prometheus
sesseln und anschmieden. „Auch Zeus ist in seinem Recht, denn nur
um solchen Preis erkaust sich die Freiheit und Unabhängigkeit von
Gott. Es ist nicht anders: es ist ein Widerspruch, den wir nicht aus
zuheben, den wir im Gegentheil zu erkennen haben." Das Loos der
Menschheit ist von Natur ein tragisches, und alles, was im Lause
der Welt Tragisches sich ereignet, ist nur Variation des einen großen
Themas, das sich sortwährend erneuert. ^
Schelling selbst bezeichnet die Stelle, wo wir stehen, als den
Wendepunkt im Gange seiner Darstellung der rationalen oder nega
tiven Philosophie : von jetzt an sei das Ich das Princip aller serneren
Entwicklung; als seine eigene That, als jener „unergründliche Act der
Ichheit". den erleuchtet zu haben Fichtes unsterbliches und einziges
Verdienst sei, habe sich das Ich von der Ideenwelt ausgeschieden und
lichkeit
Gott entgegengestellt.
des Ichs ist nunmehr
Diese Außerweltlichkeit
das näher auszusührende
und Gegengött-
Thema, die
nothwendige Ueberwindung der letzteren ist das Ziel, womit die Ver-
nunstwissenschast endet. Ursprünglich ist auch der Geist nicht etwas
Theoretisches, sondern er ist Wollen, sich selbst Wollen und da
durch der Ansang einer anderen außer der Idee gesetzten Welt; der
Ursprung dieses Sichwollens liegt lediglich in ihm selbst, er ist die
Ursache seiner selbst: eine Ursächlichkeit, die alle Nothwendigkeit aushebt
und den Charakter des „Urzusälligen" hat.^
Spinoza und Fichte haben beide die oausa sui zu ihrem Princip:
jener aber saßt dieselbe so. daß sie Selbstbewußtsein, Wille, alles sich
Wollen und Wissen ausschließt, dieser dagegen so, daß sie wesentlich
darin besteht und in nichts anderem ; daher die ganze Bedeutung Fichtes
sich inDer
diesen
Grundcharakter
ihm wohlbewußten
des Geistes
Gegensatz
ist gegen
das Sichwollen
Spinoza concentrirt.
oder die
Die erste und älteste Form der Herrschaft ist „die natürliche
Monarchie", welche Schelling auch die bewußtlose (weil ihrer eigent
lichen Ausgabe unbewußte) nennt. Die Entwicklung des Staates und
seiner Formen schreitet von der bewußtlosen Monarchie durch die repu
blikanischen Ideen sort zur selbstbewußten Monarchie, deren Grundlage
der Zwang und deren Product die Freiheit ist. Diesen Entwicklungs
gang und seine Stusen zu erkennen, ist der Gegenstand der philo
sophischen Einsicht, in welcher letzteren das Thema besteht, welches die
Philosophie der Geschichte aussührt.>
Die beiden äußersten Ertreme in der politischen Entwicklung des
Alterthums sind die asiatischen Monarchien, die ältesten Staats-
sormen, mit dem Charakter der unbedingten Einzelherrschast oder des
Despotismus, der nur den Zwang kennt, keine Entwicklung sreiwilliger
Tugenden, und die Athenische Demokratie nach den Perserkriegen,
die unbedingte Volksherrschast, in welcher die Gesellschast den Staat
völlig überwältigt und ihren Fluctuationen preisgiebt.^
Die ganze Machtvollkommenheit und Majestät der Staatsidee
ersüllt sich erst in Rom und dem römischen Weltreich: hier erscheint
alles dem Stantszweck untergeordnet, in republikanischen Formen herrscht
ein im höchsten Sinne monarchischer Geist, weshalb aus der Entwick
lung des römischen Staats die absolute Ein- und Weltherrschast resultirt.
aber auch durch die erlangte Größe und den erreichten Zweck zu Grunde
geht. Die Einherrschast der Welt gebührt nicht einem einzelnen
Menschen, sondern einem Gott, einem Princip, welches nicht von
dieser, nicht von der römischen Welt ist: deshalb mußte Constantin
die Unabhängigkeit der Religion vom Staate erklären.'
Aus der christlichen Religion entwickelt sich wiederum eine Herr
schaft, welche von dieser Welt ist, eine kirchliche Weltherrschast, „eine
salsche Theokratie", gegen welche die Resormation protestirt hat.
diese eigentliche That des deutschen Volkes. Nunmehr handelt es
sich im Staat um die Freiheit vom Staat, welche letztere aus keine
Weise durch Zerstörung oder Staatsumwälzung erreicht wird, diese ist
und bleibt eine Unthat, gleich zu achten dem Parricidium. Der Um
sturz des Staates sührt zur völligen Selbstherrlichkeit des Volks, der
unterschiedslosen Maffen, zur demokratischen Republik; dahin steuert „die
im Dienste des Ich stehende Vernunst", wobei Schelling einen seiner
> Ebendns. 2.541. - ' Ebendas. S. 541-543. - ' Ebendas. Vorlesg. XXIII.
E. 543-546.
734 Die Philosophie der Mythologie.
bösen Blicke aus „die erbaulichen Redner der neuesten Zeit" sallen läßt,
denen diese öde Vernunst sür die Vernunst selbst gelte.'
Innerhalb des Staatsganzen, entsprechend dem Stusengange der
gemeinsamen Interessen und Lebenszwecke, gliedern sich eine Reihe
einzelner autonomer Kreise, innerhalb welcher sich das Individuum vom
Staate srei machen und innerlich darüber hinausgehen kann und soll.
Wer den Staat innerlich überwindet, dem werden die Einschränkungen
und der Druck desselben, wie „der Nebermuth der Aemter", worüber
Hamlet klagt, nicht mehr sonderlich zur Last sallen. Schelling redet
aus seiner eigensten inneren Lebensersahrung und gleichsam pro <l«m«,
wenn er den Deutschen zurust: „Laßt politischen Geist euch absprechen,
weil ihr, wie Aristoteles, sür die erste vom Staat zu ersüllende For
derung die ansehet, daß den Besten Muße gegönnt sei, und nicht blos
die Herrschenden, sondern auch die ohne Antheil am Staat Lebenden
nicht in unwürdiger Lage sich bessinden. Endlich möge der Lehrer
Alexanders des Großen euch sagen: daß auch die, so nicht über Land
und Meer gebieten, Schönes und Treffliches vollbringen." ^
Der Staat ist nicht Endzweck. Darum ist auch die Herstellung
des vollkommensten Staates keineswegs das Ziel der Geschichte: ein
vollkommenster Staat ist in dieser Welt ebenso unmöglich, wie ein
vollkommenster Mensch; solche Vorstellungen sind apokalyptisch oder
Gegenstände der Schwärmerei. Vielmehr ist es die Ausgabe des
Staates, dem Individuum die größtmögliche Freiheit (Autarkie) zu
verschaffen, eine Freiheit, die über den Staat hinausgeht und ihr Ziel
nur jenseits desselben erreicht, darum auch nie rückwärts aus ihn oder
in ihm wirkt. ^
5. Das Ich aus dem Wege zu Gott.
Die Selbstbejahung des Ich war im Fortgange der negativen
Philosophie der erste Wendepunkt, die Selbstverneinung des Ich ist der
zweite. Von Gott getrennt, unter dem Gesetz gesangen als einer von
Gott unterschiedenen Macht, empsindet das Ich das Gesetz als Fluch,
den Zustand, in welchem es lebt, als einen außergöttlichen und unheil
vollen, es sühlt das ganze Elend und den Unwerth seines Daseins,
das besser nicht wäre. Das Beste ist, nicht geboren sein, wie es der
' Ebendas. S. 546-547. (Unter der neuesten Zeit sind die Iahre 1848 bii
1850 zu verstehen und die damaligen parlamentarischen Reden über die preußischen
und deutschen Versassungssragen.) - ' Ebendas. Vorlesg. XXIII. S. 547-SSV.
(är. ?ol. II. 10. I5tK. N. X. 8.) - ° Ebendas. Vorlesg. XXIII. S. 550-S5S.
Nie Philosophie der Mythologie. 735
Jetzt erhebt sich das Ich aus dem praktischen Leben in das theo
retische und contemplative . es tritt ans Gottes Seile hinüber und
sucht göttliches Leben in dieser ungöttlichen Welt, es wendet sich zu
Gott zurück und sucht durch das Ausgeben der Selbstheit die Vereini
gung mit ihm in der Idee. In dieser Wiederkehr zu Gott unter
scheidet Schelling drei Stusen oder Stationen: die Frömmigkeit, die
Kunst und die contemplative Wissenschast. Die mystische Frömmig»
keit besteht in dem Acte der Selbstvergessenheit, der völligen Selbst
enteignung, in welchem alles Selbstwollen und Sichwollen erlischt, sogar
das Interesse sür das eigene Heil. Fenelon in seiner e6öruonLtrntion
ctß l'exiLwllcs 6e vieu» hat diesen Zustand tressend bezeichnet als
„llous (lesüpproprier notr« volonte», als eine eentiiirs in6iMience
möme pour 1e Lutut». Die Kunst, von der hier die Rede ist, schasst
nicht das Gesällige, sondern „das Entzückende" und bringt, selbst
von dem Göttlichen und der Sehnsucht darnach ersüllt, die Bilder
göttlicher Persönlichkeiten hervor. Die contemplative Wissenschast aber,
den Weg suchend und bahnend, der von der Welt zu Gott sührt, ist
eben die rationale Philosophie, welche uns Schelling darstellt und hier
als Moment in der Entwicklung selbst erscheinen läßt.'
Welcher Art auch diese Versuche und wie lebhast der Drang zur
Vereinigung mit Gott sein möge, so ist doch, was hier ergriffen wird,
immer nur das Bild und die Idee Gottes, nicht Gott selbst in seiner
Wirklichkeit uud Wahrheit. Deshalb nennt Schelling Kunst und Wissenschast,
mit deren Hülse sich das Ich in seiner Welt zu beseligen sucht. „Stusen
von nur negativer Seligkeit", wie sich die Griechen durch die Poesie
und die bildenden Künste, durch Homer und Phidias von dem gesetz
lichen Staat und der gesetzlichen Religion zu besreien gesucht haben.'
Aus diesem Wege erreicht das Ich nur ein ideelles Verhältniß zu
Gott, kein wirkliches; es gelangt nur bis zu dem Gotte des Aristoteles,
der Finalursache der Welt, dem Weltziel, dem alles bewegenden, selbst
unbewegten, sich denkenden und nur sich immer wieder denkenden
Actus des Denkens (v6Tz5l? ^5z«z?): „ein zwar sich selbst habendes,
aber auch nicht von sich wegkönnendes Wesen, das nur ideeller Geist
ist, nicht absoluter". Nachdrücklich betont Schelling das Negative
> Ebendas. Vorlesg. XXIV. S. 553-556. (Old. Cul. v. 1225.) - ' Ebendas.
«. 557-556. - ' Ebendas. Vorlesg. XXIV. S. 557 u. 558 Anmerl.
7^; Die Philosophie der Mythologie.
Ziel war, nämlich wird jetzt das Princip und der Ansang; was
dort das Vorausgehende war, wird jetzt das Nachsolgende, aus dem
sntec:e<Zcns wird nunmehr das conse^nens , aus dem prius das
p«8t«rius. Und die zu lösende Frage heißt: „Wie ist es möglich, daß
— ^ die Folge von ^a sein kann?"
Der Uebergang von der negativen zur positiven Philosophie
sordert demnach, wie man sieht, eine Umkehrung des bisherigen
Verhältnisses zwischen dem, was das Seiende ist lA°), und dem Seien
den (-^.-^^^). „Die Vernunstwissenschast sührt also wirklich
über sich hinaus und treibt zur Umkehr." Aber dieser Antrieb kann
nicht mehr vom Denken und der contemplativen Wissenschast ausgehen,
denn diese bewegen sich immer wieder in Ideen; vielmehr ist der An
trieb zur Umkehrung nicht mehr theoretisch, sondern praktisch, nicht
speculativ, sondern religiös, er ist das Verlangen nach dem wirklichen
Gott und der Erlösung durch ihn, dieses laut werdende Bedürsniß
nach Religion, nach Seligkeit, deren das Ich nur durch Gott theil-
hastig werden kann, nicht etwa einer von ihm verdienten oder seinen
Werken proportionirten Seligkeit, wodurch nur der Grund zur Un
zusriedenheit und Unseligkeit genährt würde, sondern der unverdienten,
ihm blos durch die Fülle der göttlichen Gnade gewordenen. „Das
Individuum sür sich kann nichts anderes verlangen als Glückseligkeit."
So ist es auch das Ich, welches als selbst Persönlichkeit Persönlichkeit
verlangt, eine Person sordert, außer der Welt und über dem Allge
meinen, die es vernehme, ein Herz, das ihm gleich sei." „Dieses
Suchen nach Person ist dasselbe, was den Staat zum Königthum
sührt; die Monarchie macht möglich, was vermöge des Gesetzes un
möglich." „Die Vernunst und das Gesetz liebt nicht, nur die Person
kann lieben, diese Persönlichkeit aber kann im Staat nur der König
' Ebendas. Vories. XXIV. S. 563-566. Vgl. S. 570. Vgl. Die .Abhand»
lung über die Quille der ewigen Wahrheiten", gelesen in der Gesammtsitzung
der Akademie der Wissenschasten zu Berlin, den 17. Ianuar 1850. S. W. Bd. 1.
S. 573-590. .Gott enthält in sich nichts als das reine Das; des eigenen Seins,
aber dieses, daß er Ist, wäre keine Wahrheit, wenn er nicht Etwas wäre, -
wenn er nicht ein Verhältniß zum Denken hätte, ein Verhältniß nicht zu einem
Begriss, aber zum Begriss aller Begrisse, zur Idee. Hier ist die wahre
Stille sür jene Einheit des Seins und des Denkens, die, einmal ausgesprochen,
aus sehr verschiedene Weise angewendet worden.' .In dieser Einheit ist die
Priorität nicht aus Seiten des Denkens ; das Sein ist das erste, das Denken erst
das Zweite oder Folgende.'
«. Fischer, «esch. d. Philos. VN «
738 Die Philosophie der Mythologie.
sein, vor dem alle gleich sind." In diesen Worten hört man den
Verehrer König Friedrich Wilhelms IV., den Lehrer und Freund
König Maximilians II.'
Die negative Philosophie kann uns wohl sagen, worin die Seligkeit
liegt, aber sie hilst uns nicht dazu, die Vernunst kann die Religion
nimmermehr machen, daher giebt es innerhalb der Vernunftwissenschaft
keine Religion, also überhaupt keine Vernunstreligion, wohl aber
steht eine philosophische Religion zu erwarten, welche die Aus
gabe hat und löst, die wirkliche Religion, die mythologische und die
geossenbarte, zu erkennen. Diese „philosophische Religion", welche selbst
nicht eigentlich Religion ist, sondern Religionserkenntniß oder Religions
philosophie, sällt zusammen mit der „positiven Philosophie" ; diese
aber, da sie uns lehrt, wie die Gottheit in das Bewußtsein der
Menschheit eingeht und durch die ganze Zeit des Menschengeschlechtes,
Vergangenheit und Zukunst, hindurchgeht, ist im vorzüglichen Sinne
des Worts auch „geschichtliche Philosophie".*
Wir haben den Zusammenhang kennen gelernt, in welchem
Schelling von der Umkehrung der Wissenschast redet: er verstand
darunter den Fortgang von der negativen zur positiven Philosophie,
von der Wissenschast zur Religion; er meinte die umgekehrte Richtung
des religiösen Erkennens in der Vergleichung mit der des philosophischen
oder rationalen ; keineswegs aber war seine Meinung, daß der Wissen
schast Stillstand oder Rückkehr geboten werden solle. Als Iulius Stadl
unter dem Einflusse der sogenannten Neuschellingschen Lehre jenes Wort
von der Umkehrung der Wissenschast in mißverstandener Weise wie ein
Signal ausries, welches die Zeit beherzigen und besolgen möge, so war
ihm Schelling bereits abgewendet. ^
Die negative Philosophie ist die erste Philosophie und als solche
die nothwendige und unzerstörbare Voraussetzung der zweiten. Der
Uebergang zu dieser, wie Schelling sagt, indem er jene beschließt, ist
„gleich dem Uebergange vom alten zum neuen Bunde, vom Gesetz zum
Evangelium, von der Natur zum Geist"/
' Ebendas. Vorlesg. XXIV. S. 567- S69. Anmerk. Vgl. den Brieswechsel
mit König Maximilian II. S. oben S. 272-276. - ' S. W. II. Bd. I. Vor-
lesg. XXIV. S. 571. - « Vgl. oben Buch I. Cap. XVII. S. 240 Anmerk. -
« S. W. II. Bd. I. S. 57l.
Das System der Mythologie. 789
Vierundvierzigstes Capitel.
Das System der Mythologie.
I. Der Monotheismus.
1. Verhältniß zum Theismus und Pantheismus.
Der Gegensatz zwischen Monotheismus und Polytheismus oder Mytho
logie ist unserem herkömmlichen Bewußtsein so geläusig und einleuchtend,
daß man bei dem ersten Anblick der späteren Lehre Schellings sich sehr
besremdet sühlt, in seinem philosophischen Systeme der Mythologie dem
„Monotheismus" als dem Thema des ersten Buchs zu begegnen,
als der Wurzel, woraus die Mythologie hervorgeht. Diese, wie srüher
schon erörtert worden, ist der theogonische Proceß im menschlichen Be
wußtseins Und der richtige Begriss des Monotheismus enthält das
Gesetz und gleichsam den Schlüssel des theogonischen Processes. Darum
ist die kritische Feststellung dieses Begriffs der Ansang und das erste
Thema des philosophischen Systems der Mythologie.'
Es liegt nun der Kern der Untersuchung darin, daß die drei
religiösen Denkarten, welche es mit dem Gottesbegriff zu thun haben,
nämlich die des Theismus, Pantheismus und Monotheismus, genau
erkannt und unterschieden werden, damit sie nicht salsche Verhältnisse
eingehen, indem man den Theismus dem Pantheismus und diesen dem
Monotheismus entgegensetzt. Dem Theismus gilt Gott in seiner All
gemeinheit ohne alle näheren Bestimmungen: Gott, nicht der Gott
<K-6?, nicht ä Hl6?); wogegen die Begriffe des Pantheismus und
Monotheismus reicher und bestimmter sind: jener besteht in der Zu
sammensetzung des Theismus mit dem Worte n«v, dieser in der Zu
sammensetzung des Theismus mit dem Worte u,6vo?. Darum sagen
diese beiden Begriffe mehr, als der bloße Theismus. Und in einem
gewiffen Sinne bedeuten Pantheismus und Monotheismus dasselbe,
beide haben zu ihrem Thema die All-Einheit: jenem gilt Gott als
das All-Einige Wesen, diesem gilt er als der All-Einige.
Darum sagt Schelling: „Monotheismus und Pantheismus liegen
> S. oben Vuch ll. Cap. XI.III. S. 720 ff. — ' S. W. II. Bd. 2. Vorlesg.
I. S. 8.
740 Das System der Mythologie.
einander näher und sind sich verwandter, als einer von ihnen dem
Theismus".'
Indessen sind Pantheismus und Monotheismus keineswegs iden
tisch, und Schelling nimmt das Verdienst in Anspruch, in diesen seinen
Vorlesungen das richtige Verhältnis durch den wahren Begriff des
Monotheismus dargethan zu haben. Er tadelt die Theologen und
Philosophen der Gegenwart, die, von einem flachen und salschen Begriffe
des Monotheismus beherrscht, diesen dem Pantheismus immer nur
entgegenzusetzen wissen ; er kommt aus seinen Streit mit Fr. H. Iacobi
zurück, der einen leeren und schalen Theismus sowohl dem Spinozismus
als der (in seiner Freiheitslehre entwickelten) Gottesidee Schellings
entgegengesetzt und die letztere sür baaren Naturalismus erklärt hatte.
„Iacobi war tolerant gegen den Pantheismus, er war im Grunde der
einzige Inhalt seiner eigenen Philosophie. Er mußte die Fortdauer
des Pantheismus wollen, denn dieser gab seiner Philosophie das
einzige Interesse; wie es Personen giebt, die krank sein wollen, weil
ihnen dies Gelegenheit giebt, von sich selbst zu reden und ihre sonst
durch nichts interessante Persönlichkeit durch solche Reden interessant
zu machen." ^
2. Die Potenzen in Gott.
Der wahre Monotheismus ist nicht der Gegensatz, sondern die
Ueberwindung des Pantheismus, wie es Schelling in seiner Ab
handlung über die menschliche Freiheit und seinem Denkmal Jacobis
längst gelehrt hatte. " Hier zeigten sich schon die Grundlagen seiner
späteren Lehre. Aus ihnen beruht auch das Buch über den „Mono
theismus". Der Theismus wie der Monotheismus der gewöhnlichen
Fassung kennt keine Unterschiede in Gott, der Pantheismus kennt
solche Unterschiede, aber sie sind ihm gleichwerthig, wie die Attribute
Gottes (Ausdehnung und Denken) in der Lehre Spinozas. Dagegen
dem wahren Monotheismus sind diese Unterschiede in Gott nicht
gleichwerthig, vielmehr erkennt er darin Steigerungen oder Potenzen
von kosmischer Bedeutung, sie sind das in der Natur Gottes ent
haltene Pan, aus welchem und über welches Gott selbst sich in abso
luter Freiheit erhebt. „Der Pantheismus selbst in seiner bloßen Mög
lichkeit ist der Grund der Gottheit und aller wahren Religion. Darin
' Ebendas, Vorlesg. IV. S. 72. - ' Ebendas. Vorlesg. IV. S.74-7S. -
° Vgl. oben Buch II. Cup. XXXVIII. S. 663-667 u. Cap. XXXIX. S. 669
bis 686.
Das System d«r Mythologie, 741
liegt der Zauber, den der Pantheismus zu allen Zeiten aus so viele
ausgeübt hat, ein Zauber, den die Reden derjenigen nicht ausheben
können, die selbst nicht bis aus diesen Urbegriss zurückgehen. Der
Monotheismus ist gerade nichts anderes, als der esoterisch, latent,
innerlich gewordene, er ist nur der überwundene Pantheismus." Es
und die Potenzen in Gott, wodurch Echelling seinen Pantheismus
von dem des Spinoza unterscheidet. „Dem Spinoza sehlte der Begriff
der Steigerung, sowie die Ideen des lebendigen Processes." Aus dieser
todten und unbeweglichen All-Einheit des Spinoza habe eine spätere Philo
sophie eine innerliche und eben darum schöpserische, productive zu
machen gesucht. In dieser Philosophie sei sreilich von einer Genesis,
einem Werden, einem Proceß die Rede gewesen, weshalb sie Iacobi
baaren Naturalismus genannt habe. ^
In der wahrhast monotheistischen Fassung ist Gott nicht der
schlechthin Einzige (5 zi,6ve>?), sondern er ist dieser Einzige als Gott:
er ist der einzige Gott, im Unterschiede von welchem es eine gött
liche Mehrheit giebt, die, obwohl mehrere, doch nicht mehrere Götter
sind, sondern es ist nur e i n Gott, der sich zu jener Mehrheit verhält,
wie Iehovah zu Elohim. „Es giebt kein urkundlicheres Wort über
die Einheit Gottes, als jenes capitale und classische, jene Anrede an
Israel: „„Höre Israel, Iehovah dein Elohim ist ein einziger Iehovah"".
Er ist ein einziger Iehovah. d. h. er ist nur einzig als Iehovah.
als der wahre Gott oder seiner Gottheit nach, womit also zugelassen
ist, daß er, abgesehen von seinem Iehovah-Sein, Mehrere sein kann."'
Diese Mehrheit in Gott sind die Potenzen: jene drei Formen,
in welchen alle Möglichkeiten, alle Principe des Seins enthalten sind,
jene wahren Urbegrisse oder Urpotenzen alles Seins; in ihnen liegt
die ganze Logik, wie die ganze Metaphysik. Die Potenzen sind in
Gott und gehören zu seinem Wesen, er schließt sie nicht von sich aus,
sondern trägt sie in sich: daher ist er nicht der ausschließend Einzige,
sondern der All-Einige. Die Elemente des Monotheismus sind die
Principien des Pantheismus; die Potenzen sind die Bewegungs- und
Durchgangspunkte (Momente) des göttlichen Seins ; keine derselben. sür
sich genommen, ist Gott selbst, dieser ist nur die unauslösliche (geistige,
persönliche) Einheit und Verkettung der Potenzen; insosern ist er der
All-Eine. Die bloße, nackte Potenz (potentia r»ura). sür sich ge-
> S. W. II, Bd. 2. Vorlesg. IV. S. 69, 74 u. 75. - < ßbendas. Vorlesg. II.
E. 47 ff.
742 Das System ber Mythologie.
(S. 91). Er sagt: „Die Aushebung des göttlichen Seins, welche die Voraus»
setzung des theogonischen Processes ist, kann natürlich nicht schlechthin ge
schehen, dies ist unmöglich. Die Aushebung ist eine blos temporare, sie ist
nur Suspension. Hierbei verhält sich jenes contra« Sein zunächst und unmittel»
bar als das das göttliche Sein negirende, mittelbar aber und in seinem Ende -
als das das göttliche Sein ausdrücklich setzende, Gott bejahende, im Uebergang
aber, d.h. im Proceß, als das das Göttliche erzeugende theogonische Princip"
Das System der Mythologie, 74S
(S. 93). „Die aus ihrer Gottheit gesetzten Potenzen, die eben darum die Mög
lichkeit an sich haben, wieder in ihre Gottheit gesetzt zu werden, sind zwar nicht
soru, aber potsotis oder Z^ä^l allerdings Gott, so wie sie schon jetzt und
selbst in ihrer gegenseitigen Ausschließung wenigstens die gotterzeugenden, die
theogonischen Potenzen sind" (S. 97).
' Ebendas. Borlesg. VII. S. 137-139. - ' Vorlesg. VIII. S. 161 ff. Vor.
lesung IX. S. 172.
74« Das System der Mythologie.
Ionische Frau vor dem Tempel der Mylitta einmal im Iahr unter»
worsen war.>
Das Verhältniß der Mitra zu dem Mithras in der persischen
Religion hat den Philosophen zu einer Untersuchung veranlaßt, die sich
äber das Wesen der letzteren verbreitet und den Charakter der Zend-
lehre sestzustellen sucht, aber über das Zeitalter ihres Urhebers im
Dunklen bleibt und läßt. Herodotos kennt den Dienst der Mitra und
deren Heiligthum in Sardes, er weiß nichts von Mithras, nichts von
Zoroaster, der in der griechischen Litteratur erst im pseudoplatonischen
AlkibiadeL I erwähnt werde. Vermöge ihrer dualistischen Grundan
schauung widerstreite die Zendlehre dem successiven Polytheismus, und
da in diesem der Charakter der eigentlichen Mythologie bestehe, so sei
die persische Religionslehre von Grund aus antimythologisch gerichtet
und aus einer ursprünglichen Reaction wider die mythologische Religion
hervorgegangen. Darin vergleicht sie Schelling einerseits mit der
Stellung „der Buddalehre zur mythologischen Braminenlehre", anderer
seits mit der jüdischen Religion, weshalb auch in der nachexilischen
Zeit der Uebergang persischer Religionsideen in jüdische Vorstellungen
so leicht von statten gegangen sei.^
Jener Gegensatz und Kamps zwischen Ahriman und Ormuzd wird
vonSchelling ausgesaßt als der Streit zwischen dem materiellen und dem
relativ geistigen, dem realen und idealen Gott, der negativen und posi
tiven Potenz, den Urkrasten der Contraction und Expansion, der Nacht
und dem Licht u. s. w. Dieser Kamps ersüllt das persische Bewußtsein.
Aber der Gegensatz der beiden Principien, bei aller Ursprünglichkeit,
die ihm zukommt, ist doch ein gewordener und keineswegs endgültiger;
er setzt eine Ureinheit voraus, aus welcher er hervorgeht, und sordert
eine endgültige Ueberwindung und Einheit, die aus ihm hervorgeht.
Jene Ureinheit, wie im Bundehesch (einem späten Werk aus dem
Zeitalter der Sassaniden, im siebenten Iahrhundert unserer Zeitrechnung)
zu lesen steht, ist die unerschassene Zeit lAErunns »kliersue);
die resultirende Einheit kann nichts anderes sein als die endgültige
Ueberwindung des Ahriman oder der absolute Sieg des Ormuzd, die
wirkliche Vermittlung und Ausgleichung des Gegensatzes. Diese Aus
gleichung erscheint in Mithras: er ist der Mittler, der absolute Gott,
der Allgott, der Herr des Wirkens und Werdens, dessen abgöttische
> Ebendas. Vorlesg. XII. S. 237-252. - ' Vorles«.. XI. S. 205 ff. S. 229 ff.
E. 235.
750 Das System der Mythologie.
' Vorlesg. XI. S. 216-228. - ' Ebendas. S. 222. Der Herausgeber hatte
das ungenaue Citat berichtigen sollen. Die Goetheschen Worte lauten:
Ich bin ein Theil des Theils, der Ansangs Alles war.
Ein Theil der Finsterniß, die sich das Licht gebar,
Das stolze Licht u. s. w.
Das System der Mythologie. 751
wiederum den relativen oder realen und den absoluten oder idealen
(geistigen) Polytheismus. Der Weg geht von jenem zu diesem. Er
versteht unter dem realen Polytheismus die Herrschast des materiellen
Gottes, der den geistigen, besreienden, sortschreitenden von der Gottheit
ausschließt und ihm widerstreitet; er versteht unter dem idealen Poly
theismus die vollkommene Verwirklichung, Erscheinung und Herrschast
des besreienden Gottes. Iener noch materielle, seine ausschließliche
Herrschast wollende, eisersüchtig darüber wachende Gott ist Kronos,
es ist der sinstere, seiner Eigenmacht bewußte, tyrannische und arglistig
gesinnte Uranos. der erste Gott in zweiter, eingeschränkter Gestalt, der
«T^vX-^rTz?, wie Homer ihn nennt, der in sich gekehrte, wie Proklos
den Ausdruck deutet. Dieser ist Dionysos, der Sohn der Urania, der
zweite Gott, der erst im Kommen begriffene und künstige, der besreiende,
wohlthätige, der menschlichen Gesittung holde. Herodotos berichtet von
den Bewohnern des glücklichen Arabiens, daß ihre alleinigen Götter
> Vorles. XIII. S. 262-263. S. 283. Wem vergegenwärtigt sich bei diesen
Worten nicht die Epoche der Wiedergeburt Deutschlands, die Schelling nicht mehr
erlebt hat, und der Mann, der sie zu Stande gebracht?
752 Das System der Mythologie.
Urania und Dionysos waren, Alilat und Urotal, d.h. die Göttin
und der Sohn, l
Der Name Kronos ist hellenisch, der Gott selbst ist es nicht: dieser
erscheint in der hellenischen Mythologie (Theogonie) als der Gott der
Vergangenheit, er ist gegenwärtig in der vorhellenischen Mythologie,
im Bewußtsein des syrischen Volkes, der Phönikier, Kanaanäer, Kar
thager mit ihren parallelen Völkerschaften. Hier erscheint er unter dem
Namen Baal. Dagegen Dionysos (wohl zu unterscheiden von Bacchus,
dem Gotte des Weins) ist dem Namen wie der Gottheit nach echt
hellenisch und gehört in seiner vollkommensten Ausbildung und Gestalt
in die letzte Entwicklung der griechischen Religion, aber seinem Wesen
nach, als der zweite, besreiende, sortschreitende, im Kommen begriffene
Gott, als der Sohn der Urania, ist er weit älter und Gegenstand der
vorhellenischen Religion, wie aus jener Nachricht des Herodotos erhellt.
Er ist seiner Bedeutung nach ein nothwendiges und ewiges Thema der
Mythologie, daher ist sein Wesen älter als der Name, seine Wirkung
srüher als die Anerkennung, seine Gegenwart im Bewußtsein älter als
seine völlige Verwirklichung. Mit anderen Worten: Dionysos als Gott,
der als solcher die sormellste Ausbildung und Anerkennung in sich
schließt, ist weit jünger, denn als mythologisches Wesen und Princip.
Dies erkannt und bestritten zu haben, war Creuzers Irrthum im
Streite mit Voß, dessen gröberer und platter Irrthum darin bestand,
die Vorstellung von dem mythologischen Alter und Urwesen des Dionysos
sür orphische Mystik und Unsinn zu erklären. „Voß, deffen wiffen
schastlicher Ideenkreis ungesähr von demselben Umsang war, wie der
Kreis seiner größtentheils häuslich-ökonomischen Poesie, ^ will auch
in dem Dionysos ursprünglich nur einen solchen rein wirthschastlichen
Gott erkennen" u. s. s.'
Der Entwicklungsgang der Mythologie entspricht dem Entwicklungs
gange der Natur. Der Standpunkt der hellenischen Mythologie aus
ihrer dionysischen Höhe entspricht der Schöpsung des Menschen. Der
Gang der griechischen Philosophie ist dem der Mythologie analog. Als
die griechische Philosophie die sreie Beweglichkeit, Vielheit und Mannich-
saltigkeit der Dinge verneinte, verharrte sie gleichsam aus dem Stand
punkte des Kronos und war vordionysisch. Zeno war der Kronos der
Philosopie. Erst Sokrates, dieser dämonische Mann, der die Philo-
> Ebendas. Vorless, XII. 2.254-257. Vorles». XIII. S. 264-268. Vorless.
XIV. S. 286-289. - ' Ebendas. Vorlesg. XIII. S. 274-281.
Das System der Mythologie. 753
sophie vom Himmel aus die Erde herab und aus dem Wesen der Dinge
in das Wesen des Menschen und des sreien menschlichen Lebens ein
sührt, ist der wahrhaste Dionysos der Philosophie. Da der Gott
Dionysos der eigentliche Repräsentant des idealen oder geistigen Poly
theismus ist, in welchem sich die hellenische Mythologie ausprägt und
vollendet, so ist in der Dionysoslehre ein Schlüssel der ganzen griechischen
Mythologie gegeben. Dies geahndet und den Dionysos an die ihm
gebührende Stelle gesetzt zu haben, gehört zu Creuzers großen Ver
diensten. ^
Kronos ist nicht, wie man ihn gewöhnlich aussaßt, der Gott der
Zeit, nämlich der wirklichen, in Vergangenheit, Gegenwart und Zu
kunst geschiedenen, sondern der chaotischen, öden, ihre Geburten immer
wieder verschlingenden Zeit, (die Sichel, die man ihm beilegt, ist das
Werkzeug nicht der Ernte, sondern der Entmannung des Uranos);
der wirklichen Zeit, der Succession und Göttersolge ist er seindlich
gesinnt und widerstrebend, weshalb er den zweiten besreienden Gott
von der Herrschast auszuschließen sucht, ihn ausstößt und erniedrigt, so
daß dieser in Knechtsgestalt, durch Leiden, Mühen und Arbeit sich seine
Gottheit thatkrästig erwerben muß und erwirbt. So erscheint in der
phönikischen Religion dem Baal gegenüber Melkarth, der Stadtkönig,
als der Gott der Stadt, des bürgerlichen Lebens, der menschlichen Ge
sittung und Vereinigung. Er ist die dem Dionysos entsprechende Per
sönlichkeit. Er wirkt als der Wvhlthäter der Menschen, die Leiden
und Mühen des Lebens erleichternd, das Uebel und den Fluch ab
wehrend, als ein ««r^p und «XsAx«xo?, gleich dem griechischen Herakles. ^
Da der Kronos (Baal) ein ausschließender und eingeschränkter,
ein menschenseindlicher und verzehrender Gott ist, so sordert sein Cultus
die bildliche Darstellung und das grausamste aller Opser. Das Bild
muß so weit als möglich vom Menschenbilde und allem Menschlichen
entsernt sein: es ist der unsörmliche, von der Menschenhand unberührte
Stein; das entsetzlichste der Opser aber ist das Menschenopser, die Dar
bringung und Verbrennung der Kinder, der erstgeborenen und ein
geborenen Söhne, die dem Baal (Moloch) geopsert wurden, was nach
Eusebius in Phönikien jährlich einmal geschah. Es waren Sühnopser,
um
karth)denzum
seindseligen
Besten derGott
Menschheit
zu versöhnen,
hingegeben
der habe.
den eigenen
So deutet
Sohn
Schelling
(Mel-
' Ebendas. Vorlesg. XII. S. 25S. Vorlesg. XIII. S. 283 ff. - ' Ebendas.
Vorlesg. XIV. S. 291-292. S. 306- 315.
«. Fischer, Tisch, d. Vhilos. VU «
754 Das System der Mythologie.
sene drei Gottheiten eine Einheit in dreisacher Gestalt : sie sind Osiris
in der ersten, zweiten und dritten Potenz. In der ersten Potenz ist
er die noch verschlossene, aller Offenbarung widerstrebende, in der zweiten
die offenbar gewordene, in die Mannichsaltigkeit übergegangene, zer-
> Vorlesa. XVII. S. 364—869. S. 373-375. — ' Ebenbas. s. 376—879.
Vorlesg. XVIII. S. 380 ff.
Dal System der Mythologie. 757
beständigen Festcyklus geseiert? nicht die Religion der Aegypter ist kalen
darisch, sondern ihr kalendarisches System ist religiös. ^
So ist die Geschichte des Osiris in seinem beständigen Kampse
gegen alles Typhonische und seinem Siege darüber eine ewige Geschichte:
es ist der Gott, der da war, ist und sein wird, der Gott der Vergangen
heit, Gegenwart und Zukunst, dessen Wesen daher in der ewigen Natur
der Dinge wurzelt, und dessen Erkenntniß zu der Betrachtung und
Feststellung der Urgründe leitet.
Diese Urgründe, ihrem Wesen nach die ersten und ältesten, darum
die am spätesten und zuletzt erkannten Gottheiten, bilden in den Götter-
ordinmgen, welche Herodotos nennt, die oberste und erste: es sind die
ungewordenen, intelligibeln, metaphysischen Götter (S-oi, vo?^). denen
die größten Tempel geweiht waren: acht Gottheiten in vier Götter
paaren. In den drei männlichen Gottheiten erkennt Schelling die drei
Urpotenzen: I) den verschlossenen Urgrund, 2) die Spannung der Welt
kräste und 3) deren wiederhergestellte geistige Einheit oder, anders
ausgedrückt: die in sich verschlossene Potenz (Contraction), die demiur-
gische (Expansion), die geistige. Die erste ist Amun (Ammon), die
zweite Phtha (Phthas ---- Hephästos). die dritte Kneph (Chnub-Geist.
«7«Sc>S«^«v); das Heiligthum des Amun war der größte der Tempel
in Thebe (Tempel von Karnak), das des Phtha der Tempel in Mem
phis, in welchem der Gott zwergartig, kabirenähnlich dargestellt war,
was den Spott des Kambyses erregte. Die vierte Gottheit, als die
Einheit der drei ersten, sei Thot (Hermes), wie Schelling vermuthet:
der Gott des discursiven, begrifflichen Denkens, der Sprache, der Schrist
und aller Ersindungen, der die drei höchsten Potenzen in sich vereinige
und darum der dreimal höchste (r^^T,sl?io?) genannt werde; ihm wer
den die sogenannten hermetischen Bücher späten, neuplatonischen Ur
sprungs zugeschrieben, worin die ägyptische Religion als Emanations
lehre dargestellt werde, was sie keineswegs war. Von den weiblichen
Urgottheiten wird Athor (Aphrodite, die Gattin des Amun) genannt
und Reith (Athene), die ihr Heiligthum in Sais hattet
Die zweite Ordnung sind die zwöls Götter, die wohl die Zeit
der ägyptischen Kronosherrschast darstellen und, da Typhon der über
wundene Kronos ist, von Schelling als „vortyp honisch" bezeichnet
werden. Unter ihnen erscheint der ägyptische Herakles.'
' Ebendas. Vorlesg. XVIIl. S. 383-387. - ' Ebendas. Vorlesg. XVIII.
S. 391-399. Vorlesg.XIX. S. 413-417. - °Ebendas.Vorlesg.XIX. S.417-419.
Nas System der Mythologie. 759
Naja ist das erste Sein, der Ansang alles Schassens, das gewaltsame,
leidenschastliche Wollen, das blinde und besinnungslose zu verstehen;
das verblendete und blendende, das darum auch nur Blendwerke her
vorbringt, nicht das wahre, sondern das scheinbare, täuschende Sein,
die Sinnenwelt. In dieser Schöpsung besteht die Urmöglichkeit, die
Magia oder die Maja, die daher mit dem Brahma nothwendig zu
sammenhängt. Demnach besteht Schiwas zerstörende Grundeigenschast
lTama) darin, daß er nicht das wahre, sondern das täuschende
und illusorische Sein, den Schein vernichtet: er ist ein wohlthätiger
Zerstörer, weshalb ihn Schelling der zweiten Potenz gleichsetzt. Der
das wahrhaste Sein (Satwa) aus dem Schein und seiner Zerstörung
rettende und erhaltende Gott ist Wischnu. der in die Scheinwelt
eingeht und sich materialisirt, um siegreich daraus hervorzugehen. ^
Die Incarncitionen des Wischnu sind das Thema der Wischnulehre
(Wischnuismus) und der Gegenstand der großen epischen Werke der
indischen Poesie. Neun Incarnationen sind geschehen, die zehnte ist
bevorstehend. Die siebente Incarnation ist Rama, dessen Thaten der
Gegenstand der Ramayana sind; die achte Incarnation ist Krischna,
dessen Abenteuer und Kriege das Thema der Mahabharata sind.
William Iones vergleicht den Krischna mit dem Apollon, Creuzer mit
dem Herakles. In diesem großen Epos sindet sich eine Episode „Bhag-
wadgita", welche A.W. Schlegel ins Lateinische übersetzt und W. v. Hum
boldt zum Gegenstande einer Abhandlung gemacht hat: hier erscheint
Krischna mit einem der Helden in einem philosophischen Gespräch über
Leben und Tod. Sein und Nichtsein, worin Krischna, gleich dem eleatischen
Parmenides. das Nichtsein verneint und die absolute Ewigkeit alles
Seins behauptet.'
Will man den Buddismus aus der indischen Mythologie herleiten,
so müßte man denselben als eine Steigerung der Wischnulehre ansehen,
aber diese sieht das höchste Wesen noch immer in Wischnu. also noch
immer zuletzt in einer mythologischen Person. Die göttlichen Potenzen
bleiben getrennt, und so lange sie getrennt sind, wird die Maja nicht
gänzlich und von Grund aus überwunden, es herrscht der unaushör
liche Wechsel des Entstehens und Vergehens, das drehende Rad des
Weltlauss, nämlich des Kampses der drei Eigenschasten, worin bald
die eine, bald die andere siegt: ein höchst ausdrucksvolles Symbol,
> Ebendas. Vorlesg. XX. 2. 449-452. Vgl. Vorlesg, XXI. S. 482. -
' Vorlesg. XXII. S. 487.
764 Das System der Mythologie.
Hier ist der Ort, von China und seiner Cultur zu reden, erst hier.
Tie Ansicht gewisser Geschichtsphilosophen, welche China als den An»
sang und die erste Stuse der weltgeschichtlichen Entwicklung betrachten,
sei salsch und verkehrt. Dabei sällt ein böser Blick aus Hegel, einer
der vielen, denen man in diesen Vorlesungen Schellings begegnet. Zu
dem Begrisse des Ansangs gehöre, daß von ihm aus sortgeschritten
werde. Ein Ansang ohne Fortschritt sei keiner. Da nun das chinesische
Staats- und Religionswesen aus dem Punkte stehen geblieben sei, wo
daffelbe vor vier Iahrtausenden stand, so könne China nicht als der
Ansang der menschlichen Entwicklung betrachtet werden, es sei denn aus
Sympathie von selten einer Philosophie, die auch nicht sortzuschreiten
vermocht habe.'
Es giebt keine chinesische Mythologie, auch keine chinesische Volks-
religion und, eigentlich zu reden, überhaupt keine chinesische Religion,
da es in der chinesischen Sprache kein Wort giebt, das man mit „Gott"
übersetzen könnte. Es sinden sich in China, diesem größten aller ir
dischen Reiche, drei Lehren beisammen, die man Religionen zu nennen
pflegt: die des Cong»su-tsee (Consucius), die des Lao-tsee (Tao-ssee)
und die des Fo (Vudda), welche letztere zwar eine Weltreligion ist, die
' Ebendas. XXII. S. 498—505. - > XXIII. S. 529. XXIV. S. 557 ff.
7 «6 Das System der Mythologie.
Fetischismus, der nichts mit der Mythologie gemein hat. Die vorge
schichtliche Menschheit in ihrer Fixirung ist einzig und allein reprä-
sentirt durch das chinesische Reich, dessen Bewohner nicht eigentlich ein
Volk, sondern eine unermeßliche Verbindung von Völkerschasten aus»
machen. Die Chinesen erscheinen sich selbst nicht als ein Volk unter
Völkern, sondern als die Menschheit, und ihr Reich erscheint ihnen als
das himmlische Reich aus Erdenk
Auch die Mythologie ermöglicht einen doppelten Gegensatz: den
contradictorischen und conträren : der Standpunkt des ersten ist absolut
unmythologisch, der des zweiten ist antimythologisch und anti
polytheistisch, derselbe erscheint als Einheitslehre in monotheistischer oder
pantheistischer Form, wie sich die letztere in der Zendlehre und im
Buddismus darstellt, wogegen das contradictorische Gegentheil aller
Mythologie weder polytheistisch noch pantheistisch, sondern atheistisch
aussällt. Es ist die Möglichkeit gegeben, daß in einem Falle, in einer
Ausnahme das menschliche Bewußtsein sich dem mythologischen Processe
überhaupt versagt, gar nicht in denselben, also auch nicht in seine Anti
thesen eingeht, sondern aus dem vormythologischen Standpunkt unver
ändert und unveränderlich beharrt: diese eine und einzige Möglichkeit
ersüllt sich in China. „China bleibt immer das Einzige in seiner
Art. Aber wenn auch die einzige Ausnahme ihrer Art, so ist es
genug, die Möglichkeit einer solchen Ausnahme erkannt zu haben,
um vorauszusehen, daß sie auch in der Wirklichkeit anzutressen sei.
Denn es ist der Charakter des Weltgeistes überhaupt, daß er alle
wahrhasten Möglichkeiten ersüllt, die größtmögliche Totalität der
Erscheinungen überall will oder zuläßt, ja es ist im Gang der Welt,
dessen Langsamkeit uns schon all,ein davon überzeugen müßte, recht
eigentlich daraus angelegt, daß jede wahrhafte Möglichkeit ersüllt werde.
Der vormythologische Standpunkt ist der des Zabismus oder der
astralen Religion, die das Band der noch ungetrennten vorgeschichtlichen
Menschheit ausmacht und auch den Ausgangspunkt des chinesischen Be
wußtseins bildet. Dieses aber hält seinen Ausgangspunkt sest und be
harrt aus demselben, es schreitet nicht sort zu dem zweiten Gott, sondern
versagt sich dem mythologischen Proceß und macht die astrale Religion
zur ausschließlichen, den höheren Gott und damit alle religiöse Bewegung
und allen religiösen Charakter ausschließenden Anschauung, d. h. es ver-
äußert und verweltlicht die astrale Religion. Diese Art der Umwen-
duug ist auch eine «nniversio». Aus der Religion des Himmels
wird das himmlische Reich aus Erden, das Reich der Mitte, des Cen
trums; aus dem Gott des Himmels wird der irdische Gott, der
Monarch, der unumschränkte Kaiser, das Centrum im Reiche des
Centrums. Wenn es mit diesem Centrum wohlbestellt ist, so ist alles
wohlbestellt im Reich und in der Welt. Wenn hier die Uebel herr
schen, so liegt die Schuld und Ursache lediglich in den Unordnungen,
die in der Person des Kaisers stattsinden, und welche zu verhüten und
abzustellen er allein die Macht und die Pflicht hat. Das Reich ist
ohne Gott, ohne Religion, ohne Priester: es ist «religio sstralis in
rsmvudlicslli versa». „Man kann nur sagen, die Macht des chine
sischen Kaisers sei eine in Kosmokratie, in völlig weltliche Herrschaft
verwandelte Theokratie. «IIn univers s»os Dieu» ist das einzig Richtige
von China. Sein Gott ist der Himmel (Thian), dieser ist das Reich
und dessen Symbol die geflügelte Schlange (Lung), der vom Himmel
aus die Erde herabgestürzte Drache."^
Dem Staat gegenüber haben die Individuen gar keine Selbstän»
digkeit, sie sind und bedeuten nichts sür sich, es giebt hier keine Ab
stusungen, als welche relative Selbständigkeiten voraussetzen; die
einzigen Unterschiede sind die der Aemter und Functionen. Die Ver
götterung des Staatswesens ist recht eigentlich chinesischen Ursprungs
und von chinesischer Geistesart. Diesem Geisteszustande ist die Sprache
und Schrist der Chinesen völlig analog. Wie sich die Individuen
zum Staat, so verhalten sich die Worte zur Sprache. Sie haben gegen
die letztere keine Selbständigkeit, sie sind und bedeuten nichts sür sich,
sie sind keine Redetheile, sondern unentwickelte, entwicklungsunsähige
Wortatome, daher monosyllabisch, sie haben keinen grammatikalischen,
sondern nur einen musikalischen Accent, d. h. sie erhalten ihre Bedeutung
nur im Sprechen, durch die Art der Intonation oder Modulation;
dasselbe Wort kann, gesprochen, sehr viele Bedeutungen haben, es hat
also ungesprochen oder unabhängig von der Sprache und vom Laut,
d. h. sür sich genommen, gar keine. „Die Bewegung der Ursprache
verhält sich zur Bewegung der srei entwickelten Sprachen, wie sich die
Bewegung des Himmels zu den sreiwilligen, willkürlichen und mannich-
saltigen Bewegungen der Thiere verhält." „Die Ursprache bedars der
und Freiheit ihres Bewußtseins und krast derselben ist die hellenische
Mythologie einzig und unvergleichlich; sie ist die heidnische Weltreligion
in ihrer ganzen Herrlichkeit und Vollendung.
Auch in Griechenland gab es eine vormythologische und vorhellenische
Zeit: die pelasgische, in welcher der Zabismus herrschte, die
Religion des Uranos, die astrale. Dann solgte der Ansang und die
Urzeit der eigentlichen hellenischen Mythologie, die Religion des Kro
nos, woraus zuletzt die Götterwelt und der Götterstaat des Zeus
hervorging.
wart des hellenischen
Dieser steht
Bewußtseins.
im Vordergrunde
Die Gestalten
und in derundvollen
Ordnungen
Gegen'
uns die hellenische Mythologie, wie sie im Leben erscheint, aus ihrem
Uebergange zur Geschichte; die Theogonie des Hessiodos zeigt uns
dieselbe, wie sie im Bewußtsein erscheint, aus ihrem Uebergange zur
Wiffenschast und Philosophie. Die Darstellung des Göttersystems
bildet den Schluß der griechischen Mythologie.>
2. Die Vöttergeschlechter: Uranos, Kronos, Zeu«.
Die beiden Urgründe sind das Chaos und die Gäa. Das
Chaos ist kein mythologisches, sondern ein metaphysisches Princip, es
bedeutet weder die Leere noch die Verwirrung materieller Elemente,
sondern die ungeschiedene Ureinheit, aus der sich alles entsaltet. In
diesem Sinne ließe sich sagen: der Punkt sei der Kreis im Chaos.
Schelling sindet, daß dieser Begriff des Chaos seine mythologische Ge
staltung nicht in der griechischen, sondern in der altitalischen Mytho
logie gesunden habe, und zwar in dem Gotte Ianus. Wir werden
daraus zurückkommen.
Es ist bemerkenswerth. daß der theogonische Grund, das erste
mythologische Princip der Theogonie, weiblich ist: die Gäa, die den
Uranos erzeugt und sich mit ihm vermählt; sie erzeugt ohne den
Uranos die großen Berge und das unsruchtbare Meer, den Pontos,
lauter reale und materielle Naturobjecte. Gäa und Uranos bezeichnen
die Vorzeit der Mythologie, den Zabismus, die Herrschast des Uranos.
die erste Periode der Theogonie.'
Die Söhne des Uranos und der Gäa sind das erste Götter
geschlecht, die hervorstrebenden, in der Spannung begriffenen Kräste,
die Titanen, die zur künstigen Herrschast bestimmt sind, dann die
ungeheuren, rohen Naturgewalten, die zur Unterordnung bestimmt sind,
zum Dienste des künstigen Herrschers: das sind die Cyklopen und
Giganten ldie hundertarmigen Riesen). Der successive oder sort
schreitende Polytheismus sordert ein Princip. welches den Fortschritt
elMöglicht, und ein Princip, welches den Fortschritt macht: die
weibliche Gottheit ermöglicht den Fortschritt, das jüngere Götter
geschlecht macht ihn ; daher wird dieses allemal von der Mutter begün
stigt, vom Vater gehaßt und selbst diesem seindselig. Vom Vater wird
e« in der Verborgenheit gehalten, von der Mutter besreit. So ver
hält sich die Gäa zum Uranos. später die Rhea zum Kronos. Die
Titanen sind die Vorboten der Kronosherrschast, die aus ihnen her
vorgeht; die Cyklopen und Giganten sind die Vorboten der Zeus-
herrschast, sür welche gegen die Titanen sie streiten.'
Aus dem Chaos gehen hervor das Erebos (unterweltliche Dunkel)
und die Nacht, aus dieser die sinsteren und verderblichen Mächte: das
Todesgeschick (i^o?), der bittere Spott l>ü>^«?) die Nemesis, die Ur-
täuschung («n«r7z). die Zwietracht (e>?). die salsche Rede u. s. s. Diese
Kinder der Nacht sind nicht mythologische Wesen, sondern, wie sogleich
einleuchtet, philosophische Begriffe. *
Die zweite Periode der Theogonie ist die Herrschast der Titanen
und des Kronos, wozu der Uebergang durch die Entmannung des
Uranos stattsindet: diese geschieht durch Kronos, den jüngsten der
Titanen, der die väterlichen Zeugungstheile rückwärts, d. h. in die
Vergangenheit wirst. Wir haben die Kronosherrschast schon srüher
charakterisirt: sie besteht noch in der bloßen Gewalt und Stärke des
blinden, verstandlosen Seins, zugleich aber besteht sie aus dem Willen
zur ausschließlichen, ungetheilten Herrschast und ist darin schon relativ
geistiger Art. Darum läßt Kronos seine Söhne nicht srei, sondern
hält sie verschlungen, er läßt sie nicht aus sich heraus, sondern ver
schlingt sie wieder, er verhält sich zu ien Kroniden, wie Uranos zu
den Titanen. Der jüngste der Titanen war Kronos , der jüngste der
Kroniden ist Zeus. Wie sich die Gäa zum Kronos, so verhält sich
die Rhea zum Zeus. Der Sturz des Uranos durch den Kronos ist
der eigentliche Ansang der Mythologie, der Sturz des Kronos durch
den Uranos ist der eigentliche Entstehungsmoment der griechischen
Mythologie."
Die drei Söhne des Kronos und der Rhea sind Hades f^cS^),
Poseidon und Zeus; die drei Töchter Hestia (Vesta), Demeter und
Hera. Wie sich die Hera zum Zeus, so verhält sich die Demeter zum
Poseidon, die Hestia zum Hades. Es sind drei Paare. Später im
Verlause der Theogonie erscheint Hades ohne Gattin, noch später raubt
er sich die Persephone, die Tochter der Demeter. Gerade diese
Widersprüche beweisen, daß die Theogonie kein künstliches Machwerk
ist, sonst würde man sie vermieden haben, sondern daß sie aus dem
mythologischen Proceß hervorgegangen, der solche Widersprüche oder
Umwandlungen mit sich brachte; sie erklären sich aus dem Wesen und
' Edendas. Vorlesg, XXVII. S. 617-621. - ' XXVH. S. 621-628. -
' Ebendas. S. 624 ff.
Da« System der Mythologie. 773
ber Bedeutung der Demeter, von welcher Schelling erklärt: sie sei die
jenige Gestalt, durch welche die hellenische Mythologie ihre ganze Eigen»
thumlichkeit erhalte, und ohne welche keine griechische Götterwelt wäre.>
Dieser Ausspruch, räthselhast. wie er zunächst ist und jedem er
scheinen muß, enthält nach Schelling das Geheimniß nicht blos der
griechischen, sondern aller Mythologie und trifft daher auch den Kern
der Mysterien, die in Eleusis geseiert wurden. Der Hauptinhalt
dieser Mysterien, mythologisch ausgedrückt und in die Form einer Fabel
gekleidet, ist die Demeter als Mutter der Persephone, deren Raub durch
Hades sie in Sehnsucht. Trauer und Zorn versetzt; sie ist zu versöhnen
und zu begütigen, sie wird es als Mutter des Dionysos. Die Summe
der Fabel ist die Versöhnung der Demeter. Die Bedeutung dieser
Schicksale der göttlichen Mutter, das darin enthaltene mystische Ele
ment ist nicht allegorisch zu deuten, sondern geschichtlich und religiös.
Schelling hat zweimal von diesem Thema gehandelt: in der Philo
sophie der Mythologie und in der Philosophie der Offenbarung, und
zwar hier weit aussührlicher und klarer als dort. Um uns nicht zu
wiederholen, werden wir die beiden Darstellungen zusammensassen und
die Lehre von den Mysterien im nächsten Capitel aussühren.'
3. Die Mythologie in Dichtung und Kunst.
Der mythologische Proceß ist nichts anderes als die Wiederholung
des Naturprocesses im menschlichen Bewußtsein: aus diesem Satz als
ihrem Urgrunde beruht Schellings ganze Philosophie der Mythologie.
In der Schöpsung des Menschen hat der Naturproceß seine Höhe
und sein Ziel erreicht, wo die Welt des blinden, bewußtlosen Seins
endet und der Uebergang in die bewußte und geistige Welt stattsindet,
in die Menschheit und deren sortschreitenden Bildungsproceß. d. i. die
Weltgeschichte. Diese Höhe erreicht der mythologische Proceß erst im
hellenischen Bewußtsein und nur in ihm. In dem Götterstaate des
Zeus, dieser geistigen und sittlichen Götterwelt in ihrer Fülle und
Ordnung, in ihrer Mannichsaltigkeit und Einheit vollendet sich die
Mythologie: die Götter erleben und erzeugen Schicksale, sie greisen in die
Menschenwelt ein und werden eben dadurch poetisch. Gegenstände der
dichterischen Anschauung und Darstellung, mit einem Wort homerische
> Vorlesg. XXVII. S. 626-627, S. 631. — ' Vgl. S. W. II. Bd. 2.
Vorlesg. XXVII-XXVIII. S. 632-650, und Vd. 3. Vorlesg. XIX-XXIII.
E. 410-536.
774 Das Zyste« ber Mythologie.
germanische und die italische, welche letztere sich in die etruskische, latei
nische und römische unterscheidet. Die skandinavische sei ihrer asiatischen
Ursprünglichkeit und Herkunst entsremdet nud habe unter dem Einfluß
des Nordens und des Christenthums ihre Originalität verloren; die
altgermanische sei zerstört und nur als geringer Torso überliesert; die
italische aber sei mit der griechischen verschwistert und ihr in allen
wesentlichen Bestimmungen parallel, ausgenommen eine Bestimmung,
die erste von allen: nämlich die des Chaos, die in der altitalischen
Mythologie weit entwickelter und ausdrucksvoller erscheine, als in der
Theogonie des Hesiodos, wo sie zwar auch nichts anderes bedeute
und bedeuten könne, als die Ureinheit der Potenzen, es aber gar nicht zum
Vorschein komme, daß dieser Urpotenzen drei sind. Nun will Schel-
ling nachweisen. daß der altitalische Gott Ianus sowohl dem Begriff
als auch dem Worte nach mit dem Chaos übereinstimme, aber den
vollen Begriff desselben als der Einheit der drei Urpotenzen enthalte
und bildlich darstelle, l
Die Ureinheit schließt die beiden ersten einander entgegengesetzten
Potenzen in sich und zugleich die dritte als deren Vereinigung. In
der verschlossenen Einheit sind jene beiden Potenzen einander zugewendet;
sobald aber die Einheit sich öffnet und ausschließt, erscheinen sie als
einander entgegengesetzt und abgewendet: daher das Doppelgesicht des
Ianus, das nach der gewöhnlichen Erklärung in die Vergangenheit
und Zukunst blickt, das Ende und den Ansang einer Zeit bedeutet, wes
halb der erste Monat des Iahres Ianuarius genannt werde. Nun
sindet sich zwischen den beiden Gesichten noch das Symbol des wach
senden Mondes, der nichts anderes bedeuten kann als die unsehlbare
Zukunst, so daß der Gott Ianus alle drei Zeiten darstellt : Vergangen
heit, Gegenwart und Zukunst. Er zeigt nach rückwärts und vorwärts,
sowohl zeitlich als räumlich. Der Ort, durch welchen man nach beiden
Richtungen gehen kann, ist ein Durchgang, in geschlossenen Räumen
die Thore und Thüren: daher sei nach der gewöhnlichen Erklärung
Ianus der Gott der Durchgänge, der Thore und Thüren, und zwar
komm« ihm keine andere Bedeutung zu als diese. *
Indeffen würde eine solche Bedeutung doch nicht hinreichen, um
zu erklären, warum man die Thore des Ianustempels in Rom zur
Zeit des Friedens geschloffen und zur Zeit des Krieges geöffnet
> S. oben S. 771. S. W. II. Bd. 2. Vorles?.. XXVI. S. 598-603. -
' Ebendns. S. 803-604.
776 Dai System der Mythologie.
habe. Dies erkläre sich nur aus dem tiesen Sinn der Sache. Die
geschlossene Einheit, in welcher die Gegensätze noch sreundlich beisammen
sind, bedeutet den Frieden; die geössnete dagegen, welche die Gegensätze
losläßt und den Streit derselben hervorrust, bedeutet den Krieg. In
Streit und Krieg besteht die Fortdauer der Dinge, wie Herakleitos
sagt: «7rsX?.^o? sm«vr<«v 7r«rizp,. Numa und Augustus haben den
Tempel geschlossen; in den sieben Iahrhunderten zwischen beiden sei er
nur einmal geschlossen worden, nach dem Ende des ersten punischen
Krieges. ^
Nicht blos als Friedensgott, sondern als die höchste Einheit des
römischen Volkes habe Ianus den Beinamen Quirinus. Schelling
möchte diesen Namen von yuire herleiten und den Ianus als den
Gott erklären, „in dem alles Können ist, als den ursprünglich Kön
nenden, den Urvermögenden", als den Gott des Sein-Könnens, d.i.
der ersten Urpotenz. Wenn man ihm diese Etymologie nicht ein
räumen wolle, so habe er eine zweite Auskunst bereit: der Name
sei „Quirinus" gesprochen worden, habe aber „Cabirinus" geheißen.
Da sind wir denn wieder bei den Kabiren, den Gottheiten von
Samothrake, den Mächtigen und Gewaltigen, den Oii potes, den Ur-
potenzen oder verursachenden Göttern, aus denen die materiellen oder
concreten Götter hervorgehen. Von diesen, den Dii, steigen wir empor
zu den 6eornm Oii, welches die Urpotenzen oder theogonischen Mächte
sind, von diesen zu dem Deus 6sorum: dieser ist Ianus, er ist
nicht der höchste der Götter, sondern der erste. Es ist ein Unterschied
zwischen primus und summns; der höchste ist Iupiter, der erste ist
Ianus, er ist die Quelle und Einheit der Götterwelt, das prirloipium
lZsorum: als verschlossene Einheit die Urpotenz alles Seins, als er
schlossene Einheit die Psorte zu allem Sein.*
Dieser Gott sei identisch mit dem Chaos der Theogonie, auch
nach dem Wortlaut: Ianus verhalte sich zu Chaos, wie Ki« zu /«»,
Ki»rs zu x«T", beides bedeute ossenstehen, klaffen; Ianus (Hianus)
und Chaos bedeuten den klaffenden Abgrund, die gähnende Tiese. Ovidius
im ersten Buch seines Festkalenders läßt den Ianus sagen: „Chaos
nannten mich die Alten". Festus giebt in der «siZnitiosti« rer^m»
von dem Worte Chaos bei Hesiodos eine Erklärung, die, Schellings
Ansicht bestätigt: „es sei die noch verworrene Ureinheit (oonsusa quae,
6soa ulliws ab irM«), die offene und gähnende Tiese; was die Griechen
nennen, heiße bei den Römern Klare; davon komme Hianus
oder mit Weglassung der Aspiration Ianus, der erste der Götter, der
Urgrund aller Dinge". Der weibliche Ianus ist die göttliche Iana,
Diva Iana oder Diana, und da diese der Mond ist, so sind Ianus
und Iana, wie Buttmann will, Sonne und Mond. Schelling dagegen
möchte in der ersten Silbe des Namens die Bedeutung der Zweiheit
erkennen und Diana als die Urheberin der Zweiheit und der Span
nung deuten: ihr Attribut sei der Bogen, dessen abwechselnde Span
nung und Abspannung ein bekanntes Symbol des Weltprocesses und
der Weltharmonie sei.'
Seneca in seiner Tragödie „Herkules aus Oeta" läßt den Chor
verkündigen, daß einst die himmlische Burg zusammenstürzen, alles
untergehen und die Götter in das Chaos zurückkehren werden. „Dem
nach wird das Chaos ebenso das Ende der Götter sein, wie es bei
Hesiodos ihr Ansang war."
Fünsundvierzigstes Capitel.
Die griechischen Mysterien.
das Ziel der Religion und das Thema der Zukunstsreligion. Die
Zukunst ist unbekannt, unsichtbar, unserer äußeren Anschauung ver
schlossen, aber dem inneren, von der Religion erleuchteten Blicke offen
bar. Diese innere, in die Zukunst gerichtete Erleuchtung ist ein großes
Mysterium. Wir werden sehen, welche Bedeutung in den eleusinischen
Mysterien Schelling der Zukunstsreligion zuschreibt.
Der religiöse
II. Besreiungsdrang
Die mystischen setzt Gottheiten.
eine Macht voraus, die aus
uns lastet , von der erlöst zu werden wir bedürsen und begehren : eine
zu überwindende und überwindliche Macht. Die allesbeherrschende
und vernichtende, schrankenlose Naturmacht, das allgewaltige, blinde,
ungeistige Sein war als Gott Uranos der Gegenstand der astralen
Religion. Die sortschreitende Ueberwindung dieser Macht und die
Vergeistigung des Ueberwinders ist das durchgängige Thema des ge
sammten mythologischen Processes. Die Ueberwindlichkeit jenes blinden
allmächtigen Seins erscheint dem religiösen Bewußtsein in der Gestalt
der weiblichen und mütterlichen Gottheit, die in drei Hauptstusen
dergestalt sortschreitet, daß jene Ueberwindung zuerst ermöglicht, dann
verwirklicht, zuletzt vollbracht wird. Aus der ersten Stuse erscheint die
Göttin als Urania, aus der zweiten als Kybele, aus der dritten
als Demeter.'
Der weiblichen Gottheit solgt der zweite, neue, sortschreitende und
besreiende Gott, dessen Ankunst sie vorbereitet, der Ueberwinder, der
Sohn der Göttin Mutter. Der Sohn der Urania ist Kronos, nicht
mehr der Allgott, sondern der eine ausschließliche, der es sein und
bleiben möchte, daher durch eine höhere Macht zu überwinden ist, wie
er den Uranos überwunden hat; der Sohn der Kybele ist Zeus, der
Sohn der Demeter ist Dionysos. Dieser ist nicht der ausschließliche
und mißgünstige, sondern der günstige Gott, der des getheilten Seins,
der sreien Mannichsaltigkeit der Dinge, der Gott der Entsaltung, des
Wachsthums, der Lebenssülle, der holde, wohlthätige. wahrhaft be
sreiende Gott, der ?«?ijp.
l. Dionysos.
Dionysos ist recht eigentlich der Typus des besreienden, heil
bringenden, menschensreundlichen Gottes, der als solcher erst im Be-
Zagreus ist er der Gatte der Persephone. der Tochter der Demeter;
als Bakchos ist er der Genosse und Mitgott (nckpeLpo?) der Demeter; als
Iakchos ist er ihr Sohn. Das erste und dritte Verhältniß ist eleusinisch
und mystisch, das mittlere dagegen sällt ganz in die öffentliche Religion
und deren Cultus. Ieder der drei Gestalten des Dionysos steht eine
weibliche gegenüber, die zu ihm gehört und mit ihm ein Götterpaar
bildet: zu dem Zagreus (Hades) gehört die Persephone als Gattin,
zum Bakchos die Demeter als Genossin (n«psSpo?). zum Jakchos die
Kore als Gattin und Schwester. Iakchos und Kore sind die Kinder
der Demeter, wie in der römischen Mythologie Liber und Libera die
der Ceres. Die drei dionysischen Göttergestalten, diese dionysische Trias,
bilden im Grunde ein einziges Wesen, dessen Stusen oder Potenzen
sie ausmachen: sie sind die Geschichte eines und desselben Gottes: diese
Gottesgeschichte steht im Mittelpunkte der eleusinischen Mysterien. ^
Der Fortschritt von dem alten Gott zu dem neuen, diese Götter
solge und Göttergeschichte, worin das Wesen des successiven Polytheis
mus sich darstellt und auslebt, kann nicht stattsinden, ohne das mytho
logische Bewußtsein zu erschüttern, da der Vorgang im Innersten desselben
geschieht. Der successive Polytheismus oder die Mythologie ist die
Geschichte des religiösen Bewußtseins, das mythologische Bewußtsein ist
der Götterglaube; die Epochen und Krisen der Göttergeschichte, ob-
jectiv genommen, sind, subjectiv gesaßt, die Epochen und Krisen des
Götterglaubens. Dieser, im Uebergange und Fortschritt von dem einen
Gotte zum anderen begriffen , muß Zustände erleben , in denen er . an
dem alten Gotte irre geworden, von dem neuen ersüllt, in eine Art
religiösen Taumel und Gottestrunkenheit geräth, die sich orgiastisch
äußert und darstellt, wie im Cultus der Kybele in den Korybanten.
in dem (der Geburt) des Zeus in den Kureten. in dem des zweiten
Dionysos in den bacchischen Auszügen, insbesondere in den Bacchan
tinnen und Mänaden.2
' Ebendas. Vorlesg. XXI S. 482 ff. - » Iene ausschweisenden geheimen
Orgien, die man unter dem Namen „Bacchanalien" versteht, und welche der
römische Senat im Iahre 186 v. Chr. zu versolgen und auszurotten beschloß,
haben nichts mit den Bacchussesten oder der Feier des zweiten Dionysos zu thun.
Schelling vermuthet deren Ursprung in den sogenannten .Sabazien", welche die
Erscheinung des ersten Dionysos (Sabazios) seierten, mit dem öultus der Ky»
bele zusammenhingen und mit dem dazu gehörigen Phallusdienst (Phallagogien)
vielleicht aus Aegypten nach Griechenland kamen. Vorlesg. XIX. S. 422 -426.
Ueber den Cultus der Kybele und die Korybanten vgl. oben Cap. Xl^,IV, S. 7SS.
Die zriechischen Mysterien. 783
sich von jeder dieser drei Gottheiten ohne Widerstreit sagen, daß ohne
sie die Mythologie nicht sein könne.
2. Demeter.
Der Fortgang geschieht von den alten Göttern zu den neuen, von
den herrischen und despotischen zu den besreienden und erlösenden, vom
Kronos zum Zeus und Dionysos. Aus diesen Uebergang gestellt und
in demselben begriffen, ist das religiöse Bewußtsein zwischen beiden
getheilt, es ist dem alten realen Gott noch anhänglich, den neuen idealen
vorbereitend und erwartend. Dieses zwischen Vergangenheit und Zu
kunst getheilte, jener noch anhängliche, dieser sich zuwendende, von der
ersten zur anderen sortschreitende religiöse Bewußtsein ist mytho
logisch dargestellt in der Demeter. Es ist etwas in ihr, das noch
dem alten Gotte angehört und ihm versällt, dem Gotte, der nunmehr
in das Dunkel der Vergangenheit zurücktritt und zum Gotte der Unter
welt oder zum Hades wird. Dieser Theil der Demeter, den sie von sich
absondern und dem Hades preisgeben muß, erscheint mythologisch als
ihre Tochter Persephone. Der Verlust ist kein sreiwilliger, sondern
Demeter muß sich die Tochter von dem Gotte der Unterwelt entreißen
lassen: dieser Vorgang erscheint mythologisch als der Raub der Per
sephone und deren Vermählung mit dem Hades. Das religiöse Be
wußtsein, des alten Gottes verlustig, von dem neuen noch unersüllt,
wird nun von Sehnsucht nach der Vergangenheit, von Trauer und
Zorn über die Gegenwart bewegt: das ist die trauernde, suchende,
erzürnte Demeter, die zu tröstende und zu versöhnende, endlich durch
die Geburt des Dionysos -Iakchos wirklich versöhntes
3. Die Urthat und die Urtluschung. Nemesi« und Apate.
Die Mythologie ist nichts anderes als die Wiederholung des
Naturprocesses im menschlichen Bewußtsein. Schelling kann diesen
seinen Fundamentalsatz nicht ost genug einschärsen. Das menschliche
Bewußtsein ist aber selbst aus dem sortschreitenden Naturprocesse her
vorgegangen, dieser hat in jenem sein Ziel und seine Vollendung er
reicht; der Mensch als selbstbewußtes, geistiges Wesen sindet sich aus
> «d. 2. Vorlesg. XXVII. S. 627-632. Bd. 3. Varlesg.XIX. 2.411-41',
S. 422. XXI. S. 483 ff.
Die griechischen Mysterien. 785
eine Höhe gestellt, wo es bei ihm steht, ob er sich über die Natur
wirklich erheben, höher hinaus sortschreiten, in Wahrheit urbildlich
und Gott ebenbildlich sein und werden, oder ob er aus eigener
Sucht und Verblendung in den dunklen Naturproceß zurücksinken
und damit dem unvermeidlichen Schicksal anheimsallen will, nun
mehr den Naturproceß in seinem Bewußtsein noch einmal zu erleben
und zu wiederholen. Wenn er das erste thut, so ist die Mytho
logie unmöglich. Wenn er das zweite thut, so ist sie nothwendig
und entwickelt sich unwiderruslich von Ansang bis Ende. Hier heißt
es nach Schellings Potenzenlehre buchstäblich: Wer ^. sagt, muß
2 sagen.
Der Mensch nach der ihm gewordenen Macht kann beides. Was
von beidem geschieht, hängt nicht von dem ab, was er kann, sondern
von dem. was er will: ob er sich über die Natur ins Uebercreatür-
liche erhebt, oder ob er sich in die Creatur vergasst und dann (wie
er nun nicht mehr anders kann) die Naturmächte vergöttert. Es
ist demnach eine Urthat der menschlichen Freiheit, die den Ur
sprung und Ansang aller Mythologie zur Folge hat. über Sein oder
Nichtsein der letzteren entscheidet, also auch über den Weg, welchen
die Religion und Geschichte der Menschheit nimmt. Daher ist diese
That „übergeschichtlich", aller Erinnerung, allem willkürlichen
Denken entrückt, also „unvordenklich", nur aus ihren Folgen
und Früchten erkennbar, aus den letzten und reissten Früchten
der Mythologie, also aus der griechischen Mythologie und ihren
Mysterien.
Hier müssen wir unsere Leser an Schellings srühere Schristen er
innern, in welchen die gegenwärtigen Lehren bereits angelegt sind und
wurzeln, namentlich an seine Abhandlung über „Philosophie und Re
ligion" und seine „Untersuchungen über das Wesen der menschlichen
Freiheit". Wir haben in diesem Werke die Entstehung und den In
halt jener Schristen aussührlich dargelegt. Man vergegenwärtige sich
insbesondere aus der Freiheitslehre solgende Stelle: Aus den höchsten
Punkt der Natur gestellt, lockt den Menschen der tiese Grund, aus
dem er emporgestiegen, zurück in den Abgrund, „wie den, welchen aus
einem hohen und jähen Gipsel Schwindel ersaßt, gleichsam eine ge
heime Stimme zu rusen scheint, daß er herabstürze, oder wie nach der
alten Fabel unwiderstehlicher Sirenengesang aus der Tiese erschallt,
um den Hindurchschissenden in den Strudel hinabzuziehen". Wenn er
«. Filcher. «erch, d. Philo!. VN 50
786 Die griechischen Mysterien.
geschehen sollen: eben darin liegt die Urtäuschung oder der Grund-
irrthum, der sich durch die ganze Mythologie hindurchzieht.
Alle Gestalten der Mythologie sind vom menschlichen Bewußtsein
«lebt und geglaubt, sie sind in dieser Rücksicht voller Leben und Wirk
lichkeit! aber sie gehören zugleich ins Reich der Maja und sind von
Ansang an dem Untergange geweiht.
4. Die P«sephone.
Der subjective Ansang der ganzen Mythologie, der als solcher erst
dem Bewußtsein der griechischen ausging und hier selbst zur mytho
logischen Vorstellung gelangte, ist der Mythus und die Lehre von der
Persephone, welche erleuchtet zu haben das Hauptverdienst Creuzers
sei.l Der Kern des Mythus sei die Versuchung und der Fall der
Persephone (dem Sündensall im Paradiese vergleichbar). Zeus in
Schlangengestalt habe die im sesten Gewahrsam verschlossene Iungsrau
beschlichen und ihr die Unschuld geraubt, sie habe den Dionysos Zagreus
geboren, den ersten, rohen und wilden, unholden und unmenschlichen
Dionysos («^5175?), der, von seinen Widersachern zerrissen, in das
Dunkel der Vergangenheit, wohin er gehört, zurücktritt (^6'>u?<z? ^^»
vw?) und als Hades das Todtenreich beherrscht. (Ob erst die Orphiker
in diesen Dionysos-Mythus die Zerreißung durch die Titanen oder
nur die Titanen in den Zerreißungsmythus hineingetragen haben, ob
nach Pausanias gar erst Onomakritos diese Zerreißungsgeschichte
homerisirt und mythologisirt habe, bleibe dahingestellt.) Als Hades
raubt er die Persephone und macht sie zu seiner Gattin.
Dieses sind die Grundzüge des Persephone-Mythus, den Schelling
jo verstanden wissen will, daß sich darin jener Rücksall des mensch
lichen Geistes unter die blinde und dunkle Naturgewalt abspiegele,
woraus das mythologische Bewußtsein (die heidnische Religion) hervor
gegangen sei. Die Neuplatoniker haben die Niedersahrt der Persephone
in den Hades so erkärt, daß dieselbe den Fall oder das Herabsinken
der menschlichen Seele aus ihrem präeristenten, vormateriellen Zustande
in den irdischen Leib und die Sinnenwelt bedeute. Ich sollte meinen,
daß beide Erklärungen dieselbe Grundanschauung enthalten und also im
Grunde einander gleich sind, während Schelling die seinige nach
drücklich von der neuplatonischen unterscheidet, da jene sich aus ein
> Ebendas. VIII, S. 16l. Vgl. Bd. 3. Vorlesl,. XXI. S. 465—474. S.479
bis 481.
788 Die griechischen Mysterien.
III.1. Die
Die beiden
Mysterienlehre.
Grundprobleme.
sich den Eingeweihten das Endziel der Lebenskämpse; das Vorbild aber
der errungenen Lauterkeit und Seligkeit schauten sie in der Geschichte
des triumphirenden, durch Leiden und Tod hindurchgehenden Gottes.
Aus die Frage nach der allgemeinen Lehre der Mysterien lautet die
positive Antwort: „Nichts anderes als die Geschichte des religiösen
Bewußtseins oder, objectiv ausgedrückt, die Geschichte des Gottes selbst,
der aus ursprünglicher Ungeistigkeit zur vollkommenen Vergeistigung
sich überwunden und verklärt hat". „Diese Lehre (von dem geistigen
Gott) war in den Mysterien nicht als Lehre, sondern als Geschichte
und konnte als solche auch nur durch wirkliche Vorgänge dargestellt
werden. Ein unzweiselhaster Inhalt der Mysterien war also gewisz
diese Darstellung der Leiden des Gottes in seinem Durchgang durch
das blinde Sein." Von dieser Geschichte des Gottes leitete sich dann
erst auch alles Andere her, was in den Mysterien gelehrt wurde. In
dieser war zugleich die Sitten-, war zugleich die Unsterblichkeitslehre
mitgegeben. Alles, was das menschliche Leben Schmerzliches und schwer
Ueberwindliches hat, hatte auch der Gott bestanden; daher sagte man:
„kein Eingeweihter ist betrübt".'
Die Geschichte des Gottes ist zugleich die größte und bedeutungs
vollste aller Tragödien, denn in ihr offenbart sich das Schicksal der
Welt, in dessen Anschauung die Gesühle der Einzelschicksale, das Mit
leid mit dem eigenen Weh, die Furcht sür das eigene Wohl und vor
dem eigenen Schicksal verstummen. Eben in dieser Erhebung besteht
jene Läuterung der Assecte des Mitleidens und der Furcht lx«S«p?'.?),
welche nach Aristoteles die Tragödie bezweckt. Vielleicht, daß ihm in
seiner Erklärung der Tragödie die Wirkung der Mysterien vorschwebte.
„Denn wer konnte noch über die gemeinen Unsälle des Lebens klagen,
der das große Schicksal des Ganzen und den unausweichlichen Weg
stoteles
gesehen, von
den der
der Tragödie
Gott selbstsagt,
wandelte
daß siezurdurch
Herrlichkeit,
Mitleid und
undFurcht,
wag Ari»
die
sie nämlich in einem großen und erhabenen Sinne erregt, von eben
diesen Leidenschasten (wie sie nämlich die Menschen in Bezug aus sich
selbst und ihre persönlichen Schicksale empsinden) reinige und besreie,
eben dieses konnte in noch höherem Maße von den Mysterien gesagt
werden, wo dargestellte Götterleiden über alles Mitleid und über alle
Furcht vor Menschlichem erheben." ^
' Ebendas. Bd. 3. Vorlesg.XX. S.449. XXII. S. 494-495. S.S02-503.
- ' Ebendas, S. 503,
Nie griechischen Mysterien. 791
> Vd. 3. XX. S. 450-451. XXI. S. 460-464 (bes. S. 462). S. 482 ff.
XXII. S. 491 ff. Vgl. oben Buch II. Cop. XI,I. S. 700—704. - ' S, W. II.
»d. 3. XXIII. S. 515-517.
792 Die griechischen Mysterien.
galt der Persephone, die der großen dem Dionysos-Iakchos. den Ueber-
gang bildete die Feier der Demeter. Die kleine Feier war die
Vorweihe zu den großen. Mit der Feier des Gottes der Zukunst
verbanden sich mystische Zukunstshoffnungen, ähnlich den chiliastischen
in der christlichen Welt, Hoffnungen eines neuen, glücklichen, goldnen
Zeitalters am Ende der Tage, einer neuen Religion, welche die Mensch
heit erlösen werdet
Die Theogonie ist eine verschleierte Kosmogonie. Diesen in den
Mysterien schon durchsichtigen Schleier haben die Orphiker gelüftet,
deren Name nicht aus eine Person zurückzusühren sei, sondern eine Rich
tung bezeichne, nämlich die antihomerische, der exoterischen Mythologie
widerstrebende, den Mysterien daher verwandte und besreundete Rich-
' XXII. S. 491 ff. XXIII. S. 517, 528. - ' Ebendas. XXIII. S. 511 bis
S14, 517-522. - ' Ebendas. S, 52S-527.
Die griechischen Mysterien. 793
lung. Nicht eine Person, sondern eine Idee sieht Schelling sowohl in
Homeros, als in Orpheus. In Homeros sei der Orientalismus völlig
äberwunden, in ihm vollende sich das Heidenthum, er sei der Messias
(die Enderscheinung) desselben. Ihm stelle sich die dunkle Gestalt des
Orpheus (öpfv«lo?) an die Seite und repräsentire das orientalische
Princip. l
Darin, daß die Mysterien die Zukunstsreligion zwar nicht lehrten,
aber in bildlichen Darstellungen zeigten und aus dieselbe hinwiesen, lag
ihr geheimnißvoller Charakter, dessen Prosanation sür das höchste
Staatsverbrechen galt. Das Esoterische ist als solches noch nicht mysteriös,
das Tiese und Verborgene darum noch nicht absolut geheimnißvoll und
nie zu enthüllen. Die Ideen von den Urpotenzen, den vü potes oder
vü äeorum, von der dionysischen Trias, von der Einheit des Bakchos
oder Iakchos u. s. w. waren mystisch, aber nicht mysteriös, am wenig
sten in dem Sinne, daß ihre Verössentlichung ein Capitalverbrechen
gewesen wäre. Zwischen der össentlichen Religion und den Mysterien
durste wohl ein Widerstreit, aber keine Unverträglichkeit stattsinden,
weil in diesem Fall entweder die Stantsreligion und der Staat ge
sährdet oder die Mysterien unmöglich waren. Nun konnte die Zukunsts
religion, in unbestimmter Ferne gesehen, bildlich dargestellt, mystisch
und stumm, wie sie gehalten war, sich mit der össentlichen Religion
und der gegenwärtigen Götterwelt wohl vertragen, so lange sie keine
Neigung verrieth, diese anzutasten und selbst in die Oessentlichkeit
hinauszutreten. Hier lag die unüberschreitbare Grenze.
Die Hellenen wußten, daß ihre Götter nicht ewig seien, da es ja
solche gab. die vergangen waren. Es verhielt sich mit den Göttern,
wie mit den Königen. Aeschylus durste seinen Prometheus ungescheut
verkünden lassen, daß auch die Zeusherrschast ein Ende nehmen werde,
habe er doch schon gesehen, daß zwei Beherrscher aus der Götterburg
vertrieben worden. ^ Es verhält sich mit den Göttern, wie mit den
Menschen. Man dars den Menschen verkünden, daß sie sterben müssen,
aber der Mord ist ein Frevel.
Mit den Mysterien endet die Mythologie, darum endet mit der
Erklärung der Mysterien auch die Philosophie der Mythologie.'
Es giebt noch der bekannten Götter genug, welche in dieser Philosophie
der Mythologie leine Stelle gesunden haben, weil sie leiner bestimmten Stuse
des mythologischen Bewußtseins angehören, sei es, daß sie in ihrer Wurzel
noch vormythologisch sind, wie z. B. der Feuergott Hephaistos (der später
ein demiurgischer Gott wird, der kunstreiche Sötterschmied), oder daß sie nur
zum Verkehr zwischen den oberen und unteren Göttern dienen, wie der Sötter»
bote Hermes, oder endlich, daß sie über das mythologische Bewußtsein hinauf
gehen, wie Pallas Athene und Apollon. Athene repräsentire das besonnene,
sich wissende Bewußtsein, sie sei aus dem Haupte des Zeus, d. h. aus dem Geist,
aus der dritten Potenz geboren und heiße deshalb die „Drittgeborene' <?p^o'
,sive.a). Apollon aber als Pythontödter, als der delphische Sott der Weissagung,
als der Musengott de« Parnaß sei im Wesentlichen dionysisch oder dem Dionyscs
verwandt, und da er sowohl der verheerende, Verderben und Pest bringende Gott,
als auch der heilbringende und beseligende sei, so gehe er durch alle Stusen des
mythologischen Bewußtseins hindurch und sei ,am Ende der griechischen Mythe»
logie ihr höchster Begriff".* Als dieser solle er in der Mysterienlehre erörtert
werden. Dies aber hat Schelling nicht gethan, weder in der Mysterienlehre, wo»
mit die Philosophie der Mythologie schließt, noch in der, welche er zur Wieder»
holung nnd näheren Aussührung in die Philosophie der Offenbarung eingeschaltet
hat. Die apollinische Religion ist die wahrhast hillenische. Apollinisch und dio»
nystsch sind nicht gleichwerthige, sondern entgegengesetzte Begriffe und Welt»
zustände, wie in dem Kreislaus des Elementarlebens bei Herakleitos der Weg
nach oben und unten (c>Ziz Sveu xäru,), die lichte und dunkle, die seurige und
seuchte Natur.
* S. W, II, Bd. S, Vorlesg, XXIX. S. «S-«'.
Sechsundvierzigstes Capitel.
Die Philosophie der Offenbarung.
' Vgl. oben 1) über die negative und positive Philosophie: Cap. X1.Il, S. 705
bis 707, Cap. XI.III, S. 722-726; 2) über die Potenzenlehre: C°p. XXXIX,
S. 689 ff. Cap. XI.. S. 691-S9S, S. 698- 700; 3) über die Philosophie der
Mythologie: Cap. Xllll-XI.V (incl.), 4) über Standpunkt und Betrachtung,-
art der Philosophie des Christenthums: Cap. XQll. S. 707-716, S. 714-715.
796 Die Philosophie der Offenbarung.
' S. W. II. Bd. I. Vorlesg. XVI. S. 371. - ' Bd. 4. Vorlesg. XXIV.
S. 9-II, S. 23-24, S. 26-28.
Die Philosoph« der Offenborung. 79?
sache
Offenbarung.
ist die Philosophie
Das Begreiflichmachen
der Offenbarung.
und die Ergründung
Nun besteht dieser
die Offen-
Tat
> Ebendas. S.6, S. 28. Vorlesg. XXV. S. 35. - ' Bd. 1. Vorles». X.
S. 248. - Bd. 4. Vorlesg. XXVII. S. 77-78. - » Vorlesg. XX VII. S. 74-77,
S. 88.
798 Die Philosophie der Offenbarung.
Die Weltgeschichte ist die Zeit dieser Welt, der die Zeit vor
Ansang und Schöpsung der Welt vorausgeht, und die Zeit nach dem
Ende und Untergange der Welt nachsolgt. Man muß wohl unter
scheiden zwischen Zeit und Zeit. Es giebt eine zeitliche Zeit und es
giebt ewige Zeiten. Die zeitliche Zeit ist die sich immer wiederkäuende,
das ziellose Entstehen und Vergehen, das drehende Rad, das nicht
vorwärts kommt, die Zeit, worin nichts erreicht, nichts zu Stande ge
bracht wird, von der das Sprüchwort mit Recht sagt: „es geschieht
nichts neues unter der Sonne". Diese zeitliche Zeit ist ohne wahre
Succession; dagegen die ewige Zeit besteht in der wahren Succession,
sie unterscheidet sich in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft: eine
Folge von Zeiten, deren jede ihr Ziel und ewigen Inhalt hat. Diese
ersüllten Zeiten nennt Schelling die Weltalter oder Weltzeiten, die
aeonischen Zeiten oder Aeonen (Ewigkeiten). Auch die Weltgeschichte ist
ein Aeon, sie ist die gegenwärtige Weltzeit, deren ewiger Inhalt,
deren Ansang und Ende, deren Ursache und Ziel Christus ist.'
4. Die Weltentwicklung und deren Ziel. Wissenschast und Glaube,
Wie mit der blos zeitlichen, endlosen, im Grunde leeren Zeit, so
verhält es sich auch mit dem endlosen Fortschritte. Die Menschheit
und ihre Geschichte muß ein Ziel haben, ein endgültiges und letztes. Aus
diesen Punkt legt Schelling das nachdrücklichste Gewicht. Dieses Ziel
kann kein anderes sein, als die volle Gegenwart Christi im mensch
lichen Bewußtsein : diese Herrschast Christi ist erreicht, wenn, bildlich zu
reden, alle seine Widersacher unter seine Füße gelegt sind. Erst dann
herrscht der Christusglaube in voller uneingeschränkter Geltung.*
Von diesem Ziele ist die Menschheit noch sehr weit entsernt. Noch
ist das Heidenthum in der großen Mehrheit. Tie Zahl der Mono
theisten (Christen, Iuden und Muhamedaner) verhalte sich zu der Zahl
der Polytheisten, wie 344 zu 656. Die Bekehrung schreitet lang
sam vorwärts, nicht blos wegen der äußeren Hemmungen, sondern aus
Mangel an innerem Berus. Die Missionäre vermögen nicht, sich in
die Seele der Heiden zu versetzen und diese von ihren eigenen Vor»
stellungen aus zum Christenthume zu sühren; sie seien nicht im Stande
mythologisch zu denken und crmangeln darum des Verständnisses der
mythologischen Vorstellungsart. °
' S. oben Cap. XI.. S. 691 ff. - 'S. W. II. Bd. 4. Vorlesg. XXIV.
S. 12-17. - ' Ebendas. S. 21-22.
Die Philosophie der Offenbarung. 799
wahrt habe; sie stehen nicht mehr bei Matthäus, „nach welchem niemand
gewagt haben würde, sie in die Erzählung hineinzutragen". ^
2. Die Christogonie.
Mit dem schärssten Nachdruck betont Schelling die Thatsache einer
solchen mittleren Stellung, eines solchen Zwischenzustandes Christi
zwischen Gott und der Menschheit, da ohne dieselbe sein ganzes Werk
der Vermittlung oder Versöhnung zwischen beiden unmöglich gewesen.
Ohne die Anerkennung und Ergründung dieser Grundthatsache bliebe
das ganze Neue Testament unverständlich, nicht blos in einzelnen
Aeußerungen, sondern nach seinem sactischen Inhalt.'
Demnach müssen in der Person Christi solgende Momente unter
schieden werden: 1) seine göttliche Präexistenz in der Einheit mit Gott,
2) seine göttliche Präexistenz im Unterschiede und in der Trennung
von Gott, d. h. seine außergöttliche Persönlichkeit, 3) seine Mensch
werdung und Gegenwart in der sichtbaren Welt bis zu seiner Rückkehr
zu Gott. Da diese Momente nur nach einander sein können, also eine
Succession oder Zeitsolge ersüllen, so handelt es sich um die Geschichte
Christi, die ewige wie zeitliche, und deren Ergründung. Man könnte
diese Geschichte, die ihren Ansang und ihre Vollendung, ihren Urgrund
und ihr Endziel hat, Christogonie nennen, obwohl Schelling selbst
diesen Ausdruck nicht gebraucht hat. Die Ergründung derselben ist die
Christologie, innerhalb deren die Ersorschung und Darstellung der
zeitlichen Geschichte Christi denjenigen Bestandtheil bildet, welchen man
das Leben Iesu nennt.
Zu der Geschichte Christi in dem eben bezeichneten Sinn und Umsang
gehört eine Reihe von Thatsachen, die sich der historischen Forschung
nicht blos entziehen, sondern den Bedingungen derselben widerstreiten,
nämlich alle Thatsachen, die jenseits des irdischen Daseins Christi vor
sich gehen, insbesondere die, welche seine Präexistenz betressen. Alle
Thatsachen dieser Art sind historisch begreislich, wenn ihre Successsion
nicht der Person Christi, sondern dem Glauben an diese Person zuge
schrieben wird, wenn sie nicht sür successive Begebenheiten in der Ge
schichte Christi, sondern sür successive Vorstellungen oder Aussassungs»
weisen in der Urgeschichte und den Urkunden des christlichen Glaubens
> Vorlesg. XXV. S, 47-48. (Die Worte eoüli ° ui„?» übersetzt Schtllinz:
„noch selbst der Sohn', d. i. eine Steigerung, die in den Worten nicht liegt.) —
' Ebendas. S. 48.
Die Philosophie ber Offenbarung. 803
zulegen: daß jene Differenz verschwindet und sowohl die vorweltliche als
auch die innerweltliche Geschichte Christi bis zu seiner Menschwerdung
sich vor unseren Augen enthüllt.>
Na nun dem göttlichen Logos eine außergöttliche Existenz nicht
zukommt, so kann das Evangelium auch nicht von einem solchen Logos
handeln. Weder also ist der johanneische Logos das göttliche Schövsungs-
wort, es sei nun alttestamentlicher oder gar persischer Herkunft, noch
ist er die Personisication der göttlichen Weisheit, auch nicht, wie es
gegenwärtig die herrschende Modeansicht sei, der Logos der alexandrinischen
oder philonischen Philosophie, sondern es sei nichts anderes gemeint,
als das Thema, von dem der Evangelist handeln will, das Subject
(Sujet) seiner Rede, das zunächst ganz unbestimmt gelassen, aber in
jedem Zuge des Prologs sortschreitend näher bestimmt wird, bis es
leibhastig vor unseren Augen steht.
Das Erste, das ihm zukommt, ist das ewige Sein. Es gab
keinen Zeitpunkt, in dem der Logos nicht war: daher ist er kein Ge»
schöps (wie Arius wollte); er ist bei Gott und selbst göttlich, unter
schieden von Gott und in ihm (1, 1^2). Er ist in der Weltschöpsung
thätig als das offenbarende, ordnende, gestaltende Princip. Schellingisch
zu reden: er ist die zweite oder demiurgische Potenz. Iohanneisch zu
reden: „Alle Dinge sind durch ihn (den Logos) hervorgebracht, und
ohne ihn ist nichts entstanden von allem, was ist" (V. 3). So weit
erstreckt sich sein vorweltliches und göttliches Dasein. Aber in ihm
selbst ist Leben, wodurch er ein Wesen sür sich ist, eiu selbständiges
und außergöttliches zum Heile der Menschheit. Iohanneisch: „In
ihm ist das Leben, und das Leben ist das Licht der Menschen" (I, 4).
liche
Diese Dasein
Worte des
erklären
Logos.nach Schelling das vorweltliche und außergött-
das Iudenthum verstößt ihn. „Er kam zu den Seinen, und die Seinen
nahmen ihn nicht aus." Er kam, um die Menschheit mit Gott zu
versöhnen. „Die ihn aber ausnahmen, denen gab er die Macht, Gottes
Kinder zu werden." Dieser zweite Theil des Prologs (V. ö-13) er
klärt das innerweltliche Dasein des Logos vor seiner Mensch
werdung, seine Wirksamkeit in der vorchristlichen Welt, sowohl im
Heidenthum als auch im Iudenthum. Die Zeit ersüllt sich. »Und
das Wort ward Fleisch und wohnete unter uns, und wir sahen seine
Herrlichkeit, wie die des eingeborenen Sohnes vom Vater, voller Gnade
und Wahrheit" (V. 14).
4. Die Trinität.
Christus ist Weltherrscher und Welterlöser, er ist beides in einem,
er ist das erste um des zweiten willen. Als der von Gott gesandte
Weltherrscher heißt er Christus (Messias). Es gab keine Zeit, wo er
nicht war, wohl aber gab es eine Zeit, wo er noch nicht Christus
war : er war es noch nicht in seiner göttlichen Präexistenz. Um es zu
werden, um die abgesallene Menschheit, die gottentsremdete Welt, das
außergöttliche Sein zu Gott zurückzusühren, begiebt er sich selbst aus
der Einheit mit Gott in die Trennung von ihm, aus seiner göttlichen
in seine anßergöttliche Präexistenz. Diese ist der Urwille zur Welt
erlösung, der Uransang seiner Wirksamkeit als Christus. Nun solgt
seine innerweltliche Existenz, in welcher er schon als Christus wirkt,
aber noch nicht als solcher erscheint, in welcher er sich offenbart,
aber noch nicht als Christus, sondern das Licht ist. das in der Finster-
niß scheint, in der Finsterniß der vorchristlichen Welt, sowohl der heid
nischen als auch der jüdischen. Nun solgt seine Menschwerdung, seine
Erscheinung als Christus, seine gewollte Erniedrigung, seine Selbst
ausopserung, die Rückkehr zu Gott, seine Erhöhung, d. h. sein Sitzen
zur Rechten Gottes, von wo er wiederkommen wird zur Vollendung
seines Reichs. Nach seiner Erhöhung aber und an seiner Statt herrscht
in der Welt der Geist, den er gesendet hat, der von Gott und ihm
ausgeht und in alle Wahrheit leiten soll: das ist nicht ein Geist dieser
Welt, nicht der kosmische, sondern der heilige Geist, der die Herr
schast Christi in der Welt und seine volle, siegreiche Gegenwart im
menschlichen Bewußtsein zu Ende sührt. So sind Gott, Christus und
der heilige Geist oder Vater, Sohn und Geist die drei Personen, deren
jede Gott ist, und die in ihrer Gemeinschast erst die volle und wahre
Einheit Gottes ausmachen. Diese Dreieinheit ist die christliche
Die Philosophie der Offenbarung. 8Ü?
' Ebendas. XXX. S. 163-170. XXXI. S. 184 ff., S. 192 ff. - ' XXX.
S. 170 ff. XXXI. S. 179-183, S. 187-190.
Die Philosophie der Offenbarung. 817
der menschlichen Natur) und den göttlichen Unwillen beides von Grund
aus getilgt. Er kommt zu den verlorenen Kindern vom Hause Israel
und zuletzt sendet er seine Iünger in alle Welt und zu allen Völkern (n«vr«
sS,vTj); er hat die Welt zu Gott zurückgesührt und das außergöttliche Sein
aus dieses Ziel gerichtet, aus das Endziel, wo Gott alles in allem sein
wird snS'«« ev Alle, die ihm solgen, sind und leben in Gott, sie sind
in des Vaters Hause, wie das Evangelium sagt (Ioh. I, 12): „Die ihn
aber ausnahmen, denen gab er die Macht, Gottes Kinder zu heißen".'
Diese Nachsolge wird sreilich immer wieder gehemmt und retardirt
durch jenes Princip, welches die Menschheit in ihrer Gottentsremdung
beherrscht hat, nämlich durch jenen dunklen Naturgrund, der in Folge
der menschlichen Urschuld wieder erregt und zu einem der göttlichen
Ordnung und Offenbarung conträren Princip erhoben worden, dessen
Macht zwar innerlich gebrochen ist, dessen Dasein aber verschont ge
blieben. So entspricht es der Natur Gottes als des Alleinigen und
seiner Gerechtigkeit. „Es ist, kann man sagen, Gottes höchstes Gesetz,
jenes Contrarium zu schonen, denn es ist seinem Grund nach das, an
welchem er sich (wenn es endlich besiegt ist) das krästigst Assirmirende
seiner Gottheit und Herrlichkeit erzieht. Wer dieses Gesetz kennt, hat
den Schlüssel zu dem Räthselhasten in der Ordnung der Welt; jenes
Contrarium ist überall das Retardirende der göttlichen Weltordnung." ^
Nachdem aber die Macht dieses Contrariums von Innen her völlig
gebrochen und überwunden ist, was durch Christi Selbstentäußerung
und Selbstausopserung geschehen, so ist im Lichte dieser Ossenbarung
dem menschlichen Bewußtsein nunmehr unmöglich, die Mächte der Welt
und deren Herrlichkeit wieder zu vergöttern. „In Christus starb das
ganze Heidenthum, die ganze kosmische Religion." In seiner Schrist
über die Abnahme der Orakel gedenkt Plutarch einer Sage, nach
welcher zur Zeit des Kaisers Tiberius dem ägyptischen Steuermann
eines vorübersahrenden Schiffes eine Stimme von den Felseninseln bei
Korkyra zugerusen habe: er möge verkünden, daß der große Pan ge
storben sei. Unter Tiberius wurde Christus gekreuzigt. Der große
Pan aber, dessen Tod jene geheimnißvolle Stimme verkündete, war
das Heidenthum. ^
' Bd. 2. Monotheismus. Vorlesg. V. S. 104. - ' Bd, 4. XXXII.. S. 194
bis 195. Vgl. oben Cap. XXXVIII. S. 661 ff. Cap. XXXIX. S. 684 ff. Cap.
XI.IV. S. 744. 7S0-75I. - ' S. W. II. Bd. 4. Vorlesg. XXX. S. 175, XXXIII.
S. 239-240.
820 Die Satanologie.
Siebenundvierzigstes Capitel.
Die Satanologie.
Paradiese, die nach der mosaischen Genesis die ersten Menschen ver
sührt hat, und der große Drache nach der johanneischen Offenbarung,
den Christus endgültig besiegen wird.'
Indessen, wenn Alles geprüst werden soll, um gerichtet zu wer
den: warum sollte dann der Versucher Hiobs nicht auch der des ersten
Menschenpaares, nicht auch der Christi sein, als ein zum göttlichen
Haushalt gehöriges und im Dienste desselben wirksames Wesen? So
weit sich die kosmischen Gewalten erstrecken, die Herrlichkeiten und
Herrschasten der Welt (xo?^.«xp«ropT?), so weit reicht auch die Macht
des Bösen in der Finsterniß dieses Aeons (Eph. VI. 12). Darin be
steht die Allgegenwart der geistigen Kräste des Bösen, die auch die
geistig begabten Naturen am meisten anlocken, am wenigsten die geistig
unbegabten, die geistlosen, „die darum gute, gutmüthige genannt
werden, weil sie, selbst ohne Geist, darum auch keine Anziehungskrast
sür jenen Geist besitzen." ^
Der Satan ist die große Macht des Bösen in der Welt, darum
hat man ihn zu scheuen und vor ihm zu zittern; niemand möge wagen,
ihn zu lästern ! Selbst der Erzengel Michael in jenem Streit mit dem
Satan sagt zu diesem nur: „Der Herr strase dich!"°
Nun entsteht die Frage: ist diese Macht des Bösen selbst böse?
Ist der Satan ein geschaffenes oder ein ungeschaffenes Wesen, ein Ge-
schöps oder ein Princip, ein ewiges oder ein gewordenes, ein unver
gängliches oder ein vergängliches Princip? Diese Fragen der positiven
Ossenbarung gemäß zu beantworten und damit die der Christologie
entsprechende Satanologie sestzustellen, ist nun die Ausgabe des positiven
Theils der letzteren.
II. Der positive Theil.
1. Der Satan als Princip des Nichtseins. Belial.
Der Satan ist kein bloßes Geschöps. Als solches würde er ein
ursprünglich guter, aus Hochmut!) gesallener, aus Neid zum Auswiegler
der Menschheit wider Gott gewordener Engel sein: er wäre dann
Luciser. In der Bibel aber steht nirgends geschrieben, daß der Teusel
erschassen ist. Auch ist es unmöglich, daß die Versuchung Christi von
einem Geschöps ausgegangen sei ; und ebenso ist es unmöglich, daß ein
Geschöps die große Macht und Allgegenwart der geistigen Kräste
des Bösen in der Welt ausübe. ^
Demnach ist der Satan ein Princip, zwar kein ewiges, uner-
schassenes, unvergängliches, denn es kommt die Zeit, wo er gänzlich
besiegt und vernichtet sein wird, wohl aber ein gewordenes Princip,
das der Schöpsung und ihren Werken widerstrebt, also dieselben voraus
setzt. Was die erste Potenz alles Seins ausmacht, das bloße und
blinde Wollen, das schrankenlose Seinkönnen, diese unerschöpsliche Fülle
der Möglichkeiten, diese Scheinallmacht, die alle wirkliche Existenz aus
schließt und verneint, darum den Charakter des Nichtseins hat: diese
unterste Potenz, die im Grunde der Dinge gebunden und ausgehoben
sein sollte, erscheint im Satan als Princip, als die durch den Fall der
Menschheit wiedererregte und wiedererhobene Macht. „Bis aus die
letzte Kategorie versolgt, gehört der Satan durchaus zu der des nicht
Seienden, was auch in einem ihm beigelegten Namen ausgedrückt
ist, in dem Namen Belial." Dieses hebräische Wort bezeichnet die
Verneinung des Zeitwortes, das nach dem Arabischen die Bedeutung
von prominere, propre (hervorragen, hervorstehen) hat. „Belijaal ist
also ici, Huoä rion prust»t, Hon exstüt, das, was seiner Natur nach
ganz in die Tiese, das nicht Seiende, zurückgeht."'
Da nun das schrankenlose Wollen allem gebundenen, geschassenen,
concreten Sein entgegengesetzt ist und widerstrebt, so erscheint der Satan
> S.W. II. Vd. 4. XXXIII. S. 254-255. XXXlV. V. 24l, 256 ss.
' XXXIV. S. 258-259.
824 Die Satanologie,
bösen, von der Selbstsucht und der geheimen Falschheit dergestalt ein
genistet, daß sogar in der innigsten Freundschast man aus Klugheit
sein Vertrauen mäßige und ein herzliches Wohlwollen noch die Be
merkung zulasse: „es sei in dem Ungluck unserer besten Freunde
etwas, das uns nicht mißsalle". '
zu sein, da vielmehr Gott selbst sie leidet, ja sie wollen muß, so weit
sie zu wollen ist, nämlich nicht an sich, aber als Mittel." >
Als ein solches zur göttlichen Haushaltung gehöriges Princip er
scheint der Satan im Buche Hiob. Nach diesem biblischen Vorbilde
hat bekanntlich Goethe den Prolog seiner wiederbelebten und erneuerten
Fausttragödie gestaltet. Es ist unverkennbar, daß unserem Philosophen
in den Grundzügen seiner Satanologie, wie wir dieselben nunmehr
dargelegt haben, die Goethesche im Faust gegenwärtig war, obwohl er
sie nirgends genannt oder einen ihrer Aussprüche angesührt hat. Viel
leicht, weil ihm diese überhäusigen Citate schon zu verbraucht waren;
vielleicht, damit es nicht scheine, als ob der Goethesche Satan das
Modell des Schellingschen sei.
Dieser Satan als das Princip des schrankenlosen Wollens und
der
Seins:Allmöglichkeit ist der Feind der Schöpsung und alles concreten
Dieser Satan ist der Vater des Betrugs und der Lüge, er ist
der Sophist x«r'Du^o/^v,
bist undgleich
bleibstdem
ein Mephistopheles. zu dem Faust sagt:
Lügner, ein Sophiste.
niemand besser, als Mephistopheles selbst. Aus die Frage: „Nun gut,
wer bist du Ein
denn?"
Theillautet
von jener
seineKrast,
Antwort:
Der Herr
Die selbst
stets das
hatBöse
im will
Prologe
und stets
dendasSatan
Gute schafft.
als sein Werkzeug
Achtundvierzig st es Capitel.
Kritische Schlußbetrachtung. Hegel und Schopenhauer.
> S. °ben Buch II. Cap. VII. S. 322. - Ebendas. Buch I. Cup. XVI.
S. 227-229. Zu »gl. S. W. II. Bd. 1. S. Z84 ff. - ' S. W. II. Bd. 3. Vor»
lesg. V. S.86ff.
L30 Kritische Schlußbetrachtung,
sondern nur Kategorien- oder Prädicatenlehre, sie habe es nur mit den
„quidditativen Bestimmungen" zu thun, d. h. mit den abstracten un
wirklichen Begrissen, von denen es keinen Uebergang und keinen Fort
schritt zur Wirklichkeit gebe. Daher die Stockung des Systems zwischen
der Logik und Naturphilosophie. Die Natur erscheint als »Ab
sall von der Idee", was von seiten der Logik „durch die bewunde
rungswürdige Kategorie des Entlassens", von seiten der Religions
philosophie als eine Willensentschließung des absoluten Geistes'
bezeichnet wird, lauter Ausdrücke, welche erkennen lassen, daß aus dieser
Logik kein Weg in die Wirklichkeit sühre.'
Der Grundsehler liege in der Entlehnung und salschen An
wendung einer richtigen Methode. Die Methode stamme von Schel
ling, ihre salsche Anwendung von Hegel. Dieser habe aus Prädicate
angewendet, was nur vom Subject gilt und gelten könne, aus unwirk
liche abstracte Begriffe, was nur aus das wirkliche, empirische, in der
Anschauung und Ersahrung gegebene Subject paßt. Das lebendige
Subject schreitet sort, indem es sich entwickelt, erhöht und steigert.
Diese Anschauung, wissenschastlich gesaßt und ausgesührt, nennen wir
heute die Methode der Entwicklung. Schelling hatte das Subject vor
Augen, das sich objectivirt, aus diesen seinen Objectivirungen in sich zu
rückkehrt, über jede derselben sich erhebt, dadurch sich steigert, erhöht und
aus diesem Wege stusenmäßig sortschreitet. Er bezeichnete diese sort
schreitende Steigerung als den Charakter seiner Methode, nannte die
selbe deshalb die Methode des Potenzirens und nahm sie als
seine originelle Ersindung in Anspruch, die „bis jetzt noch immer als
der einzige eigentliche Fund der nachkantischen Philosophie anzusehen
sei". „Erst durch diese Methode sei Philosophie als eine wirkliche
Wissenschast möglich geworden, die Stoff und Inhalt nicht überall her
zusammenzusuchen hatte, sondern sich selbst erzeugte und die Gegen
stände nicht kapitelweise abhandelte, sondern in stetiger ununterbrochener
Folge, jeden solgenden als hervorgehend aus dem vorhergegangenen,
in natürlichem Zusammenhange behandelte."
Eben dieselben Vorzüge hat Hegel der eigenen Methode zuge
schrieben. Schelling aber in seinen nachgelassenen Werken erklärt an
einer Stelle die Hegelsche Philosophie sür „das Kunststück einer übel
angewandten und daher auch nicht verstandenen Methode, das in dem
' Ebendas. Bd. 1. Vorlesg. XIV. S. 33S ff., Bd. 3. Vorlesg. V. S. 88-98.
Hegel und Schopenhauer. 831
der Dinge (Potenzenlehre): das eine der beiden Systeme ist die Lehre
von dem Stusengange der „Willen sobjectivationen", deren In
begriff das Weltall ausmacht; wogegen das andere die Lehre von dem
Stusengang der Vernunstbegrisse ist, deren höchster den Begriff
der Vernunst selbst, die Idee oder den Endzweck ausmacht, die Ent
wicklung aber des Endzwecks ist die Welt und die Weltgeschichte.
Dieses System ist das srühere und das erste, welches aus der
Lehre Schellings hervorging, auch liegt der historische Zusammenhang
zwischen ihr und Hegel am Tage; jenes System, welches sein Urheber
„Die Welt als Wille und Vorstellung" genannt hat, ist das spätere,
gleichsalls in einem Grundgedanken der Lehre Schellings angelegt, aber
es ist nicht ebenso historisch einleuchtend, wie weit von dem Studium
der letzteren Schopenhauer bedingt und abhängig war.
Daß Schellings Philosophie die Elemente sowohl zu der Lehre
Hegels als zu der Schopenhauers in sich trägt, hat Ed. v. Hartmann
richtig gesehen, allein diese Elemente sind nicht, wie er gemeint hat.
in der positiven, sondern in der negativen Philosophie, nicht erst in
der späteren, sondern schon in der srüheren Lehre enthalten, weshalb
auch unmittelbar aus und nach dieser die Systeme von Hegel und
Schopenhauer hervorgetreten sind, und zwar von seiten des letzteren im
äußersten Antagonismus.
L. Die nächste Ausgabe.
Ob nU» die positive Philosophie Schellin gs diesen schon in den
Elementen seiner Identitätslehre gelegenen Widerstreit wirklich über»
wunden und versöhnt hat; ob seine zweite Lehre, wie Hartmann sich
vorstellt, als die Synthese zwischen Hegel und Schopenhauer, die aus
und nach seiner ersten Lehre gesolgt waren, gelten dars: die Entschei
dung dieser Frage hat den geschichtlichen Thatbestand und die aussühr
liche Kenntniß der beiden genannten Systeme zu ihrer Voraussetzung.
Wir werden im siebenten Bande dieses Werkes nach untrer Art die
Lehre Hegels darstellen, wie wir im achten die Lehre Schopenhauers
dargestellt haben. Dann werden wir Hegel in aller Deutlichkeit vor
uns sehen und mit der nöthigen Ausrüstung aus die Frage nach dem
Werthe der positiven Philosophie Schellings und seiner Polemik wider
Hegel zurückkommen.